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Flat Friedrich
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eBook338 Seiten4 Stunden

Flat Friedrich

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Über dieses E-Book

2072: Friedrich Segwick, Raketenbauer, dreifacher Familienvater, Anhänger des Flatballs und passionierter Träumer, will der Flaute im Ehebett entkommen. Unverhofft geht ihm dabei sein mysteriöser Arbeitskollege "Mr. Lonesome" zur Hand, der alles andere als einsam ist und weiß, wie man den Frauen am besten kommt ... Zwischen Traum und Wirklichkeit lavierend, mit einem Bein im Paradies und dem anderen im Sumpf neuzeitlicher Herausforderungen, muss sich Friedrich aufbäumen und an Gestalt gewinnen, um endlich die Erfüllung zu finden ... "Flat Friedrich" ist eine erotische Achterbahnfahrt, ein Familiendrama anderer Art, eine sinnliche Comedy, eine Mixtur aus Science-Fiction und Sex, ein amüsantes Stück der Popkultur ... Roman in 11 Kapiteln; 80.714 Wörter, Seitenzahl der Printausgabe: ca. 267. Leseprobe: ebookgemein.de/entries/110-FLAT-FRIEDRICH-eine-Sci-Fi-Sex-Odyssee!
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum29. Dez. 2012
ISBN9783844240191
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    Buchvorschau

    Flat Friedrich - Serge Elia Lomi

    Vorspiel

    Ich hätte das nie gedacht, aber es macht tatsächlich einen Unterschied, sagt die Frau mit dem nervösen Lidzucken.

    „Wirklich wahr?"

    „Mehr Wahrheit hat nie meine Lippen verlassen! Es ist ... es ist ... ist ganz einfach, als ob du es wirklich mit einem Kerl treibst, so einem aus der Kategorie Fünf-Sterne-Lover, mit dem Unterschied, dass du dir nicht sein blödes Gerede anhören musst ... Es ist halt nur ... halt nur der Dick! Der ganze Rest ist doch eh für ´n Butt!"

    Dick - neudeutsch: Schwanz

    Butt – neudeutsch: Arsch

    „Wirklich?" Die Frau in dem pinkfarbenen Pullover sieht aus, als sei sie gerade einem Comic Strip entstiegen - so glatt sind ihre Gesichtszüge, so dümmlich wirkt ihr Blick.

    „Jetzt solltest du dein Face sehen! So flat wie ein misslungener Raketenstart! Ja, wirklich! Das ist viel mehr als ein Vibrator ... Der sorgt für die vollkommene Befriedigung ... Ohne Nebenwirkungen! Ich trage ihn immer bei mir. An den unmöglichsten Orten, zu den unmöglichsten Zeiten überkommt es mich … Ich bin ihm ausgeliefert! Er ist der Dick in Perfektion. Du kannst dich selber davon überzeugen, wenn wir ihn gleich ausprobieren!"

    Face – neudeutsch: Gesicht

    flat – neudeutsch: flach

    „Wir?" Die Frau, deren pinkfarbener Pullover ganz bestimmt schon bessere Tage gesehen hat, formt den Mund zu einem O. Sie und ihre neue Freundin sind die einzigen Gäste in dem Coffeestore, dessen trübes Neonlicht so unwirtlich ist wie das Wetter. Innerhalb von Minuten hat dieses dem Sommertag die Farben ausgewaschen, wie ein mit zu viel Grad durchgeführter Waschgang einer Waschmaschine.

    Die Frau mit dem nervösen Lidzucken, das an ein in die Falle geratenes, flügelschlagendes Insekt erinnert, nickt bedeutungsschwer. Langsam hebt sie die Kaffeetasse an den Mund, der auch schon bessere Zeiten erlebt hat, und nippt daran.

    Der Regen trommelt gegen die Fenster des Coffeestores. Ein Sommerregen, der nach Tagen der Dürre und des endlosen Schwitzens endlich niedergeht und für etwas Abkühlung sorgt.

    „Ich wohne gleich um die Ecke", sagt die Frau mit dem nervösen Lidzucken. „Meine Wohnung ist sogar einigermaßen komfortabel. Ich habe einen Stimulator4000! Aber der ist nichts gegen das hier ..."

    Sie greift in ihre Handtasche und hebt einen Gegenstand daraus an. Sie bewegt ihn bis leicht oberhalb des Handtaschenrandes, so dass die Frau in dem pinkfarbenen Pullover einen Blick darauf erhaschen kann. Ihre Augen werden größer; sie ähneln schließlich den Untertassen, auf denen die Kaffeetassen der beiden Frauen abgestellt sind.

    Dann geht alles ganz schnell. Wie in einem Film, der plötzlich, um zügiger zur entscheidenden Szene vorzudringen, im Zeitraffer abläuft. Die Frau in dem pinkfarbenen Pullover winkt die Bedienung herbei, zahlt für sich und ihre neue Freundin und lässt ein Trinkgeld springen, das in puncto Üppigkeit mit ihren Brüsten mithalten kann.

    Arm in Arm verlassen sie den Coffeestore. Sie laufen die Straße hinunter, noch immer untergehakt, und lachen dabei wie Kinder, denen es eine Freude ist, die Pfützen spritzen zu lassen.

    Am Ende der Straße biegen sie rechts um die Ecke. Eine alte Frau mit einem kleinen Hund an der Leine kommt ihnen entgegen und wundert sich über diese Ausgelassenheit. Dann wird ihr Blick von einer plötzlichen Sehnsucht geflutet, und ihre Erinnerung spult in die 2030er Jahre zurück, als zwischen ihren Beinen täglich dieselbe Feuchtigkeit herrschte, die ihr jetzt ungemütlich um die Nase weht. Und im nostalgischen Rückblick übermannt sie die Sehnsucht wie ein Liebhaber, der mit derselben Heftigkeit zu Werke geht wie der Wind, der plötzlich aus seinem Versteck gekrochen ist und die Wipfel der Bäume zum Erbeben bringt …

    Die beiden Frauen, die nicht den Schimmer einer Ahnung haben, dass sie alte Erinnerungen und Erregungen aufleben lassen, hasten eine in Spiralen angelegte Treppe hinauf.

    Die Wohnung der Frau mit dem nervösen Lidzucken macht einen unordentlichen, nahezu im Chaos versinkenden Eindruck. Überall liegt Spielzeug auf dem Boden. Aber das ist jetzt zweitrangig.

    Die Frau in dem pinkfarbenen Pullover reißt sich eben diesen vom Leib und sagt: „Die Wohnungsbesichtigung beginnt im Schlafzimmer!"

    Dahin drängen die beiden Frauen, kichernd, keuchend und prustend. Wie zwei pubertierende Mädchen, die in Vorfreude sinnlicher Genüsse der Albernheit die Herrschaft über ihre Bewegungen und Äußerungen geben.

    Und dann wird das Spielzeug ausgepackt, mein Baby, an dem ich getüftelt, gebastelt und gefeilt habe, in Zusammenarbeit mit meinem Partner, und wir waren so in unser Werk vertieft, dass niemand von uns hätte sagen können, ob der in Rot- und Gelbtönen erflammende Himmel vom Auf- oder Untergang der Sonne herrührte ...

    8033 Sonnenaufgänge (oder 22 Jahre) zuvor …

    Part 1

    Setting

    Kapitel 1

    Fingerübung

    Es war an einem jener schwermütigen Tage nach Abflauen der revolutionären Anwandlungen, die das Volk ergriffen hatten wie ein plötzliches Beben. Seit dem Abflauen meiner letzten Erektion auf den weißen und mit Spitzen versehenen Laken meiner ehelichen Spielwiese waren bereits viele Raketen gezündet worden.

    Alles begann, soweit ich mich erinnern kann, mit einer Einladung zum Dinner.

    „Kommt doch mal vorbei, sagte mein Arbeitskollege Roger Chormann zu mir, den alle nur Chory nannten, mich eingeschlossen. „Du, Lisa und die Kinder! Ist lange her, nicht wahr?

    „Was ist lange her?" Ich war gerade dabei, Bauteil Nr. 34 an Bauteil Nr. 33 anzuschließen, hielt das Schweißgerät in der Linken und schob mit der Rechten das Visier meines Helmes hoch. Ich war mit echter, also ungeheuchelter Konzentration am Werk gewesen, was in letzter Zeit immer seltener vorkam, und ärgerte mich darüber, dieser durch wahrscheinlich nutzloses Geschwätz entrissen zu werden.

    „Na, dass deine bessere Hälfte, Lisa, und du und die Kinder zu uns zum Essen kommt. Wäre doch mal wieder schön! Ich habe noch einen edlen Roten im Keller stehen, der wartet auf Vernichtung!"

    Er stieß mich an, eine kumpelhafte Geste, die so gar nicht in das Muster passte, das sich von Chory in meinem Gehirn festgesetzt hatte. Er war immer so eiskalt, zurückhaltend, sprach nur das Nötigste, man lästerte schon lange hinter seinem Rücken, man nannte ihn auch „Mr. Lonesome."

    Ich war perplex, starrte ihn einen Moment lang an, um zu ergründen, ob es sich vielleicht um einen Scherz handelte. Aber seine eisblauen Augen erwiderten meinen Blick mit einer solchen Ernsthaftigkeit, dass diese Möglichkeit nicht in Betracht kam.

    Ich zögerte, machte wohl eine etwas abfällige Bewegung mit dem Kopf, als stünde ich einem Kind gegenüber, das noch in die Grundzüge menschlicher Existenz eingeweiht werden muss. Dann fasste ich mir ein Herz und wählte den sanftmütigsten Ton, den ich in meiner Palette sanftmütiger Töne vorfand, als ich sagte: „Meine Frau heißt Agatha, nicht Lisa. Und wir waren noch nie bei euch zum Dinner. Ich weiß noch nicht einmal, wo du wohnst."

    Mr. Lonesome verzog das Gesicht, als habe er eine Zitrone verschluckt. Dann fasste er sich an den Kopf, lächelte schief, und seine immer ein wenig eingefallenen, unrasierten Wangen wurden von dem Rot der Peinlichkeit geflutet. „Ach so, ja! Sorry. Da hab ich dich jetzt wohl verwechselt. Nichts für ungut!"

    „Kommt vor", sagte ich, obwohl ich fand, dass eine solche Verwechslung Einzug in das Guinness-Buch der Rekorde halten sollte.

    Wir arbeiteten weiter, stumm; der Lärm der Maschinen machte ohnehin jede Unterhaltung zur Kraftanstrengung. Ich befestigte Bauteil Nr. 34 an Bauteil Nr. 33 und schnappte mir Bauteil Nr. 35, bei dem es sich um eine aerodynamische, etwa 30 cm lange Röhre handelte, die an ihrem Ende jeweils links und rechts kugelig ausfiel und deren Sinn mir bislang verborgen geblieben war. Ich hatte mir aber auch nie ernsthaft Gedanken darüber gemacht; ich war ohnehin nur ein einfacher Arbeiter, und solange pünktlich am Monatsende das Gehalt auf meinem Konto einging, war alles gut, ich war zufrieden. Ich baute Raketen und hatte damit Anteil an der Kolonialisierung des Weltraums, das war eine grundanständige Sache, fand ich, und dieses Wissen um den Verbleib meiner Arbeitskraft genügte mir vollkommen. Wenn ich nun in einer Fabrik der Faschisten gestanden hätte, um besonders monströse und neuartige Waffen zu bauen, hätte es mich aber auch nicht weiter gestört; mir ging es nur darum, meine Familie durchzubringen. Ich wollte einfach leben und es mir im Rahmen meiner Möglichkeiten so gut wie möglich gehen lassen.

    Chory stand mit einem Mal wieder dicht an meiner Seite, viel zu nah für meinen Geschmack. Es fehlte nicht viel, und ich hätte mich in seinem Nasenhaar verheddert. Sein hageres Gesicht mit der markanten Nase und der von Falten gesäumten Stirn war wie eine Landschaft voller Gruben und Fallen.

    Ich ging unwillkürlich einen Schritt auf Abstand. Abgesehen von dem üblichen Schweißgeruch des Arbeiters verströmte Chory zwar keinen Gestank, aber seine Nähe bereitete mir Unbehagen. Ich kam mit Menschen im Allgemeinen ganz gut klar, aber wenn mir jemand zu dicht auf die Pelle rückte, wurde ich unruhig. Als hätte ich Ameisen in den Unterhosen.

    „Aber eigentlich, ganz ehrlich, was spielt das denn für eine Rolle, dass ihr uns noch nie besucht habt, ihr solltet uns gerade deswegen die Ehre erweisen, denn schließlich – wie lange arbeiten wir jetzt schon zusammen in einem Sektor?"

    Ich überschlug die Zeit und erwiderte kühl: „Fünf, vielleicht sechs Jahre."

    „Verdammt! Chory lachte heiser. „Dann kommen wir wohl bald in unser verflixtes siebentes Jahr, was?

    Ich sagte nichts. Ich bin einer von denen, die nicht immer etwas sagen müssen. Sehr oft ziehe ich das Schweigen vor.

    „Höchste Zeit für eine Einladung zum Dinner, was meinst du?"

    Ich sagte nichts.

    „Ich muss dir etwas zeigen. Etwas, was dir gefallen wird. Es könnte dein Leben verändern!"

    Ich schwieg.

    „Also abgemacht, Samstag, 13 Uhr, Virginia-Woolf-Boulevard 11, da wohnen wir, danke für euer zahlreiches Erscheinen! Ihr seid doch zahlreich?"

    Als ich nach Hause kam, waren, wie so oft, die Kinder noch auf den Beinen. Ich hätte es vorgezogen, einfach in der Couch zu versinken, die Beine hochzulegen und Sturzbäche kalten Biers die Kehle hinunterlaufen zu lassen, während die TV-Wall die neuesten Abenteuer von Curtis Taylor, dem Weltraumhelden, präsentierte oder ein Flatball-Game der Nationalmannschaft.

    TV-Wall – benannt nach ihrem Erfinder, Arthur Jerome Wall (2012-2064): eine zimmerwandgroße Fernsehtransmissionsfläche, seit den 60er Jahren des 21. Jahrhunderts Standard in jedem Wohnzimmer.

    Flatball – Spiel, das sich seit den 30er Jahren des 21. Jahrhunderts zunehmender Beliebtheit erfreut und in vielen Ländern den Fußball als Volkssport Nr. 1 ablöst. Ziel des Spiels ist es, den Ball ins gegnerische Tor zu bugsieren, indem man ihn – mit welchem Körperteil auch immer – in einer Höhe von höchstens 50 cm bewegt.  Das Tor ist ein 2 x 2 Meter großes Loch im Boden, das durch einen in der Regel höchst aggressiven Torhüter bewacht wird, der jedes Mittel – auch Gewalt - anwenden darf, um herannahende Bälle abzuwehren. Die meisten Spiele enden 0:0.

    Aber die Realität sah anders aus. Ich war Familienvater, und das ist ein Job, bei dem man in ständiger Bereitschaft ist, der einen nie wirklich die Beine hochlegen lässt, und selbst wenn man einmal so weit kommt, womit man schon im Übermaß vom Glück begünstigt ist, so ist es noch eine weite Reise bis zum Himmelreich der Entspannung.

    Da meine Frau in letzter Zeit abgebaut hatte und ich mir in ständiger Erwartung ihres Nervenzusammenbruchs bereits ein paar Notrufnummern zurechtgelegt hatte, war ich besonders gefordert. Aber ich beschwerte mich nicht. Kinder sind eine tolle Sache. Sie öffnen den Horizont. Mit ihnen reitet man in das Reich der Fantasie. Ein Leben ohne ihre Gesellschaft wollte ich mir nicht ausmalen. Sie war eine willkommene Alternative zur TV-Wall, vor der man, als handelte es sich dabei um eine elektronische Ausführung der Mutter, die einen in den Schlaf singt, regelmäßig in Schnarchen und Sabbern verfiel. Aber gegen ein paar Tage ohne Kinder einmal im Monat hätte ich nichts einzuwenden gehabt.

    Kaum hatte ich per IC die Tür zu unserer 100-Quadratmeter-Wohnung geöffnet, sprang mir auch schon Ben die Beine hoch, ein Knirps von vier Jahren, der jüngste Spross der Familie.

    IC (Identity Check) - Fingerabdrucköffnungssystem

    „Daddy! rief er. „Hast du mir was mitgebracht?

    „Na klar", antwortete ich, beugte mich zu ihm hinab, um ihn kurz darauf in meine Höhen auffahren zu lassen. Ben kaute auf einer undefinierbaren Masse herum, die offenbar sein Abendessen darstellte. Sein blondes Haar stand ihm in unbezähmbaren Büscheln vom Kopf, als handelte es sich bei ihm um eine Kinderausgabe Einsteins. Er roch nach einem lebhaften Tag, den er zweifellos wieder mit seiner Lieblingsbeschäftigung zugebracht hatte: Mummy auf Trab halten.

    „Was denn, was denn?" fragte der Knirps und schlug in freudiger Erwartung die Hände aneinander.

    „Eine Eintrittskarte für den Solaris-Spielplatz", sagte ich.

    „Solaris-Spielplatz?"

    „In der Solaris-Straße. Du weißt schon, den mit der großen Rakete und dem Mars, auf den man klettern kann."

    „Und du hast eine Eintrittskarte?"

    „Klar. Hat mich ein Vermögen gekostet!" Ich zog einen Prospekt aus der Innentasche meiner Jacke, auf dem Potenzmittel beworben wurden und den mir ein Arbeitskollege einmal zugesteckt hatte. „Hier siehst du: Da steht’s, Eintritt für den Solaris-Spielplatz, Wert: 2 Universaltaler."

    Universaltaler, kurz: U-Taler – Währung der eurasischen Zone seit 2028 (1 Universaltaler= 1,3 Euro des Jahres 2012)

    „Ja?" Ben nahm den Prospekt. Seine Stirn wurde vom Zweifel aufgescheucht und warf Falten. „Aber letztens, als wir da waren, brauchten wir keine Eintrittskarte!"

    „Ja, aber der Spielplatz erfreut sich jetzt so großer Beliebtheit, dass nur noch ausgewählte Kinder Zutritt erhalten, und du bist dabei: freu dich!"

    Ben riss die Arme hoch, ein Lachen zerstörte den Zweifel, der sich in sein Gesicht gegraben hatte. „Hurra! Und er sprang von meinen Armen und lief sogleich zu meiner Angetrauten, um ihr die Neuigkeit kundzutun. Mummy, schau mal, was mir Daddy mitgebracht hat!"

    Ich trat ein paar Schritte weiter in die Wohnung, streifte die Schuhe ab und meinte zu sehen, dass Dampfschwaden von meinen Füßen hochstiegen, ein Bild aus einem Comic, das ich halluzinierte. Als ich wieder aufblickte, blieben meine Augen an Nick hängen, mit seinen neun Sommern auf dem Buckel die älteste Junior-Ausgabe von mir. Er stand breitbeinig im Flur und lächelte matt, als sich unsere Blicke trafen.

    „Und - hast du mir auch was mitgebracht?"

    „Natürlich, na klar", antwortete ich hastig und fühlte mich mindestens so schuldig wie der Killer, den man, auf seinem ausblutenden Opfer kauernd, ertappt hat. Nick machte man so leicht nichts vor. Ich griff in meine Jackentaschen, in die linke, in die rechte, um die suchende Hand dann auch in die Innentasche verschwinden zu lassen und stieß zuletzt einen lautlosen Fluch aus.

    „Ich hab’s vergessen! In der Fabrik liegengelassen! Du  bekommst es morgen, ja? Wie war’s in der Schule?"

    „Du wechselst das Thema. Wer so schnell das Thema wechselt, der steht mit der Ehrlichkeit auf Kriegsfuß."

    „Was?"

    Nick war die Wucht. Jedes Mal haute er mich um mit seinen Beobachtungen und Ansichten. Manchmal fragte ich mich, nur so zum Zeitvertreib und weil er derartige Spekulationen durch sein blitzgescheites Wesen geradezu herausforderte, was eines schönen Tages aus ihm werden würde. Er hatte das Talent, einem Depressiven den bereits genau durchdachten Selbstmord auszureden und ihn stattdessen dazu zu bewegen, einen Marsch auf Rom zu unternehmen, um dort dafür zu streiten, neuer Papst zu werden. Durch Nick ließ man sich besser in keine Diskussion verstricken.

    Es kam mir höchst gelegen, dass in diesem Moment meine Frau um die Ecke gebogen kam, mit fliegendem Haar und einem Ausdruck im Gesicht, der mich an manche Gemälde von Francis Bacon erinnerte.

    „Meine Ablöse, endlich! Hast dir aber Zeit gelassen! Noch ´n Bier gekippt?"

    Ich blickte auf die Uhr. Meine Frau hatte Recht. Tatsächlich war ich drei Stationen früher aus der überfüllten Schwebebahn gestiegen, da ich so sehr an die Wand gedrängt worden war, dass ich plötzlich meinen linken Arm und mein rechtes Bein vermisst hatte. Der Spaziergang, auf dem ich fündig geworden war und in einer flüchtigen Inventur alle meine Gliedmaßen durchgezählt hatte, war belebend gewesen, hatte mich aber auch eine gute halbe Stunde meiner Zeit gekostet. Eine halbe Stunde Vaterzeit, Familienzeit.

    Da meine Frau schon immer der misstrauische Typ war und ich keine Lust auf Diskussionen hatte, entschied ich mich dafür, ihr eine Lüge aufzutischen, da sie mir die Wahrheit ohnehin nicht abkaufen würde. Auch wenn ich so um die übliche Moralpredigt nicht herumkam, es war immer noch der einfachste Weg.

    „Ja, hörte ich mich sagen, und meine Stimme klang dabei so fern, als handelte es sich bei ihr um Staub vom Mars. „Hab mir noch zwei Bier genehmigt. Mit Mr. Lonesome. Hat uns zum Dinner eingeladen.

    „Was?"

    „Wir haben eine Einladung zum Dinner."

    „Na toll! Ist ja wieder typisch! Für wen hältst du mich eigentlich? Während du dich in irgendeinem Striplokal vergnügst, sitze ich hier mit den Kindern und sehe dabei zu, wie sich meine Nerven in Luft auflösen! Geht es dir noch gut?"

    „Wer hat was von Striplokal gesagt?"

    Meine Frau besaß die herausragende Eigenschaft, aus einer Mücke eine Rakete zu machen. (Nach unserer Hochzeitszeremonie war sie den Dostojewski-Boulevard auf und ab gelaufen wie ein kopfloses Huhn. Sie hatte ihren Ehering, der mir aus dem längst vergangenen Reichtum meiner Familie zugefallen war, jedem ins Gesicht gehalten, der sich nicht rechtzeitig in Deckung hatte bringen können. Der aus Weißgold gefertigte Ring mit dem prunkvollen Diamanten in Form einer Rose hatte seinen Duft unter zahllosen fremden Nasen verströmt – ach, herrliche, verlorene Zeit!)

    „Ach so! Wo hast du denn das Bier bitteschön getrunken? In der Kirche, oder was?"

    Ich seufzte und gab mich geschlagen. „Okay, sagte ich, „ertappt! Wir waren im Striplokal. Ich hatte keine Lust auf Diskussionen, und meiner Frau gefiel es, moralisch auf einer höheren Ebene zu wandeln. Hauptsache, sie konnte mich maßregeln. Hauptsache, ich war ihr am Ende des Tages etwas schuldig.

    „Siehst du! Siehst du!" sagte sie, und der Triumph in ihrer Stimme klang wie ein Peitschenhieb auf nackter Haut. Ihr blondes lockiges Haar, in das sich zunehmend aschgraue Kringel mischten, hüpfte auf ihrem Schädel wie ein tollwütiger Pudel. Ich glaubte sogar, seine Schnauze zu sehen, die im Takt des Wahnsinns für Sekundenbruchteile vorschnellte, um mir zähnefletschend zu bedeuten, auf Abstand zu gehen. Rücksichtsvoller Pudel, braves Hündchen.

    Meine Frau begann ihren Vortrag, den ich gekonnt ausblendete. In jahrelanger Übung war ich darin zum Meister gereift.

    Nick war in seinem Zimmer verschwunden; die ständigen Vorhaltungen meiner Frau ödeten ihn wohl auch allmählich an. Ich schlich ihm hinterher, während mir meine Frau wie ein lästiges Anhängsel folgte. Das Keifen ihrer Stimme gehörte inzwischen genauso zu unserer Wohnung wie das stete Brummen unserer TV-Wall; ein Defekt, den wir noch nicht hatten reparieren lassen, da das nötige Kleingeld für das Trinkgeld des Technikers fehlte.

    Nick kauerte auf seinem Bett, und gerade, als ich sein Zimmer betrat, sprang er mir mit einem Salto vorwärts entgegen. Nicht nur geistig war er ein talentiertes Kerlchen. Ich fand, dass er ganz nach seinem Vater kam. Und musste zugeben, dass ich eindeutig zu wenig aus meinen Möglichkeiten gemacht hatte.

    Sein Zimmer allerdings war ein Ort, in dem man leicht den Überblick verlor. Hier riskierte man Hals- und Beinbruch. Vielleicht stand hinter dem Durcheinander ja irgendein geheimer Sinn, eine Ordnung, die sich mir nicht erschloss, aber oberflächlich betrachtet – und andere Betrachtungsweisen hatte ich nicht auf dem Kasten – war es das reinste Chaos. Instinktiv, wie immer, wenn ich dieses Zimmer betrat, das dem Genie vielleicht auch etwas zu klein geworden war, begann ich Gegenstände aufzuklauben, um sie sogleich in irgendwelchen Kisten verschwinden zu lassen.

    „Nick, wie sieht es denn hier wieder aus!" Ich war bemüht,  meiner Stimme väterliche Strenge zu verleihen, sah aber, dass die Wirkung zu wünschen übrig ließ.

    „Wie immer!" sagte Nick frech, sprang aus dem Stand etwa 2 Meter in die Luft und drehte sich dreimal um die eigene Achse.

    Mir blieb die Spucke weg. „Das ist ... äh ... das ist aber nicht gut!"

    Mein Blick streifte die in seinen Regalen aufgereihten Pokale, die er bei Schachturnieren, Turnwettbewerben und Intelligenzmeisterschaften eingeheimst hatte. Einige Pokale fanden sich auch unter Bergen alter Wäsche, die hier und dort verteilt waren. Das Blinken und Blitzen der Trophäen erweckte jedes Mal die Sanftmut in mir. Ich konnte ihm einfach nicht böse sein.

    „Was ist nicht gut?" fragte Nick und mimte den Begriffsstutzigen. Diese Verkörperung eines geistig Zurückgebliebenen lag ihm ebenso wie der fünffache Flaubert-Jump-Slide (irgend so ein Modesprung; jedes Mal, wenn ich ihn sah, wurde mir schwindelig, und ich hätte Schwierigkeiten gehabt, sein Bewegungsmuster aufzuzeichnen; sein Erfinder, ein 17jähriger halbwüchsiger Franzose, meinte, er wirke „so vollendet wie ein Satz aus der Feder des großen Flaubert"). In einer meiner zahlreichen Zukunftsprojektionen verdiente Nick sein Geld in Hollywood; er konnte einem zweifellos alles vorgaukeln, und man musste ganz schön auf der Hut sein, um ihm nicht auf den Leim zu gehen.

    „Du verstehst mich ganz gut, hörte ich mich sagen. „Diese Unordnung! Aus dir soll doch mal was werden?

    „Ich hab gestern ´n Penner gesehen. Saß auf einer Bank im Park, trank aus einer Flasche und machte ´n ganz zufriedenes Gesicht. Dabei sehe ich viele Leute, aus denen was geworden ist, wie man so schön sagt, deren Mundwinkel hängen so tief, dass sie Maulwürfen den Weg versperren."

    „Was?"

    „Einfach ausgedrückt, Dad: Ich sehe nicht ein, warum ich es zu etwas bringen soll, wenn ich am Ende doch nicht glücklich darüber werde."

    „Was?"

    „Und außerdem: In einer Raketenfabrik kann ich doch jederzeit anheuern! Dafür muss ich doch nicht mein Zimmer aufräumen!"

    Es gab so einige Züge an meinem Sohn, die mich an meine Frau erinnerten. Letztere trat nun zwischen mich und Nick. Ihr Gesicht war gerötet und aufgequollen, wie ein Pudding, den man nicht rechtzeitig vom Herd genommen hat. Ihre Augen, in denen ich in guten Stunden das Schimmern des Ozeans erkannte, waren geweitet, und jetzt meinte ich in ihnen das tiefe Schwarz des Weltalls wahrzunehmen. Tatsächlich hatte ich sie für einen Moment vergessen, sie links liegengelassen und mich abgewendet, wie man sich von einer nicht allzu spannenden Fernsehtransmission abwendet, und jetzt erhielt ich die Quittung dafür.

    „Sag mal, hörst du mir eigentlich zu?" fragte sie und bekam wieder dieses hektische Zucken um den linken Mundwinkel. Das war mein Alarmsignal. Es hieß: Obacht, alter Knabe! Treib es nicht zu weit!

    „Ich höre dich gut", sagte ich.

    „Ach ja? Dann wiederhol doch mal, was ich gesagt habe!"

    Ich konnte Wort für Wort wiedergeben. Stolz war ich nicht darauf. Es stellte ebenso wenig eine Meisterleistung dar wie das Bauen von Raketen. Ich machte es jeden Tag. Ebenso hatte ich lange Zeit täglich den Schimpftiraden meiner Frau zugehört, hatte sogar – damals, als wir noch auf Dinosauriern ritten – Verteidigungsreden geschwungen. Irgendwann, kurz nachdem dem letzten Dinosaurier die Puste ausgegangen war, hatte ich aufgegeben und meine Ohren in den Modus Durchzug geschaltet. Was zwar nicht verhinderte, dass mein Bewusstsein mit Tentakeln nach den Worten schnappte, aber meinen Ohren mit Sicherheit eine längere Lebenszeit gewährte.

    „Und was sagst du dazu?"

    Das Kreischen meiner Frau war geeignet, jeden Raketenstart an Lautstärke zu übertreffen. Über die Nachbarn machte ich mir schon lange keine Gedanken mehr. Die wussten längst Bescheid. Die hingen wie Spinnen an den Wänden und verfolgten unser eheliches Glück, als handelte es sich dabei um Szenen einer täglich ausgestrahlten Soap Opera. Es war das Stück Unterhaltung, das ihren Alltag versüßte und auf das sie gebannt warteten. Ich hätte mich wahrscheinlich genauso verhalten, wenn sich in meiner Nachbarwohnung ein derartiges Spektakel abgespielt hätte. Es ist tröstlich zu sehen (in diesem Fall: zu hören), dass sich andere in einer noch misslicheren Lage befinden. Mir geht es doch gar nicht so schlecht, war der erbauliche Gedanke meiner Nachbarn. Meine Ehe läuft doch eigentlich ganz gut.

    „Du hast Recht, in allen Punkten. Ich bekenne mich schuldig! Vielleicht beginnt morgen endlich mein neues Leben, als besserer Mensch. Deine Stufe werde ich nie erreichen, du bist so perfekt und leuchtend wie ein Funken Strom. Heute Nacht spendiere ich dir ´ne Massage, wie wär’s?"

    „Ach!" Meine Frau machte eine wegwerfende Handbewegung. „Bleib mir bloß vom Leib mit deinen abgearbeiteten schmutzigen Händen! Da nehme ich doch lieber den Stimulator3000!"

    Sie ging ab. Im Theater hätte sie zweifellos Szenenapplaus bekommen. Hier erntete sie nur Schweigen. Selbst Nick blieb kurzzeitig in der Luft hängen, nachdem er sich wieder in ihre Höhe begeben hatte. Als müsse die Zeit verschnaufen, ehe sie weiterlief.

    Ich machte mir nichts daraus. Mit dem Stimulator3000 würde ich es selbst nach einem mehrteiligem Kurs Wie bringe ich meine Frau zum Orgasmus ohne dass einer von uns beiden schlappmacht? nicht aufnehmen können. Schließlich handelte es sich

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