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Ellens Geschichte: Roman
Ellens Geschichte: Roman
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eBook294 Seiten6 Stunden

Ellens Geschichte: Roman

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Über dieses E-Book

Solange Ellen Tote zurückdenken kann, träumt sie nachts immer wieder, wie ihre Mutter zum nahe gelegenen Fluss geht, hineinwatet und darin untertaucht. Es kommt Ellen so vor, als würde ihre Mutter ertrinken. Warum, so fragt sie sich, geht Mama mitten im Winter zu dem vom Regen angeschwollenen Fluss?
Dieses Rätsel beschäftigt Ellen immer noch, selbst jetzt, im Alter. Ihre eigenen Kinder sind mittlerweile erwachsen, ihre beiden Ehemänner und all ihre Geschwister sind inzwischen gestorben. Ellen blickt zurück in ihre Jugendzeit, versucht, die Bruchstücke ihrer Erinnerung zu einem Ganzen zusammenzusetzen. Was dabei entsteht, ist das Bild einer Kindheit in bitterster Armut, der innere Kampf eines kleinen Mädchens, das angesichts der Bedrohung durch Gewalt innerhalb der Familie, durch Lieblosigkeit, Entwurzelung, Unverständnis und äußere Not ein wenig Würde und Eigenständigkeit zu gewinnen sucht.
So entsteht ein schonungslos ehrliches und erschütterndes Bild einer Kindheit, die einen schwachen Menschen unweigerlich zugrunde richten würde. Als sich die Erinnerungsteile endlich zusammenfügen, löst sich für Ellen das Rätsel ihres Traums. Auf dem Weg dorthin entsteht eine bewegende und meisterhaft erzählte Geschichte zwischen Angst und Hoffnung.

Von Jim Grimsley außerdem in der Edition diá:

Wintervögel
ISBN 9783860345115

Das Leben zwischen den Sternen
ISBN 9783860345122

Dreamboy
ISBN 9783860345139
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition diá
Erscheinungsdatum14. Juni 2013
ISBN9783860345320
Ellens Geschichte: Roman

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    Buchvorschau

    Ellens Geschichte - Jim Grimsley

    diá

    Über dieses Buch

    Solange Ellen Tote zurückdenken kann, träumt sie nachts immer wieder, wie ihre Mutter zum nahe gelegenen Fluss geht, hineinwatet und darin untertaucht. Es kommt Ellen so vor, als würde ihre Mutter ertrinken. Warum, so fragt sie sich, geht Mama mitten im Winter zu dem vom Regen angeschwollenen Fluss?

    Dieses Rätsel beschäftigt Ellen immer noch, selbst jetzt, im Alter. Ihre eigenen Kinder sind mittlerweile erwachsen, ihre beiden Ehemänner und all ihre Geschwister sind inzwischen gestorben. Ellen blickt zurück in ihre Jugendzeit, versucht, die Bruchstücke ihrer Erinnerung zu einem Ganzen zusammenzusetzen. Was dabei entsteht, ist das Bild einer Kindheit in bitterster Armut, der innere Kampf eines kleinen Mädchens, das angesichts der Bedrohung durch Gewalt innerhalb der Familie, durch Lieblosigkeit, Entwurzelung, Unverständnis und äußere Not ein wenig Würde und Eigenständigkeit zu gewinnen sucht.

    So entsteht ein schonungslos ehrliches und erschütterndes Bild einer Kindheit, die einen schwachen Menschen unweigerlich zugrunde richten würde. Als sich die Erinnerungsteile endlich zusammenfügen, löst sich für Ellen das Rätsel ihres Traums. Auf dem Weg dorthin entsteht eine bewegende und meisterhaft erzählte Geschichte zwischen Angst und Hoffnung.

    »Ein Buch, das mit dem Ertrinken einer Person beginnt und mit einem Begräbnis endet, bewegt sich unzweifelhaft auf düsterem Gelände, aber Grimsleys einfühlsame Prosa und die trotzige Widerstandsfähigkeit seiner Protagonistin machen auch diesen Roman zu einem hoch befriedigenden Leseerlebnis.« (Publishers Weekly)

    »Hier spricht Amerika mit einer Stimme, die bei uns selten vernommen wird.« (Der Tagesspiegel)

    Der Autor

    Jim Grimsley, geb. 1955 in Pollocksville, North Carolina, schreibt Prosa und Theater. Seit den 80er-Jahren entstanden zahlreiche Theaterstücke (veröffentlicht im Sammelband »Mr. Universe and Other Plays«, Algonquin Books 1998), seit den 90er-Jahren schrieb er, nach seinem aufsehenerregenden Debüt »Wintervögel«, sechs Romane, zuletzt »Forgiveness« (University of Texas Press 2007) und den Erzählband »Jesus Is Sending You This Message« (Alyson Books, 2008), außerdem drei Fantasyromane (2000–2006). Werke von Grimsley wurden ins Deutsche, Französische, Spanische, Portugiesische, Niederländische, Hebräische und Japanische übersetzt. Zu den zahlreichen Literatur- und Theaterpreisen, die er in den USA und Europa erhielt, gehören vor allem der Lila Wallace/Reader’s Digest Writers Award für sein Gesamtwerk (1997) und der Academy Award in Literature von der American Academy of Arts and Letters (2005). Jim Grimsley lebt seit Langem in Atlanta, Georgia, und unterrichtet Creative Writing an der dortigen Emory University.

    Der Übersetzer

    Frank Heibert, geb. 1960, übersetzt vor allem aus dem Englischen und Französischen, u. a. Don DeLillo, Richard Ford, Lorrie Moore, Tobias Wolff, Neil Labute und, zusammen mit Hinrich Schmidt-Henkel, Yasmina Reza. 2006 erschien sein erster Roman »Kombizangen«. 2012 erhielt er den Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis für sein Gesamtwerk.

    Inhalt

    Das Haus in Low Grounds

    Der tote Fuchs

    Am Moss Pond

    Wie wir von dem Ungeheuer erfuhren

    Alma Laura

    Onkel Cope

    Variationen über Onkel Cope

    Corrine

    Der Schlangenzahn

    Joe Robbie

    Winter in Holberta

    Mama sagte immer

    Tante Addis

    Nana Roses Träume

    Ein Mann und seine Mama

    In der Gegenwart

    Nora

    Mein Ertrinken

    Impressum

    Berlin 1993

    Für Faye Araiza

    Das Haus in Low Grounds

    Ich kann mich noch erinnern, wie weiß meine Mutter war, als sie im Fluss versank. Jahre später stehe ich in meiner blitzblanken Küche, als die Erinnerung wiederkehrt. Wir sind irgendwo im Schatten, nicht weit vom Holcomb River, und meine Mutter hat nur ihren weißen Unterrock an, der im Wasser wallt. Sie ist sehr bleich und dick, und das Aufblühen von Rock und Unterhemd lässt sie riesig aussehen. Sie kniet im Fluss, eingetaucht bis zu den Schultern, und wendet ihr Gesicht dem Himmel zu. An ihren Armen schwabbelt das Fett, berührt das dunkle Wasser. Sie holt Atem und schließt den Mund. Sie gleitet fort, von mir, von uns allen.

    Ich bin noch nicht alt genug, um zu wissen, wie sehr dieses Bild dem Ertrinken ähnelt. Warum sind wir zum Fluss gegangen, der vom Regen angeschwollen ist, der so wirbelnd und schnell strömt? Der Grund dafür ist mir entfallen; ich weiß nichts mehr. Da ich Schuhe anhabe, muss es Herbst oder Winter sein. Die Welt zeigt sich braun und trocken. Nur wir Töchter haben unsere Mutter hierherbegleitet; meine ältere Schwester Nora steht bei mir, aber keiner meiner Brüder ist uns gefolgt. Warum nicht?

    Mama taucht keuchend aus dem Fluss auf, schleudert sich das Wasser aus den Haaren. Ihr Atem steigt in Schwaden auf. Die Überraschung über ihr freizügiges Verhalten hallt noch Jahre später in mir nach. Ihre großen, flachen Brüste wogen, das vergilbte Unterhemd klebt an dem hochwallenden Fleisch. Sie sagt etwas, ich weiß nicht mehr was, es hat mit der Kälte zu tun. Aber sie richtet ihre Worte nicht an mich, sondern an die Luft über mir. Jemand anders steht hinter mir, ich weiß nicht mehr wer. Wie kann eine so lebhafte Erinnerung so unvollkommen sein?

    In der Gegenwart stehe ich in meiner Küche, bei eingeschaltetem Licht. Ich bin allein in meinem Haus, aber alles um mich her erscheint mir ganz seltsam. Alle Gegenstände haben eine schillernde Patina. Ich sehe einen Fluss zu meinen Füßen, als ob er dort tatsächlich dunkel rauschte; mir ist klar, dass das so ist, weil ich alt bin und all die Flüsse meiner Erinnerung zum Meer strömen, unaufhaltsam. Mir ist klar, dass ich dazu neige, mich an die albernsten Dinge zu erinnern, genau wie Nana Rose, als sie starb. Ich bin so alt geworden, dass mir eine Erinnerung ebenso wirklich vorkommt wie die Wirklichkeit.

    Mama kehrt ans Ufer zurück. Sie ragt über mir auf, zitternd und tropfend, und ich sehe die Umrisse ihres schweren Bauchs, ihre quellenden Schenkel. Ausdruckslos wie eine Kuh schaut sie zu mir herunter. Ich liebe sie so sehr, dass mir alles wehtut. Das Gefühl kommt wieder, lebhaft, es durchläuft mich wie ein elektrischer Schlag. Sie hebt mich hoch, ihre Arme sind stark, aber weich; ich schmiege mich fest an sie. Ich wiege weniger als die nasse Unterwäsche.

    Sie hält mich beinahe auf Höhe ihres Gesichts. Ihre Augen sind blau und leer. Sie setzt mich abrupt auf die Erde, weiß nicht mehr, warum sie mich überhaupt hochgehoben hat. Der nasse Stoff der Wäsche flattert, als sie uns alle stehen lässt.

    Ich habe diese einfachen Bilder wieder und wieder gesehen, in der Erinnerung und in Träumen, und ich werde sie immer sehen. Wir sind zum Fluss gegangen, Nora und Mama und ich – Ellen –, und Mama trägt nichts als ihre Unterwäsche. Wir stehen in der Kälte, während Mama unter den Bäumen schluchzt.

    Wir wohnten in Low Grounds in einem Haus mit Kamin, Holzofen und einem Brunnen draußen, wo Nora unser Wasser pumpte. Wir hatten ein Bett in der Küche stehen, für Onkel Cope. Wir hatten Kerosinlampen fürs Licht und draußen einen Abort zum Scheißen. Mein Daddy war Farmer, er hatte dieses Land gepachtet. Er war zweiunddreißig, wie meine Mutter.

    Ich war hungrig, schaute ins Feuer und wünschte, ich hätte etwas zu essen. Bald würde es Brötchen aus Wasserteig geben, sie buken schon in der Pfanne, ich konnte sie riechen, aber ich aß nie schnell genug, um meinen Magen zu füllen, und später waren nie welche übrig. Also kuschelte ich mich in Mamas Schoß und schaute ins Feuer und spürte die hohle Faust in meinem Bauch.

    Der Duft der Brötchen erfüllte das Haus und zog meine Brüder an, Carl Jr., Otis und Joe Robbie, die wie Hunde an der Wand entlangschlichen. Auch Daddy wurde davon wach, schlurfte aus dem Schlafzimmer und zog dabei ein Flanellhemd über seine dünnen Schultern.

    Er löffelte Zucker in seinen Kaffee und sagte nichts. Wenn es nichts als Brötchen zu essen gab, starrte er die Tischplatte an. Er kaute Brötchen, als stünde er auf der Weide.

    Ich bekam ein halbes Brötchen ab. Das Gefühl von warmem Brot im Bauch machte mich glücklich, und ich durfte auf Mamas Schoß essen. Alle aßen. Wir drängten uns beim Feuer. Keiner sagte ein Wort.

    Ich schlief mit Nora in einem Bett. Es stand im selben Zimmer wie das Bett der Jungen, nur am anderen Ende. Nachts zog mich Nora an sich wie einen warmen Ziegel, und wir atmeten friedlich, während unsere Brüder schnarchten.

    Früh am Morgen weckte Mama Nora immer, indem sie sie unter der Decke an den Füßen zog, und Nora schlüpfte mit einem Brummen hinaus, ihr war klar, dass sie besser nicht trödelte. Mama schwebte als ein mächtiger runder Schatten am Fußende des Bettes. Im Licht der Kerosinlaterne, die sie dabeihatte, konnte ich sehen, wie weich ihre Augen waren. »Steh schon auf, los.«

    Ich verließ zusammen mit Nora das Bett. Der Boden schlug kalt gegen meine Fußsohlen, das tat mir weh. Ich zog mir in der Kälte Kleider über, während Mama mit ihrer Laterne auf die Tür zusegelte.

    Nora hatte sich schon angezogen und stolperte hinter ihr her.

    Wir zündeten ein Feuer im Küchenherd an, dann ein weiteres im Kamin im Nebenraum, wo Daddy sitzen würde, um seinen Kaffee zu trinken und seine Maisgrütze zu essen. Die Feuer mussten brennen, bevor Daddy aufstand. Mama und Nora schlichen in die Küche, um dort im Ofen einzuheizen, denn Onkel Cope schlief in der Küche, und sie hatten Angst vor ihm. Sie hörten ihn im Dunkeln atmen, während sie mit dem Holz hantierten. Sobald das Feuer brannte, begann Nora, Brötchen zu backen. Sie schöpfte Wasser, das sie am Vorabend gepumpt hatte, und löffelte Schmalz aus der Büchse. Sie dosierte nach Augenmaß und knetete den weißen Teig sorgfältig. Sie fröstelte in der kalten Küche, der Wärmekreis des Feuers breitete sich erst allmählich aus. Sie stand am Herd und wärmte sich, während er in Gang kam.

    Sie kochte Kaffee. Sie setzte das Wasser für die Grütze auf. Sie legte Holz aus der Holzkiste nach. Ich stand beim Herd an der Wand und sah ihr zu. Ich holte und schleppte, was immer mir aufgetragen wurde.

    Damals, als er bei uns wohnte, stand Onkel Cope immer auf und humpelte auf Krücken durchs Haus, sobald Nora das Feuer im Ofen entzündet hatte. Von den Männern wachte er als Erster auf. Mama und Nora hatten mir immer wieder eingeschärft, nicht mit ihm allein zu bleiben, also achtete ich darauf. Wenn er in ein Zimmer kam, wo ich allein war, ging ich hinaus. Schon am Morgen roch er nach Whiskey, und er rasierte sich nie; er knöpfte seine Hemden falsch, und sein Bauch hing über den Gürtel. Seine Zähne waren bläulich und schartig. Ich mochte ihn nicht. Vor langer Zeit hatte sich Onkel Cope das Bein gebrochen, es zersplitterte, als er betrunken von einem Truck herunterfiel, sagte Mama. Er wohnte einen Teil der Zeit bei Daddy, weil Daddy sein Bruder war.

    Wenn sich der Himmel aufhellte und der Kaffee langsam kochte, machte sich Mama zu den Schlafzimmern auf, um Carl Jr. und Daddy zu wecken. Die Brötchen buken jetzt in der Pfanne, und die Grütze blubberte im Topf. Daddys Rasierschüssel wartete auf das Wasser, das wir auf dem Herd heiß machten. Nora gab mir etwas Teig, als Mama draußen war. Ich aß ihn gierig, roh. Kaum Morgen, und ich hatte schon wieder Hunger.

    Carl Jr. stolperte aus dem Schlafzimmer, zog dabei seine Hosen hoch. Die restlichen Kleider hatte er in der Hand und ließ sie beim Kamin auf den Boden fallen, wo er bibbernd und händereibend stehen blieb. Hastig zog er ein Unterhemd an und knöpfte ein weiteres darüber.

    Er wusch sich das Gesicht und gab acht, nicht mehr von dem heißen Wasser zu verbrauchen, als Daddy abzugeben bereit war. Um seinen Bart musste sich Carl Jr. eigentlich nicht jeden Tag kümmern, aber er rieb sich über den Hals, als wünschte er sich stärkeren Wuchs. Diese Bewegung und der flusige blonde Bart sollten ihm bis in sein Mannesalter bleiben.

    Daddy schlüpfte aus dem hinteren Teil des Hauses herein, dünn und scharf wie eine Klinge. Sein kleiner, runder Kopf glänzte, sein Haar wurde oben schütter, flusig wie Carls Bart. Der trug die Rasierschüssel weg und leerte sie, während Daddy sich ans Feuer stellte. Er fingerte an den Knöpfen seiner Latzhose herum, kniete sich hin und band seine Schuhe zu. Carl Jr. kam mit der Schüssel, und Nora füllte sie wieder. Das heiße Wasser am Morgen machte Daddy zufrieden, und die Minuten vergingen in Ruhe.

    Seltsam, an welche Einzelheiten sich ein Mensch erinnert, unter all denen, die vergessen sind oder gar nicht erst auffallen. Ich sehe die rot karierte Wachsdecke noch vor mir, die wir hatten, als ich ganz klein war, übersät mit dunklen Löchern von brennenden Zigaretten. Daddy rollte seine Zigaretten immer am Tisch und rauchte sie auch da. Was macht diese Erinnerung so besonders? Die Wachsdecke wurde irgendwann weggeworfen, als sie fast nur noch aus Löchern bestand, und wir bekamen nie eine neue. Aber ich weiß noch, wie ich auf einem Stuhl knie und mit der Hand über die fettige Oberfläche streiche, die hellen Karos zähle, meine Finger durch die Brandlöcher stecke.

    Was entgeht meiner Aufmerksamkeit? Was vergesse ich jedes Mal? Warum dieser bestimmte Morgen?

    Mama kam aus dem hinteren Teil des Hauses. Sie hatte Strümpfe angezogen und bewegte sich in ihrem Schlurfgang mit weit gespreizten Knien voran. In der Küche rührte sie vier Löffel Zucker in eine Tasse heißen, starken Kaffee. An diesem Morgen brachte sie Daddy seinen Kaffee persönlich.

    Er nahm die Tasse und trank. Zufriedenheit breitete sich auf seinen Zügen aus. Das Feuer wärmte ihn ausreichend, und ihm war behaglich.

    Draußen vor den Fenstern stieg die Morgenröte am Himmel auf, ein kräftiges Licht hinter den Kiefern. Ich stand am Fenster, neben dem Herd, neben Noras Rock. Umrisse tauchten in der trüben Außenwelt auf und wurden zum Hühnerhaus, dem Werkzeugschuppen, dem Abort. Tabakscheunen standen schief in der Ferne. Morgens hing ein fahler Dunst im Garten, zwischen den Bäumen. Der Himmel leuchtete in allen Farben des Regenbogens, aber vor allem loderte er wie Feuer, besonders an den oberen Wolkenrändern.

    Mir war kalt, aber ich blieb dem Kamin fern. Ich würde mich wärmen, wenn Daddy weg war.

    »Geh und zieh dir Strümpfe an, Ellen«, flüsterte Nora, »du holst dir noch Lungenzündung«, und ich nickte und lief schnell ins kalte Schlafzimmer. Keiner von uns wusste, was Lungenzündung war, aber wir waren uns einig, dass es schlimm wäre, sie sich zu holen.

    Die Jungen in unserem Zimmer schliefen noch. Ich ging auf Zehenspitzen, damit nur ein bisschen Fuß den kalten Boden berührte. Mama würde Otis bald wecken, denn er musste sich für die Schule fertig machen. Joe Robbie würde so lang im Bett bleiben, wie er wollte, und Mama würde ihm später ein Brötchen und etwas süßen Kaffee bringen, sobald alle anderen das Haus verlassen hatten. Aber jetzt war der Raum noch dunkel, und ich tastete mich zwischen den Schatten hindurch. Ich schnappte mir die Strümpfe und kehrte in die Küche zurück. Im Dunkeln gab es Gespenster, und wenn man trödelte, kriegten sie einen.

    In der Küche zog ich mir am Herd die Strümpfe über, auf einem Bein hüpfend, damit ich mich nicht auf den Boden setzen musste. Nora lächelte mich von der Seite an. Carl Jr. ging mit seinem Kaffee zu Daddy, und sie tranken ihn zusammen am Kamin, in den beiden Sesseln. Nora stellte ihnen Brötchen hin. Wir hatten Sirup da, und heute goss sich Daddy etwas über eins der Brötchen, um in Gang zu kommen, wie er sagte, und Mama lachte. Sie brachte ihm den Sirup, der auf dem obersten Regal aufbewahrt wurde, außer Reichweite für uns Kleine, als wäre er etwas Heiliges. Der Sirup quoll in dünnen, sich verzweigenden Rinnsalen über das Brötchen. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Daddy lächelte und entblößte dabei die Lücke, wo ihm ein Zahn fehlte.

    Die Sommerbräune seines Gesichts war verblasst. Seine Stirn war tief zerfurcht von langen Tagen in Wind und Wetter. Er war dünn wie ein Stecken, aber stark wie Draht. Seine Hände und Füße waren in meinen Augen riesig. Mit den Füßen konnte er genauso blitzschnell und unerwartet treten wie mit den Händen zuschlagen, und selbst Carl Jr. wusste sich nicht gegen Daddys Tritte und Tricks zu wehren. Was man angestellt hatte, konnte ebenso gut schlimm wie geringfügig sein; manchmal genügte schon der Umstand, dass man sich zu langsam durch seine Trittreichweite bewegte. Ich blieb auf dem Sprung, wenn Daddy in der Nähe war, ich hatte gelernt, mich mit dem Rücken an der Wand zu halten.

    Carl Jr. ging zur Arbeit, wenn der Wagen kam. Ich wusste nicht, wann oder warum er eintraf, nur dass es so war. Ein dunkler Pick-up mit runder Kühlerhaube und Holzgeländer um die Ladefläche fuhr am Straßengraben vor und hupte. Carl Jr. sprang hinten auf, und der Wagen verschwand hinter der Kurve der abschüssigen Straße.

    Nicht lange danach stolperte Otis durch die Küche, abmarschbereit, um mit Nora die halbe Meile bis zu der Stelle zu gehen, wo der Schulbus hielt. Ihr Mantel war an den Schultern allmählich eng geworden. Otis trug einen alten Mantel von Carl Jr., der ihm etwas zu groß war, aber ihm schien wärmer zu sein als Nora.

    Als sie weg waren, wurde das Haus still.

    Daddy saß zu Hause in der Küche oder werkelte im Garten herum. Die meiste Zeit verbrachte er im Schuppen. Später erfuhr ich, dass dort sein Schnaps stand. Manchmal quälte sich Onkel Cope auf seinen Krücken durch den Garten, um sich zu Daddy auf eine Kiste im Schuppen zu setzen, die Arme um die Knie geschlungen. Wir konnten sie lachen hören.

    Mama musterte die Hütte mit ihren milchigen Augen.

    Im Winter spielten Joe Robbie und ich beim Kamin oder in der Küche oder, im schlimmsten Fall, in einem der kalten Schlafzimmer. Joe Robbies Beine trugen ihn nicht, aber warum, das verstand ich nicht. Ich schaute ihn nie gern an, wegen der Art, wie er sich bewegte, aber er konnte schon richtig spaßig sein, wenn er sich mal hinsetzte.

    Daddy arbeitete nicht auf der Farm. Er weigerte sich, mit den Holzfällern loszuziehen und richtig Geld zu verdienen. Wir aßen die Hälfte der Woche Brötchen und fette Schwarte, bis Freitag, dann gab es manchmal Geld. Das bedeutete: Fleisch mit Bohnen und vielleicht Reis. Daddy hatte sich mit dem Mann gestritten, dem das Land gehörte, wegen Geld. Ich wusste davon. Aber das sagte mir wenig, anders als Mamas Träume von dem toten Baby, einem Jungen.

    Wir wurden in der Nacht davor wach, weil Mama so stöhnte. Vielleicht erinnere ich mich deshalb noch daran. Sie schlurfte schreiend in die Diele, und Daddy rannte hinter ihr her und brüllte sie an. Ich hatte bis dahin noch nie Angst in Daddys Stimme gehört. Mama schrie, dass sie wieder den Geist des toten Babys gesehen hätte, der sie nicht in Ruhe lassen wollte. Und sie heulte und schrie, bis Daddy sie schlug, damit sie ruhig war, und sie dann ganz erschöpft wieder ins Bett brachte.

    An jenem Tag, als Nora und Otis in der Schule waren, erzählte mir Mama von den Träumen. Der kleine Junge lag unter dem Haus und weinte. Zuerst hörte es sich an wie eine Katze, aber dann merkte sie, dass er an den Bodendielen kratzte, und sie wusste, er versuchte, ins Haus hereinzukommen, um sich aufzuwärmen. Sie erzählte mir das, während sie am Fenster stand und den Schuppen anstarrte, sie wünschte, sie könnte durch die Wände hindurchsehen.

    Sie erzählte mir, sie hätte den Geist des Babys schon einmal gesehen, wie er über ihrem Bett in der Luft schwebte. Nach ihrer Beschreibung hatte ein Engel das Baby in Windeln gewickelt.

    Meistens aßen wir zu Mittag Brötchen. Da hatten wir es besser als diejenigen unserer Geschwister, die zur Schule gingen. Die bekamen nichts zu essen mit und hatten nicht viel zu erwarten, wenn sie nach Hause kamen. Nachmittags kochte Mama Bohnen, wenn wir Bohnen hatten. Wenn wir eine Zwiebel hatten, schnitt sie sie in die Bohnen. Wenn sie es geschafft hatte, einen Klecks Baconfett vom Wochenende aufzuheben (falls es Bacon gegeben hatte), tat sie auch das in den Topf. An Fleisch aßen wir Rückenspeck, Pökelfleisch, Schweinshaxe, wenn wir welche bekamen, aus dem kleinen Laden oder von einer Tante oder einem Onkel. Mama aß manchmal Schmalz zum Brötchen, manchmal Sirup. Tagsüber sammelte sie Feuerholz, während wir draußen herumrannten. Sie ließ sich dabei Zeit, und manchmal brauchte sie den größten Teil des Nachmittags, um genug zusammenzubekommen. Ich war noch zu klein, um Holz zu tragen, aber ich hatte die Aufgabe, auf Joe Robbie aufzupassen und ihm zu bringen, was er brauchte. Selbst in meinen frühesten Erinnerungen sorge ich für ihn.

    Daddy schlenderte herein und hinaus. Er spielte mit dem Eselsgeschirr herum, tat so, als reparierte er es. Er ging aufs Feld hinaus, seinen Strohhut in der Hand.

    Wir schuldeten dem Landbesitzer Geld. Mama sagte das gern, zu mir und Joe Robbie. Wir schuldeten Mr James so viel Geld, sagte sie, dass er uns verjagen würde. Daddy weigerte sich, eine andere Arbeit zu tun. Durchs Fenster betrachtete sie Daddys Spinnenfigur auf dem Feld. Er will nicht arbeiten gehen, um seinen Kopf zu retten oder meinen, sagte sie. Seinen Kopf oder meinen. Sie neigte dazu, Worte zu wiederholen, als wäre sie ihr eigenes Echo. Ihre Sätze versickerten, als wären die Worte dünn und verebbten bald.

    Der tote Fuchs

    Daddy stand vor dem Weihnachtsbaum und blinzelte, als wüsste er nicht, was das sein sollte. Das Feuer fauchte hinter ihm. Sein Schatten umschloss die Flammen, die Arme hielt er auf dem Rücken.

    Er hatte einen Tabakpriem im Mund. Gleich würde er spucken. Aber noch kaute er wie eine Kuh, mit rollenden Kieferbewegungen. Verträumten Augen.

    Ich stand neben Nora. Carl Jr. hockte zwischen Daddy und uns am Feuer. Nora und ich hielten uns am Rand der Wärme.

    Daddy spuckte ins Feuer, dass die Glut zischte. »Deine Mama wollte also einen Scheißbaum.«

    Carl Jr. rollte eine Zigarette auf dem Boden. »Ist doch nichts Schlimmes an einem Baum, Daddy. Die Kleinen hatten noch nie einen.«

    »Sie beschämt mich.«

    »Nein, Daddy, das stimmt nicht.«

    Nach langem Schweigen, angesichts von Daddys leerem Starren, fluchte Carl

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