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Lob der Trägheit: gefolgt von Die Panikveteranen - Zwei Erzählungen
Lob der Trägheit: gefolgt von Die Panikveteranen - Zwei Erzählungen
Lob der Trägheit: gefolgt von Die Panikveteranen - Zwei Erzählungen
eBook106 Seiten1 Stunde

Lob der Trägheit: gefolgt von Die Panikveteranen - Zwei Erzählungen

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Über dieses E-Book

Es ist das Buenos Aires der kleinen Leute. Ihr Viertel, das Boedo, ist ihre Welt. In kontemplativer Muße verbringen Andrés und Roli ihren Alltag aus Nichtstun, Kino und Drogen. Andere würden es eine vergeudete Jugend nennen, so ganz ohne die Insignien eines "geordneten Lebens". Nur sie allein wissen, dass sie erst hieraus die Kraft schöpfen, immer weiterzumachen, mitten in der Ödnis
der Metropole.
Einfühlsam, melancholisch und in starken Bildern erzählt Fabián Casas von flüchtigen Existenzen, Freundschaften und ihrem Stadtviertel, der Keimzelle ihrer Solidarität.
SpracheDeutsch
HerausgeberRotbuch Verlag
Erscheinungsdatum22. Jan. 2013
ISBN9783867895224
Lob der Trägheit: gefolgt von Die Panikveteranen - Zwei Erzählungen

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    Buchvorschau

    Lob der Trägheit - Fabian Casas

    FABIÁN CASAS

    Lob der Trägheit

    gefolgt von

    Die Panikveteranen

    Zwei Erzählungen

    Aus dem argentinischen Spanisch

    von Timo Berger

    ROTBUCH VERLAG

    Die Übersetzung wurde gefördert

    durch die Fundación TyPA.

    eISBN: 978-3-86789-522-4

    Deutsche Erstausgabe, 1. Auflage

    © 2010 by Rotbuch Verlag, Berlin

    Titel der Originalausgabe: »Ocio seguido de Veteranos del pánico«

    © 2006 (2000, 2005) by Santiago Arcos editor, Buenos Aires

    Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

    Umschlagabbildung: Veer

    Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:

    Rotbuch Verlag GmbH

    Alexanderstr. 1

    10178 Berlin

    Tel. 01805/30 99 99

    (0,14 Euro/Min., Mobil max. 0,42 Euro/Min.)

    www.rotbuch.de

    In the end, every hypochondriac is his own prophet

    ROBERT LOWELL

    Inhalt

    Lob der Trägheit

    Die Panikveteranen

    Lob der Trägheit

    Für Lalu

    Es ist sechs Uhr abends, und es wird schon dunkel. Ich liege in meinem Zimmer und höre Abbey Road von den Beatles. Ich höre vor allem die B-Seite. Die mag ich. Sie besteht aus einer Handvoll Songs, die ineinander übergehen, oder vielmehr aus einer Anfangsmelodie, die sich nach und nach verändert. Die Beatles, die waren wirklich groß. Das kann ich mit Sicherheit sagen. Es gibt nicht viel anderes, das ich mit Sicherheit sagen kann. Ich kann allenfalls ein paar Dinge aufschreiben, zitieren, Zeitpunkte festhalten. Zum Beispiel: Der Sommer hat sich unglaublich lange hingezogen. Eine schreckliche, schwüle Hitze, feuchtes Bettzeug, zerknickte Zigaretten und überall Gestank.

    Aber jetzt befinde ich mich oder befinden wir uns – wenn irgendjemand außerhalb dieses Zimmers noch am Leben ist – mitten im Winter. Die Dunkelheit bricht herein: Es ist fast Nacht. Ich stelle mir eine Familie rund um den Esstisch vor, alles ist fertig für das Abendessen, der Kamin angezündet, die Holzscheite verbrennen mit einem satten Knistern. Die Routinen des Sommers sind bis zum nächsten Jahr eingemottet.

    Aber bei mir nicht: Ich gebe mich schon seit Monaten der Muße hin. Ich esse, scheiße, schlafe; ich bin eine Biologie ohne Ziel.

    Ich stehe auf. Lege noch einmal die B-Seite von Abbey Road auf. Schenke mir Kaffee nach; obwohl ich den überhaupt nicht mehr schmecke, weil ich den ganzen Nachmittag Kaffee getrunken habe. Was ich aber spüre, sind ein innerer Druck auf den Augen und Wunden im Mund, genau unter der Zunge. Ich lege mich wieder ins Bett.

    Gestern habe ich fast genau das Gleiche gemacht. Ich bin mittags aufgestanden und habe mit meinem Alten und meinem Bruder gegessen. Es war Sonntag, und beide waren zu Hause. Dann ging ich auf die Terrasse rauf, eine Zigarette rauchen. Weil die Sonnenstrahlen aber nicht wärmten, ging ich schnell wieder in die Küche runter, machte mir einen Kaffee und ging auf mein Zimmer, um Abbey Road von den Beatles zu hören. Unten im überdachten Innenhof streifte mein Alter im Pyjama herum. Er war in den vergangenen Monaten ungefähr eine Million Jahre älter geworden. Ich betrachtete ihn durch die Schlitze der Fensterläden von meinem Zimmer aus. Er heftete Zeitschriften in den zugehörigen Sammelordnern ab. Er kauft immer unendlich viele Illustrierte mit Beilagen über Pferde, Okkultismus, Geschichte oder Enthaarung mit schwarzem Wachs; oben auf der Terrasse steht ein ganzes Zimmer voll mit Zeitschriften. »Eines Tages«, sagte meine Alte, »werden wir so viele davon haben, dass für uns kein Platz bleibt.« Die Zeitschriften und Fußball sind seine großen Leidenschaften. Früher, als er noch sehr jung war, ging er auf die Schauspielschule. Es heißt, er habe es so weit gebracht, dass er mit einer unabhängigen Theatertruppe durchs Land zog. Bis ich auf die Welt kam, und drei Jahre später mein Bruder. Damals hörte mein Alter auf, Theater zu machen, und wurde Schauspielagent. Es lief gut: Er entdeckte einen Komiker, der heute sehr berühmt ist, und kaufte sich dieses Haus, das Auto und eine Hi-Fi-Anlage. Doch mein Alter führt ein sehr beschränktes Leben. Da er keinen Führerschein hat, fährt mein Bruder das Auto; der arbeitet und hat Geld für den Sprit. Das Auto ist so gesehen eine überflüssige Leidenschaft meines Alten. Ich benutze es trotzdem manchmal. Wenn mein Bruder schläft oder ausgegangen ist und es dagelassen hat, dann sehe ich nach, ob noch Benzin im Tank ist, und drehe ein paar langsame Runden, bis der Zeiger in den roten Bereich sinkt. Man könnte sagen, ich verfahre die Zeit, die mein Bruder nicht nutzen will. Und das ist gut so. Autofahren beruhigt mich. Ich bin kein Raser, es macht mir keinen Spaß, eine kreischende Vollbremsung hinzulegen, nur damit sonst welche Idioten zu mir rüberschauen. Ich gleite lieber sanft durch die nächtliche Stadt, betrachte die wenigen Menschen, die um diese Uhrzeit noch über die Straßen gehen, und denke, während ich an der Ampel warte, irgendeinen Schwachsinn.

    Mein Alter, mein Bruder und ich, wir leben jeder für sich in unterschiedlichen Zonen; wir sind so weit voneinander entfernt wie Planeten. Meine Alte war die Kreuzung, an der wir uns alle trafen. Sie war der Motor, den jede Familie braucht; denn ohne ihn offenbart sich der Stillstand, der eintritt, wenn mehrere Personen allein aufgrund einer biologischen Order zusammenbleiben.

    Meine Mama starb im Mai 1985 an einem Anfall von Bluthochdruck. Sie lag eine Woche in der Klinik des Sozialwerks meines Papas im Koma. An dem Abend, als wir von der Beerdigung nach Hause kamen, stieg ich auf die Terrasse, um noch einen Kaffee zu trinken. Es war ziemlich kalt und der Himmel erschreckend klar. Vom Sternenhimmel wird mir immer schwindelig, aber in jener Nacht gelang es mir nicht, meinen Blick abzuwenden. Ich starrte ihn so lange an, bis mir der Vollmond wie ein Loch vorkam, durch das man in aller Deutlichkeit sah, was uns sonst verborgen blieb.

    Wenn ich einigen Abschnitten meines Lebens ein Etikett verpassen müsste, dann wäre meine Kindheit Die Scholastik meines Alten und meine Adoleszenz Das Reich der Sinne. Darauf würde der Teil folgen, in dem ich mich immer noch befinde; eine ungefähre Mischung aus Jugend und Adoleszenz, die ich nicht überwinden kann. Der Ausweg bestünde eigentlich darin, endlich arbeiten zu gehen. Eine feste Arbeit verleiht dir einen regelmäßigen Tagesablauf, und du steigst im Ansehen deiner Familienangehörigen. Während meiner Adoleszenz hatten mir Freunde meines Alten hin und wieder Jobs vermittelt. Für meine ganze Familie, sogar meine entfernt verwandten Cousins, war mein Alter immer eine Art Arbeitsagentur. Allerdings zerstritt ich mich mit allen Freunden meines Alten und verlor eine Arbeit nach der anderen. Unterdessen hatte ich die Oberschule abgeschlossen und schrieb mich an der Philosophischen Fakultät ein. Ich studierte drei Jahre und ging zwei auf Reisen. Kurze Zeit nachdem ich wiedergekommen war, starb meine Mama, und meine Familie löste sich auf. Das heißt, wir lebten zwar weiterhin unter demselben Dach, aber jeder Einzelne von uns ging in seiner Zone einer Handvoll Gewohnheiten nach, mehr aus Trägheit als aus echter Überzeugung.

    Mein Bruder lebt auf einer Insel. Er steht um acht Uhr morgens auf, macht sich Frühstück und geht arbeiten. Er kommt um sieben Uhr abends nach Hause. Und dann setzt er sich vor den Fernseher. Wirft seine schmutzige Wäsche in einen Korb und duscht sich. Er geht fast immer zwei, drei Stunden auf die Piste, kommt zum Abendessen wieder, sieht ein wenig fern und geht dann ins Bett. Manchmal nimmt er sich ein paar Trauben mit auf sein Zimmer. Manchmal wechseln wir Floskeln wie »Möchtest du einen Kaffee?« oder »Wie hat San Lorenzo gespielt?«. Aber nie mehr als das.

    Auf der Insel gegenüber lebt mein Alter. Ein Nachtmensch, ein Typ aus dem Showbusiness. Nach dem Abendessen verlässt er für gewöhnlich das Haus und kommt erst um sechs Uhr morgens wieder. Und wenn er aus irgendeinem Grund nicht ausgeht, dann streift er dieselbe Zeit lang durchs Haus und räumt Bücher ein, sortiert Fotos; das Radio ist bis zum Anschlag aufgedreht, als lebte er allein auf den Gipfeln des Himalaja. Zu seiner Verteidigung muss ich sagen, dass er immer ein reinlicher und ordentlicher Mensch gewesen ist. Er räumte mein Spielzeug auf, den Kleiderschrank, meine Bücher,

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