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Im Abseits: Eine Wendegeschichte
Im Abseits: Eine Wendegeschichte
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eBook147 Seiten1 Stunde

Im Abseits: Eine Wendegeschichte

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Über dieses E-Book

Im Sommer 2009 wird Klaus Bertram nach fast acht Jahren aus einer JVA in Ostbrandenburg entlassen. Es ist die letzte Nacht.
Er erlebt noch einmal sein bisheriges Leben, das wie ein Film vor ihm abläuft: von der Einschulung in Ost-Berlin bis zum bitteren vorläufigen Ende im Strafvollzug. Eine Achterbahnfahrt, meistens nur bergab, geprägt von schweren, persönlichen traumatischen Erlebnissen, aber auch der Sehnsucht nach Glück, Familie und der großen Liebe. Ein Weg, gezeichnet von Drogen, Alkohol, Gewalt und Kriminalität.
Noch einmal wird, für den in der Zwischenzeit 29-Jährigen, auch das Versagen der staatlichen Hilfe deutlich; von der Hauptschule über die Arbeitsagentur bis hin zu den freien Trägern der Jugendarbeit. Keiner stoppt die Talfahrt des Klaus Bertram. Nur einer hört seine Hilferufe.
Erst in der JVA bekommt er Unterstützung und die Chance für einen Neubeginn, aber zu welchem Preis?
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum22. Juni 2017
ISBN9783744840170
Im Abseits: Eine Wendegeschichte
Autor

Ernst Michael Schwarz

Ernst Michael Schwarz war nach 1989 über zwanzig Jahre in unterschiedlichen pädagogischen Funktionen, einschließlich Leitungstätigkeiten bei freien Trägern der Schul- und Sozialarbeit in NRW, Brandenburg und Berlin tätig. Der Autor erlebte verschiedene Schicksale in seiner täglichen Arbeit und hat versucht, am Beispiel des Werdeganges von Klaus Bertram, eines Kindes der Wendegeneration, der "dritten Generation - Ost", diesen Zeitabschnitt darzustellen. Vieles wirkt bis heute nach, einiges scheint überwunden. Ernst Michael Schwarz lebt heute als freier Autor in Berlin.

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    Buchvorschau

    Im Abseits - Ernst Michael Schwarz

    Kohlhase

    Kapitel 1

    Heute wurde die Tür nicht abgeschlossen. Es war die letzte Nacht in der Justizvollzugsanstalt (JVA) am Rande des Oderbruchs. Morgen werde ich nach acht Jahren die „Anstalt, wie sie von uns Insassen genannt wird, verlassen, ebenso die gleichnamige Stadt am Oderbruch, ca. 60 km nordöstlich von Berlin gelegen. Alles vorbei und nächsten Monat werde ich neunundzwanzig Jahre alt, viel zu alt für die „Anstalt, aber ich durfte meine Jugendstrafe hier absitzen und darüber war ich dankbar und froh.

    *

    Gestern hatte es noch ein ausführliches Gespräch mit dem Anstaltsleiter gegeben. Von einer Chance, der letzten, sprach er, der guten Entwicklung, die ich genommen hätte usw. Dann gab es noch die Zeugnisse, Papiere, Zertifikate und den Personalausweis nebst Reisepass.

      „So, Herr Bertram, jetzt sind Sie ein freier Mann, ein sehr guter Tischler und ausgestattet mit allem, was Sie für ein Leben in Freiheit brauchen. Ich wünsche Ihnen alles Gute und will Sie hier nie mehr wiedersehen."  

      Rita, meine Psychologin, saß die ganze Zeit daneben und sagte kein Wort. Sie war es, der ich eigentlich alles zu verdanken hatte. Am Schluss der Verabschiedung umarmte sie mich, das war noch nie vorgekommen, sie war ja auch nur drei Jahre älter als ich.

      „Du schaffst es!", mehr brachte sie nicht raus. Da sah ich etwas Feuchtes in ihren Augen, die mir in all den Jahren so viel Hoffnung gaben.

      Es fand auch noch ein Abschiedsessen mit allen statt, die sich in den Jahren mit mir ärgern und freuen durften. So war das bei jeder Entlassung. Man nahm es eigentlich nicht so richtig wahr und trotzdem gehörte es zur Zeremonie der Anstalt.

      Am schwersten war die Verabschiedung von den Kumpels.

      Da war Dimitri aus Kasachstan, der nie nach Deutschland wollte, aber mit den Eltern einreisen musste. Jetzt war er schon drei Jahre hier und inzwischen volljährig mit Schulabschluss, er würde wohl wieder zurück in die alte Heimat gehen.

      Dann Ali, der Türke, der eigentlich Demir hieß, aber für alle war er Ali, der Türke, das war in der Anstalt keine Diskriminierung, so war das üblich. Ali war von seiner Familie verstoßen worden, da er die Familienehre in den Schmutz gezogen hatte. Noch zwei Jahre musste er hier bleiben.

      Zwei Stunden saß ich in der Cafeteria mit meinem besten Kumpel, dem dicken Fritz, zusammen. Das war der schwerste Abschied.

      Man muss wissen: Das war ein Abschied für immer. Ein Wiedersehen würde es nicht geben, mit nichts und niemandem. Wer die Anstalt verließ, ging in ein neues Leben. Das war uns immer wieder beigebracht worden. Neuanfang ohne Wenn und Aber, sonst war man bald wieder hier oder in einer anderen JVA.  

      Eigentlich war ich sicher gewesen, mein bisschen Zeugs schnell zusammengepackt zu haben. Aber es war dann doch mehr als gedacht. Bücher, Persönliches, Alfred, der Teddy, Wäsche und die Bilder: Oma und ich vor Jahren im Zoo, Karin, meine Schwester, 1995 am Ostbahnhof, als sie für immer Berlin verließ. Ein Foto mit Mama, Papa und Karin 1987 am Roten Rathaus in Ostberlin. Da ich schon eine Adresse und eine Wohnung besaß, konnte ich alles in Pakete verstauen, selbst zur Post bringen und würde morgen nur mit einer Reisetasche die Anstalt verlassen.

    *

    Nun war also die letzte Nacht gekommen. An schlafen war nicht zu denken. Ich lag auf meinem Bett, starrte an die Decke und versuchte noch mal mein bis dahin „weggeworfenes Leben, so die Psychologen, zu überdenken. Über diese Äußerung gab es immer wieder Streit mit den „Psychos, und es stimmte ja auch nicht. Da waren nicht nur die letzten acht Jahre, da waren auch die Kindheit und frühe Jugend, als wir noch eine richtige Familie waren, die erste große Liebe und vieles mehr.

      Jetzt war es dunkel geworden und ganz langsam begann mein bisheriges Leben wie ein Film abzulaufen, wie im Kino, aber was das Tollste war: Ich war nicht der Hauptdarsteller, ich saß in der Loge, gewissermaßen als Ehrengast.

    Kapitel 2

    Es war der letzte Samstag im August 1987 und ich erinnere mich noch ganz genau. Ich war furchtbar aufgeregt und hielt mich an Papas Hand fest. Wir standen alle vor der neuen Grundschule in Marzahn. Die Pioniere nahmen Aufstellung und sangen irgendetwas von „Meiner Heimat …" oder so. Danach gingen wir alle in unser Schulgebäude, erst in die Aula, dann in unsere Klassenzimmer. Da konnte ich mich dann nicht mehr bei Papa festhalten. Wir waren alleine mit Frau Aderhold, unserer Klassenlehrerin. Eigentlich kannte ich das ja alles schon, denn vor fast vier Jahren war meine Schwester in die Schule gekommen, jetzt war sie schon in der vierten Klasse. Aber jetzt war ich selber dran und das war schon was ganz anderes.

      In der Aula sang der Chor noch einmal und der Direktor hielt eine Rede von einer blühenden Zukunft im Sozialismus und dem Lernen. Ja, lernen wollte ich, alles wissen und mal Bauarbeiter werden, wie Papa. Draußen an der Tür des Klassenzimmers war ein großer Apfel angebracht. Frau Aderhold erklärte uns:

      „So findet ihr euer Klassenzimmer immer, und wenn ihr dann die Zahlen könnt, kommt der Apfel wieder weg."

      Wir durften uns unseren Platz selber suchen, und da sich die meisten aus dem Kindergarten kannten, war das kein Problem. Mein Nachbar war Peter. Das war toll, denn der wohnte in unserem Haus. Sein Papa war irgendwas mit Polizei oder so, aber eine Uniform hatte der nie an. Papa nannte ihn manchmal „Schnüffler, darauf sagte jedoch Mama gleich: „Erwin, nicht vor dem Jungen!

      Das interessierte mich an diesem Tag überhaupt nicht. Ich war stolz, endlich ein Schulkind zu sein und im Mittelpunkt zu stehen.

      Draußen vor der Schule standen alle Eltern mit den riesigen Schultüten. Ich bekam zwei, eine von Oma und eine von meinen Eltern. Tragen konnte ich sie nicht, aber Oma und Papa halfen. Mama stand wie immer etwas abseits und sah traurig aus. Das merkte ich damals nicht, aber es sollte immer so bleiben.

      Anschließend ging es in die Wohngebietsgaststätte im Dienstleitungswürfel. Papa war dort Stammgast und Bauarbeiter, also bekamen wir einen Tisch.

      „Siehste, Klaus, lerne ordentlich und werde was Vernünftiges, dann bekommste alles in dem Land."

      Was ich damals nicht wusste: Unser Tisch war zwei Sack Zement und Kalk wert. Auch Peter und seine Eltern bekamen einen Tisch. Komisch, dachte ich, sein Papa ist doch gar nicht auf dem Bau. Es war ein toller Tag und deshalb ist er mir auch so gut im Gedächtnis geblieben.

      Heute kommen noch andere Bilder hinzu. Papa trank wieder mal zu viel und brüllte am Abend zuhause rum, Mama weinte und Oma verließ wütend die Wohnung. Wir Kinder verzogen uns dann immer in unsere Zimmer und bekamen daher wenig mit. Was wir damals noch nicht wissen konnten: Es sollte alles noch viel schlimmer werden. Aber so weit war es noch nicht.

      Schule war toll. Dank meiner Schwester kam ich mit dem Lernen gut voran. Sie half mir bei den Hausaufgaben, denn Papa und Mama waren von früh bis spät auf Arbeit. Mama kam immer etwas eher als Papa heim, musste dafür aber früher raus. Sie arbeitete in der großen Brauerei, nicht weit von zuhause entfernt, in der Küche. Papa war auf verschiedenen Baustellen in Berlin unterwegs. Meine Schwester brauchte keine Hilfe in der Schule und – so lange ich meine Schwester hatte – ich auch nicht. Sie war die Klassenbeste und sollte auf die EOS. Das wollte ich nicht, denn ich würde ja Bauarbeiter werden, wie Papa. An den Wochenenden waren wir viel bei Oma und sie fuhr dann mit uns in den Tierpark, den Pionierpalast oder den Plänterwald. Heute weiß ich auch, warum.

      Papa war noch kein Alkoholiker, aber es wurde immer schlimmer. Durch die schwere körperliche Arbeit merkte kaum jemand etwas. Mama wurde immer ruhiger und trauriger, aber auch das störte uns nicht besonders. Wir waren so in der Schule eingebunden, dass wir nie Zeit hatten. Bis 1990 fuhren wir im Sommer ins Ferienlager. Eine tolle Zeit.  

      Heute ist mir allerdings vieles klarer. Es war Oma, die uns abschirmte und wann immer es ging den Eltern entzog. Neben meiner Schwester sollte auch Oma der wichtigste Mensch in meinem Leben werden.

      Dann kam der 09. November 1989. Ich war in der dritten Klasse und meine Schwester auf der EOS in Berlin. Sie wohnte jetzt bei Oma und hatte es nur fünf Minuten bis zur Schule. Papa kam an diesem Tag zeitiger nach Hause, völlig nüchtern. Er sagte nur, er wolle Mama abholen. Es läge irgendwas in der Luft und so könne es nicht weitergehen.

      „Ich muss noch zum Sport, bringst du mich?"

      So fuhr mich Papa mit unserem klapprigen Trabbi zur Sporthalle. Wieder war ich stolz auf ihn. Vor der Halle traf ich Peter.

      „Mein Papa war schon drei Wochen nicht zuhause. Mama weint jeden Abend, darf ich heute bei dir bleiben?"

      „Na klar, meine Alten sind eh nicht da. Da können wir schön lange fernsehen."

      Peter war oft bei uns über Nacht und ich auch bei ihm, obwohl Papa das nicht wollte.

      Was wir dann am Abend im Fernsehen sahen, verstanden wir zwar als neunjährige Steppkes noch nicht, aber dass da gerade etwas passierte, war uns schon klar. Wir schliefen vor dem Fernseher ein. Es muss gegen Morgen gewesen sein, als Papa und Mama kamen und Papa uns ins Bett

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