Die kleine Dolmetscherin
Von Seyhan Derin
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Buchvorschau
Die kleine Dolmetscherin - Seyhan Derin
Festivals
Kapitel 1
Ein trostloser Ort, eine Cafeteria eines deutschen Amtsgerichtsgebäudes in einer Kleinstadt. Wir, meine ältere Schwester Aylin, meine jüngere Schwester Suna und ich, sollen mit den drei Jugendamtsdamen auf das Ergebnis der Verhandlung warten, die gerade ein paar Etagen weiter oben stattfindet. Meinen Eltern wird das Sorgerecht streitig gemacht. Nach 10 Jahren Deutschland wollten sie uns in die Türkei zurückbringen. In die Fremde, für uns. In die Heimat für meine Eltern.
Der Richter steht plötzlich vor uns. Wir müssten, anders als er es uns versprochen hat, doch unseren Eltern gegenüber gestellt werden.
„Nein!, sagt meine Schwester Suna, „Sie müssen ihr Wort halten!
„Sonst kann ich keine Entscheidung treffen!", antwortet der Richter freundlich.
Suna bleibt bockig sitzen. Mein Blick wandert von meiner älteren Schwester über die Jugendamtsdamen zum Richter. Ich schaue ihn an. Lange.
Ich heiße Elif. Gedankenversunken blicke ich zurück.
Ich wusste es. Zwar nicht woher, aber ich wusste es. Was meine Eltern da von mir verlangten, war falsch. Eine innere Stimme sagte das genau. Meine verwirrten Gefühle deuteten das ebenso an.
Ich war gerade vier Jahre alt und verstand meine Eltern nicht. Auf unserem grünen Hügel kniete ich im hohen Gras, unser kleines Häuschen in meinem Rücken, das Tal, die gegenüberliegenden Berge, alles vor mir. Die Schönheit der Natur übersah ich in dem Moment dennoch nicht. Ich fragte den höchsten Berg, warum meine Eltern so etwas Fremdes von mir verlangten, etwas, dass mir nicht entsprach.
Wahrscheinlich war dies die erste Entfremdung.
Voller Elan baute mein Vater unser Haus. Es sollte noch ein zweites Stockwerk dazukommen.
„Das wird dann im Winter wärmer sein als unten!", sprach er.
Merkwürdig. Erst war er lange nicht da und jetzt verbrachte er seine ganze Zeit mit dem Haus. Mit dem Geld aus Deutschland, „hart erarbeitet im Bergbau, wie er zu sagen pflegte, hatte er das Baumaterial gekauft. Wir Kinder spielten stets in der Nähe. Dieses „Tak, tak!
, das Geräusch des Bauens, drang in unsere Ohren. Beruhigend.
Mein geliebter Papa stellte sich vor uns. Seine drei Mädchen lächelten ihn an. Er bat meine älteste Schwester Aylin zum Großvater zu gehen und ein bestimmtes Handwerkzeug mit einem lustigen Namen, den ich vorher noch nie gehört hatte, auszuleihen. Mein Großvater sei ein Tyrann, sagten alle. Ich hatte ihn noch nie gesehen. Papa redete nicht mit ihm. Keine Ahnung warum. Meine Schwester schaute den Hügel runter, auf das Haus, das große mit dem Flachdach, und jammerte:
Bitte Papa, nicht!
Papa sah zu meiner zweiten Schwester. Selma gab sofort ihre Angst zu. Noch bevor er mich anschaute, rief ich:
„Ich kann doch!".
Nachdenklich schaute mein Vater den Hügel hinunter, in das Tal.
„Du findest den Weg sicher nicht!" brummte er.
„Aber klar, da ist doch das Haus und den Weg bin ich schon oft gegangen. Was willst du mit diesem Gerät denn machen?!"
„Beton zwischen die Steine tun, damit sie nicht auseinanderfallen!"
„Aha!" staunte ich.
Papa schaute mich an, verständnisvoll..
„Nein mein Kind, Du bist noch zu klein! Du gehst nicht!"
Und ging einfach weg.
Ich war nicht zu klein, ich wusste was falsch und richtig war. Also schlich ich mich davon und wanderte den Hügel hinunter.
Es dauerte eine Weile, bis ich vor diesem Holztor stand, das geschlossen war. Wie es wohl dahinter aussah? Ich klopfte. Lange passierte nichts. Ich klopfte lauter, mit meinen kleinen Fäusten. Plötzlich hörte ich ein Knarren. Das Tor ging auf. Männerbeine vor mir. Mein Blick wanderte weiter nach oben und landete in einem alten Gesicht, das zu mir herabschaute.
„Was willst Du?" begann er.
„Mein Papa braucht ein Werkzeug, ich hab’ den Namen vergessen, aber er will damit Beton zwischen die Steine tun, damit sie aufeinander bleiben."
„Soso!" erwiderte er knapp mit sonorer Stimme.
„Ja! Kannst du es uns leihen, dieses Ding?", fragte ich mutig.
Das Gesicht schaute mich ernst an, ich schaute ernst zurück. Dann lächelte es.
„Na, dann gehen wir mal dieses Ding suchen!"
Arme griffen nach mir und hoben mich in die Luft. So schleppte mein Großvater mich in seine Werkstatt. Freundlich fragte er mich, wie es mit dem Haus voranging. Voller Stolz erzählte ich, wie schnell und gut Papa das Haus baute.
Warum meine Schwestern wohl Angst vor diesem netten Mann hatten?
Es war Winter, es schneite. Aus dem Schornstein des einzigen Hauses in diesem Tal stieg Rauch. Ein friedliches, gemütliches Bild. Plötzlich wurde eine Tür aufgerissen und eine junge Frau mit voller Wucht rausgeschmissen. Sie fiel auf den frischen unberührten Schnee.
„Geh’ doch deinem Mann hinterher! Wenn er glaubt, dich und seine Bastarde hier lassen zu können, hat er sich geirrt!"
Der Mann war mein Großvater, die junge Frau meine Mutter, in deren Bauch ich noch ganz winzig war, noch nicht überlebensreif. Meine Schwestern liefen weinend zu ihr und versteckten sich hinter ihrem langen Rock.
Die Tür knallte wieder zu.
Mein Onkel, der jüngere Bruder meines Vaters, holte den Ochsenkarren und spannte ihn an. Meine Mutter und meine Schwestern setzten sich mit den wenigen Habseligkeiten darauf und fuhren in das nächste Dorf. Das Quietschen der Eisenräder durchbrach die Stille der Schneelandschaft. Einen Hügel hoch und wieder runter, einen zweiten hoch und dann waren sie da. Eine alte Frau schloss ihnen ein kleines Haus auf, es war kalt und feucht darin. Sie half meiner Mutter, Feuer zu machen, während andere junge Frauen Matratzen und Decken brachten. Es war das Gästehaus des Dorfes „Cavuslar". In diesem kleinen Kaminzimmer kam ich zur Welt und meinen Vater lernte ich erst sehr viel später kennen.
Er wollte mir den Namen einer früheren Liebe geben, aber Mutter hatte es nicht angenommen. Also ließ er den Flussnamen aus der Stadt seiner Verflossenen in meine Geburtsurkunde eintragen, als er mich zwei Jahre später anmeldete. Zwei Jahre hatte ich offiziell nicht existiert, dennoch schon viel erlebt.
Warum mein Großvater meine Mutter rausgeworfen hatte?
Die älteste Schwester meines Vaters liebte seinen besten Freund. Sie wollten heiraten, doch Großvater war dagegen. Liebende gehörten nun mal zusammen, dachte sich mein Vater, verhalf seiner Schwester zur Flucht und reiste gleich weiter zum Militärdienst. Die Wut meines Großvaters musste sich entladen, irgendwie, und fand einzig meine verlassene Mutter, die nun im Nachbardorf untergekommen war. So dauerte es noch einige Jahre bis zu dem Moment mit dem Werkzeug, bis ich endlich meinem berüchtigten Großvater gegenüber stand.
Oben angekommen ging ich sofort zu meinem Vater und hielt ihm das Werkzeug hin. Erstaunt begriff er, dass ich bei Großvater gewesen war.
„Und wie war er?" fragte er mich neugierig.
„Nett. Er hat mir ein Bonbon geschenkt!" Ich hielt es ihm unter die Nase.
Erschaute überrascht, dann lachte er und wirbelte mich durch die Luft.
„Ich hab’ aber kein Bonbon!"
Er holte Geldmünzen heraus und gab sie mir. Es war mein erstes selbstverdientes Geld.
„Meine Lieblingshose, die mit den bunten Blumen!", schrie ich. Mama war entnervt. Wir fanden meine Hose nicht. Auf dem Dorfplatz sollte ein Foto mit Papa, seinen Freunden und uns gemacht werden, und da wollte ich nicht irgendetwas anziehen. Meine Schwestern und Mama suchten hektisch und wurden von mir tyrannisiert.
„Wenn wir nicht bald losgehen, gibt es gar kein Foto!", schrie Mama zurück.
„Dann bekommst du aber Ärger mit Papa!"
Arme Mama. Sie fluchte und fand endlich meine Hose.
Voller Stolz hielt ich die Hände meines Vaters. Wenn da nicht diese Sonne gewesen wäre, die fürchterlich blendete und mich nach unten schauen ließ, obwohl der Fotograf sagte, wir sollten ihn anschauen. Aber meine blumige Hose gefiel mir. Heute noch.
Meine Mama sah ich kaum. Sie arbeitete von morgens nach Sonnenaufgang bis zum Abend nach Sonnenuntergang. Wenn ich aufwachte war sie meist schon weg und wenn sie abends nach Hause zurückkam, war ich schon längst eingeschlafen, auch wenn ich mir jeden Abend viel Mühe gab, wach zu bleiben. Ich saß mit dem Rücken zur Wand auf unserer Sitzecke. Meine Augen fielen zu, mein Kopfzur Seite, ich wachte auf. Schaute um mich, verstand, wo ich war, aber Mama war noch nicht zurück. Draußen in weiter Ferne jaulten Hunde. Wieder fielen meine Augen zu, wieder die Sache mit meinem Kopf. Irgendwann war er so schwer, dass ich mich hinlegte und dann geschah jedes Mal das gleiche: ich schlief ein.
Am nächsten Tag wachte ich im Bett auf und meine Mutter war schon wieder weg. Falls ich es doch mal schaffte, wach zu bleiben, war sie meist zu müde und kaum ansprechbar. Die einzige Arbeit, die sie in unserer Nähe bekommen konnte, war die Feldarbeit. Es gab keine Maschinen, weder auf den Feldern noch im Haus. Alles musste sie mit ihren Händen erledigen. Es gab noch nicht mal Elektrizität. Öllampen gaben uns das Licht und auch viele Schatten, die mir von merkwürdigen Geistern erzählten.
Vier Mädchen hatte sie. Ihre jüngste Tochter war erst auf die Welt gekommen, als ihr Mann schon längst in der Ferne war, in dem Wunderland Deutschland. Ein Urlaubsgeschenk!
Das kleine Wesen schrie. Mama arbeitete im Garten vor dem Haus. Ich schaukelte es ab und zu in seiner Holzwiege. Babies wurden in diesen Wiegen auf eine ganz bestimmte Art gebunden, damit sie keine Windeln brauchten. Alles lief in einen Behälter unter ihnen, der später geleert wurde. Das Baby schrie lauter, ich stupste wieder die Wiege an. Mehr Schreien, mehr Schaukeln. Und dann, mit einem fürchterlichen Krach, fiel die Wiege um. Urin verteilte sich über dem Fußboden. Das Baby hing in der Wiege seitlich herunter. Voller Schrecken hob ich mit meinen kleinen Händen die Wiege wieder auf. Woher ich wohl in diesem Moment die Kraft dazu hatte? Das Baby lag wieder richtig, aber schrie noch lauter. Hatte sich wahrscheinlich doch sehr erschreckt, meine kleine Schwester. Mama kam und schimpfte mich aus. So erschrocken wie ich selbst auch war, konnte ich gar nichts zu meiner Verteidigung sagen.
Unser Haus stand am Rande eines Waldes auf diesem schönen Hügel. Ein sehr großer Garten davor. Wir spielten gerne draußen, irgendwie war es oft Sommer und selten Winter. Einmal befanden wir uns auf der Wiese und machten eine Art Picknick, ich und meine älteren zwei Schwestern. Das Baby hatte meine Mutter mit der Wiege auf ihren Rücken geschnallt und mitgenommen. Zwei Cousins kamen vorbei. Unsere Urgroßmutter ließ ausrichten, dass wir zum Abendessen zu ihr kommen sollten, Mama würde wohl länger arbeiten müssen. Meine Schwestern packten alles ein, jede griff sich etwas von den Sachen, um sie ins Haus zu tragen. Ich hatte ein Kissen und einen Messerschleifer. Was der wohl bei uns zu suchen hatte?
Zwischen Garten und Haus war eine Fläche mit Kieselsteinen, die musste ich überqueren. In der einen Hand das Kissen, in der anderen dieser Messerschleifer. Und dann passierte es. Die rutschigen Steine unter meinen Füßen nahmen mir den Halt, ich fiel hin und bekam die Spitze des Schleifers ins Auge.
Es tat fürchterlich weh! Ich schrie. Wieder einmal.
Aus Drahtgestell konnte man sich ein kleines Rad an eine Stange binden und damit durch die Gegend rollen. Meine Cousins hatten es mir gebaut, um mich zu trösten. Mit meinem tränenden, schlecht sehenden Auge rollte ich es vor mir her. Ich weinte und sang mir dabei selbst Lieder vor. Bald setzte ich mich erschöpft auf einen Hügel, von dem aus man das ganze Tal und auf die weiten, gegenüberliegende Berge blicken konnte.
Da, hinter diesem einen Berg war irgendwo mein Papa. In meinen Gedanken fragte ich ihn, wann er denn endlich zurückkam. Und da sah ich schon zwei Scheinwerferstrahlen eines Autos sich von oben nach unten schlängeln. Ja, er kam, mein Papa , es dauerte sicher nicht lange und er war hier bei mir.
Mama weckte mich im Morgengrauen. Sie hatte keine gute Laune, ich sollte mich anziehen.
Kleinlaster, die zwei Bänke hatten, fuhren die Menschen aus den Dörfern in die Stadt. Ich saß mit meiner Mama und ihrem Vater, meinem geliebten Dede, im Laster voller fremder Frauen und Männer. Niemand redete, kaum einer schaute sich an, man hörte nur die Fahrgeräusche auf den ungeteerten Straßen. Der Staub, den unser Laster aufwirbelte, verdeckte meist unsere Sicht.
„Erkennst Du deine Mama?"
Was war das für eine blöde Frage? Natürlich erkannte ich meine Mama, ich war doch nicht auf den Kopf gefallen, sie stand doch vor mir!
protestierte ich innerlich.
Meine Mutter war mit mir wegen meinem Auge vorsorglich zu einem Doktor gegangen. Der Arzt war grob, ich mochte ihn nicht, auch wenn er weiß gekleidet war. Die komische Brille auf seinem Kopf imponierte mir gar nicht, ich fand sie lächerlich!
Doch ich hatte Glück. Meinem Auge war fast nicht mehr passiert, als wenn man einen Finger hinein bekam.
Eine der wenigen warmen Momente mit Mama verbrachte ich auf ihrem Schoß. Sie musste mir jeden Tag Tropfen in die Augen träufeln, die mir der Arzt verordnet hatte. Obwohl das nicht gerade angenehm war, setzte ich mich dennoch jedes Mal freiwillig auf ihren Oberschenkel und genoss ihre Fürsorge. Manchmal