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Aftershocks: Über Erschütterungen und Identitätssuche
Aftershocks: Über Erschütterungen und Identitätssuche
Aftershocks: Über Erschütterungen und Identitätssuche
eBook390 Seiten5 Stunden

Aftershocks: Über Erschütterungen und Identitätssuche

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Über dieses E-Book

Tansania, Äthiopien, Italien, Uganda, England. Durch die ständig wechselnden Arbeitsorte ihres Vaters, eines ghanaischen Beamten der Vereinten Nationen, wächst Nadia auf verschiedenen Kontinenten auf. Jeder neue Ort bedeutet für sie: eine neue Sprache, ein neues Zuhause und neue Fragen nach ihrer Identität. Als Nadia zwei Jahre alt ist, kehrt ihre Mutter der Familie den Rücken, ihr Vater stirbt, als sie 13 ist. Von da an leben Nadia und ihre Schwester bei ihrer Stiefmutter, zu der sie ein schwieriges Verhältnis haben.
Auf sich allein gestellt, von den Spuren familiärer Traumata und einem unbeständigen Leben gezeichnet, zieht Nadia als junge Frau nach New York. Sie fühlt sich heimatlos, elternlos und verängstigt, als sie schließlich damit beginnt, die Bruchstücke ihrer Identität zusammenzufügen.
Nadia Owusu erzählt in ihren bewegenden Erinnerungen von ihrer Kindheit, den jungen Erwachsenenjahren und ihrer Familiengeschichte, in die die Folgen von Krieg, Genozid und Kolonialismus tief eingeschrieben sind. Damit sind ihre bewegenden und unglaublich aktuellen Memoiren ein nuanciertes Porträt der Globalisierung aus der Innenperspektive in einer zerrissenen Welt.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum16. Juni 2023
ISBN9783949545177
Aftershocks: Über Erschütterungen und Identitätssuche
Autor

Nadia Owusu

Nadia Owusu, geb. 1981, ist eine ghanaisch-armenisch-amerikanische Schriftstellerin und Stadtplanerin, die in Brooklyn lebt. Ihr Buch Aftershocks wurden unter anderem von Barack Obama, dem Time Magazin, der Vogue und dem Guardian zu einem der besten Bücher des Jahres 2021 gewählt. Außerdem erschienen Texte von ihr bereits in der New York Times, dem Guardian und dem Wall Street Journal.

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    Buchvorschau

    Aftershocks - Nadia Owusu

    Vorbeben

    Vorbeben:

    Ein relativ schwaches Erdbeben, das einem stärkeren um einige Tage oder Wochen vorausgeht und seinen Ursprung im oder um das Hypozentrum des stärkeren Bebens herum hat.

    Anmerkung:

    Für die Begriffe Vorbeben, Hauptbeben und Nachbeben gibt es keine strenge wissenschaftliche Definition. Sie werden verwendet, um die stärkste Erschütterung einer Abfolge von Erdbeben von den vorhergehenden und darauffolgenden zu unterscheiden. Ist ein Nachbeben stärker als das vorhergehende Beben, benennen wir es in Hauptbeben um, die vorherigen Erschütterungen werden somit zu Vorbeben. Die Geschichte wird umgeschrieben. Wir wissen erst im Nachhinein, was wohin gehört.

    Unliebsames Wiedersehen

    Als ich achtundzwanzig war, machte meine Stiefmutter Anabel Urlaub in New York. Zu der Zeit wohnte sie in Pakistan, wo sie für eine UN-Organisation arbeitete. Wir trafen uns in einem Restaurant ein paar Blocks von meiner Wohnung in Chinatown entfernt, aßen Nudelsuppe und tranken Rotwein dazu. An dem Abend sagte mir Anabel, mein Vater sei nicht an Krebs gestorben, wie ich bis dahin geglaubt hatte. Er sei, so behauptete sie, an Aids gestorben.

    Ich weiß nicht mehr, warum weder meine Schwester Yasmeen noch mein Halbbruder Kwame bei dem Essen dabei waren – sie wohnten damals beide in New York. Yasmeen arbeitete hinterm Tresen eines Taco-Ladens in Red Hook. Kwame war im zweiten Collegejahr.

    Mein Vater war vierzehn Jahre zuvor gestorben, wenige Wochen vor meinem vierzehnten Geburtstag. Der Streit, der darin eskalierte, dass Anabel mir sagte, er sei an Aids gestorben, hatte sich an einer Nichtigkeit entfacht:

    »Lass uns nach dem Essen doch noch auf ein Konzert gehen«, schlug Anabel vor.

    »Keine Zeit«, sagte ich. »Ich bin schon mit Freund*innen verabredet.«

    »Aber ich bin deine Mutter und zu Besuch hier«, sagte sie. »Wir sehen uns so selten.«

    Ich zuckte mit den Schultern. Schweigend aßen wir weiter. Dann:

    »Kau anständig«, forderte Anabel mich auf.

    »Ich kaue doch. Entspann dich mal.«

    »Wer ist hier unentspannt? Zeig gefälligst Respekt gegenüber Älteren. Mir gegenüber.«

    »Ich glaub, du bist übergeschnappt

    Ich wusste, dass meine Worte – du bist übergeschnappt – Projektile waren, die ich auf sie abgefeuert hatte. Anabel, das ahnte ich schon, würde in die Luft gehen. Wenn sie eines fürchtete und verachtete, dann war es Wahnsinn, das wusste ich. Vielleicht, weil sie nach dem Tod meines Vaters selbst eine Form davon durchgemacht hatte: eine Depression, hatte ich zumindest den Eindruck gehabt, oder PTBS. Mindestens ein Jahr lang hatte sie die Abende damit verbracht, in ihr Weinglas zu schluchzen. Ihre Launen schwankten zwischen eisigem Schweigen und flammender Wut. In den letzten Jahren hatte sie sich allerdings völlig neu erfunden und war jetzt stets ausgeglichen und unerschütterlich. Sie sprach in gedämpftem, angeekeltem Tonfall von den Zusammenbrüchen, Ängsten und Depressionen anderer. Eine müsse ja stark bleiben, sagte sie oft, und sich nicht unterkriegen lassen. Es helfe niemandem, wenn man in hysterische und krankhafte Zustände verfalle. Sie wolle sich keine Schwäche leisten. Nein, sie sei, das betonte sie immer wieder, glücklich, weil sie sich für ein glückliches Leben entscheide. Und zwar jeden Tag aufs Neue. Wenn ich die Zeit um den Tod meines Vaters ansprach oder nur erwähnte, wie viel besser es uns inzwischen ging, wechselte sie das Thema. Es schien für sie nicht infrage zu kommen, auch nur in Betracht zu ziehen, dass sie noch einmal eine Form von Verrücktheit befallen könnte …

    Ich hatte Anabel noch nie wütender erlebt, als wenn ich sie verrückt oder übergeschnappt nannte. Von Zeit zu Zeit tat ich das, um einen Streit zu gewinnen. Der Gedanke, dass ihr neu erfundenes Ich nicht ganz glaubwürdig sein könnte, schien unerträglich für sie zu sein. Dabei war ihre Maske überzeugend, das musste ich zugeben. Nur jemand, der sie sehr gut kannte, war in der Lage, dahinter zu blicken. Unter der glatten, faltenfreien Haut zuckte unmerklich ein Muskel, staute sich Blut in den Adern.

    In dem chinesischen Restaurant wollte ich Anabel die Maske runterreißen. In aller Öffentlichkeit. Ich wollte sie in die Luft gehen sehen, mit knallrotem Gesicht. Ich wollte sie daran erinnern, wer sie wirklich war. Mich konnte sie nicht täuschen. Als Zielscheibe ihrer Wut wollte ich gelassen wirken, und durch meine Gelassenheit überlegen. Es war nicht so, als hätte es mich sonderlich interessiert, was die anderen Leute im Restaurant von mir oder ihr dachten. Aber ich wusste, dass sie sich von einer öffentlichen Bloßstellung nicht so schnell erholen würde. Immer wieder würde sie die Szene in ihrem Kopf abspulen. Die Erinnerung würde zurückkommen und sie aufregen, wenn sie am wenigsten damit rechnete. Sie würde sich an mein Gesicht erinnern – mein ungerührtes Gesicht. Sie würde sich immer an die strengen Blicke der Fremden erinnern, an ihr Kopfschütteln. Wenn ich es mir recht überlege, hatte mein Drang, Anabel die Maske runterzureißen, nichts mit dem zu tun, was sie sagte. Zwischen Müttern und Töchtern, zwischen Stiefmüttern und Töchtern, entstand leicht so etwas wie eine Abwehrhaltung. Aber zwischen Anabel und mir kippte diese Abwehrhaltung schnell ins Destruktive.

    Statt in die Luft zu gehen, zischte Anabel jedoch durch die zusammengebissenen Zähne:

    »Übergeschnappt? Wie kannst du es wagen? Nach allem, was ich für dich geopfert habe!«

    »Was hast du denn bitte geopfert?«, fragte ich. »Du hast mich doch bloß bei dir behalten, weil du so mehr vom Erbe meines Vaters hattest. Du hast Yasmeen und mir mehr als deutlich gezeigt, dass du uns eigentlich gar nicht wolltest.«

    Ich wusste, dass Anabels Gründe, nach dem Tod unseres Vaters das Sorgerecht für Yasmeen und mich zu übernehmen, komplexer waren. Wollen und Nichtwollen waren sehr wahrscheinlich zwei nebeneinander existierende innere Zustände gewesen. Wahrscheinlich gilt das für viele Eltern – ob leiblich oder nicht. Doch in dem Moment wollte ich ihr wehtun. Diese vereinfachte Darstellung ihrer Motive würde Schaden anrichten. Eine gefühlte Ewigkeit starrte sie mich aus zusammengekniffenen Augen an, mit offen stehendem Mund. Dann verzogen sich mit einem Mal alle Wolken und ihr Blick wurde ruhig, als wäre ihr gerade aufgegangen, was sie sagen musste, um zu gewinnen:

    »Du glaubst auch, dein Vater wäre perfekt gewesen, oder? Er ist nicht an Krebs gestorben. Er war kein Engel. Er ist an Aids gestorben. Und was meinst du, wieso er Aids hatte?«

    Meine Beziehung zu Anabel war immer zerklüfteter Gestalt gewesen. Nachdem ich mit achtzehn nach New York gezogen war, waren wir ohne Erklärungen oder Entschuldigungen mal mehr, mal weniger präsent im Leben der anderen. Vor unserem Essen im chinesischen Restaurant hatten wir uns ein Jahr lang nicht gesprochen. Sie schrieb mich auf Facebook an, um mir zu sagen, dass sie in New York sei; um mir ein Treffen vorzuschlagen. Weder sie noch ich erwähnte das monatelange Schweigen zwischen uns. Zur Begrüßung küssten wir einander auf beide Wangen. Wir machten einander Komplimente für unser Äußeres: ihre Braids, meine Ohrringe. Es hatte keinen besonderen Grund für die Funkstille gegeben. Oder vielmehr gab es ein ganzes Leben voller Gründe, ein ganzes Leben voller unausgesprochener Feindseligkeiten auf beiden Seiten.

    Ich hatte Anabel das erste Mal getroffen, als ich fünf war.

    »Das ist Anabel«, hatte mein Vater nur gesagt. »Wir heiraten.«

    Ich weiß nicht mehr, ob dieses erste Treffen an einem Flughafen stattfand oder in dem Haus in Rom, wo wir eine Familie wurden. Yasmeen und ich waren kurz zuvor zu unserem Vater nach Rom gezogen, nachdem wir zweieinhalb Jahre bei seiner Schwester – Auntie Harriet – in England gewohnt hatten. Anabel sah in meinen Augen aus wie ein Filmstar: groß, dünn und geradezu übernatürlich schön mit ihren hohen Wangenknochen, den vollen Lippen und der großen Lücke zwischen den Schneidezähnen. Ein kleiner Finger hätte bequem dazwischen gepasst. Ich sah die Liebe im Blick meines Vaters, sah, dass sie nicht mir galt, und kochte innerlich. Yasmeens Ausdruck hingegen war offen, voller Hoffnung. Sie sprang auf, umarmte Anabel. Nichts wünschte sich meine Schwester so sehnlich wie eine Mutter. Yasmeen sagte Mommy zu fremden Frauen im Supermarkt, wenn diese sich zu ihr hinunterbeugten und ihr in die Wange kniffen. Sie klammerte sich an unsere Tanten, an die Freundinnen unseres Vaters, sogar an unsere griesgrämige deutsche Nanny. Arme kleine mutterlose Mädchen, nannten uns die Leute.

    Anabel tätschelte Yasmeen den Kopf. Sie sah mich erwartungsvoll an. Ich schlang die Arme um meinen Vater. Anabel runzelte die Stirn.

    Auch ich sehnte mich nach einer Mutter, aber ich glaube, das sichere Wissen, dass ich nie eine haben würde, nicht so wie die anderen Kinder, hatte mich bereits abgehärtet. Mein Vater gehörte jedoch mir, davon war ich überzeugt. Mir und Yasmeen. Ich wollte ihn mit niemandem teilen.

    Aus diesen ersten paar Monaten unseres Zusammenlebens, bevor Anabel meinen Vater heiratete, habe ich Erinnerungen, wie sie mich anfunkelte, wenn ich auf den Schoß meines Vaters kletterte, während die beiden auf dem Sofa saßen und Gin Tonic tranken. Ich weiß noch, wie ich nachts an die Schlafzimmertür klopfte, weil ich Angst vor einem Gewitter hatte. Ich weiß noch, wie sie mir zuflüsterte, ich solle sie in Frieden schlafen lassen. Ich weiß noch, wie sie mir die Tür vor der Nase zumachte. Ich weiß noch, wie Bitterkeit mein Herz erfüllte.

    Es ist möglich, dass ich Anabels Verhalten falsch interpretiert habe, dass ich mich falsch erinnere, dass meine Erinnerungen von dieser Bitterkeit getrübt sind. Oder aber Anabel war kalt mir gegenüber, weil sie spürte, dass ich sie als Konkurrenz empfand. Vielleicht wollte sie ihre Autorität als Frau des Hauses beweisen. Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Mit ziemlich großer Sicherheit kann ich allerdings sagen, dass mein aufmüpfiges Benehmen schlimmer wurde, je näher die Hochzeit rückte.

    An dem Tag, als Yasmeen und ich unsere Blumenmädchenkleider anprobierten, war es am schlimmsten. Die Kleider waren bauschig. Wir sahen aus wie kleine gelbe Zuckerwattebällchen. An unseren Haarbändern prangten riesige Schleifen. Ich war ein Kind, das sich genauso gern im Schlamm wälzte, wie es Prinzessin spielte. Ich liebte Rüschen. Doch ich war fest entschlossen, das Kleid zu hassen. Es sei kratzig, jammerte ich. Anabel ignorierte mich.

    »Wir müssen dringend einen Relaxer für die beiden kaufen«, sagte sie zu meinem Vater. »Das sind ja schon fast Dreadlocks.«

    Sie grub ihre langen spitzen Nägel in mein dickes, verknotetes Haar und riss daran. Es ziepte. Ich übertrieb maßlos – verzog das Gesicht und schrie auf. Anabel strich sich über ihr eigenes frisch geglättetes Haar, als wollte sie sich vergewissern, dass meine Krause nicht ansteckend war. Mein Vater sprang mir nicht bei. Ich brach in Tränen aus.

    »Ich will keinen Relaxer«, zeterte ich. »Wenn du mich zwingst, rasier ich mir eine Glatze. Und diese blöden Rüschensocken zieh ich auch nicht an. Damit drücken die Schuhe.«

    Ich weinte nicht wegen meiner gequetschten Zehen oder dem verknoteten Haar. Anabel nahm mir weg, was mir am meisten bedeutete. Unser Haus und mein Vater wurden einer Generalüberholung unterzogen: Raus mit der alten gemütlichen Couch; ab mit Babas Bart. Ich hatte nicht vor, Anabel alles zu geben, was sie wollte, zumindest nicht ohne Protest.

    Am Ende ging ich ohne Socken und ohne Relaxer Richtung Altar. Zum Altar musste ich, aber wenigstens mit Würde.

    Ein Jahr später hatten Anabel und ich im Haus in Rom unser jeweiliges Territorium abgesteckt. Anabel herrschte über das Wohnzimmer mit seinen unbequemen geblümten Polsterbänken und Perserteppichen. Dort saß sie mit meinem Vater bei Cocktails und Weißwein, die langen Beine auf seinen Schoß gelegt. Sie sprach meist im Flüsterton, doch wenn sie lachte, dann im Sopran mit Crescendo. Ich imitierte ihr Lachen im Spiegel. Mein Territorium war das Arbeitszimmer meines Vaters. Dort lasen wir schweigend Bücher, er auf seinem Drehstuhl, ich bäuchlings auf dem Teppich. Oder wir schrieben Geschichten und lasen sie einander laut vor. Er gab mir Verbesserungstipps. Seine Geschichten waren in meinen Augen perfekt.

    Jedes Mal, wenn wir umzogen – von Rom nach Addis Abeba, von Addis Abeba nach Kampala, dann wieder zurück nach Rom –, eroberten Anabel und ich die jeweiligen Räume im neuen Haus. In Addis hatte mein Vater kein Arbeitszimmer. Stattdessen nahm ich die Veranda hinterm Haus ein. Mein Vater und ich lasen und schrieben zum Zirpen und Zwitschern der Vögel und Insekten.

    Manchmal, wenn die UN-Organisation meinen Vater auf eine ausgedehnte Mission in ein anderes Land schickte, schlossen Anabel und ich widerwillig Frieden. Wenn er weg war, vergaß ich, dass wir Gegnerinnen waren, dass wir uns eigentlich nicht lieb hatten. Auch sie schien weicher zu werden. Unsere Gespräche wurden länger und weniger feindselig. Wir lachten über die Witze der anderen.

    Mit elf bekam ich zum ersten Mal meine Periode, genau an dem Tag, als mein Vater von einer Mission im Norden Ugandas wiederkommen sollte. Das Blut in meiner Unterhose und Shorts jagte mir einen Riesenschreck ein. Ich hatte nicht gewusst, dass die Blutung so stark sein würde, hatte nicht gewusst, dass man sie nicht wie Urin einhalten konnte. Der Gedanke daran, meinem Vater gegenüber auszusprechen, dass und wo ich blutete, war schrecklich, außerdem war er ohnehin nicht da, also erzählte ich es Anabel. Wir stiegen ins Auto, um dicke Binden und ein Eis zu kaufen. Auf der Rückfahrt sagte sie mir, ich sei jetzt eine Frau, eine wunderschöne Frau. Die Männer würden Schlange stehen, um sich von mir zu nehmen, was sie kriegen konnten.

    »Denk dran«, sagte sie, »du kannst sie schwächen, indem du ihnen nicht gibst, was sie wollen. Dann hast du die Macht.«

    Ich verstand nicht, was Anabel mir sagen wollte. Ich wusste noch nicht, was Männer von mir wollen könnten, wusste nicht, wofür die Periode da war. Aber sie hatte mich als Frau bezeichnet. Sie hatte mich wunderschön genannt. Damals wünschte ich mir, wir könnten immer so sein wie in dem Augenblick: zwei Frauen im Auto, die mit heruntergekurbelten Scheiben an ihrem Vanilleeis lecken und sich zu einem Whitney-Houston-Soundtrack über Schönheit und Macht unterhalten.

    Doch als mein Vater am Abend mit Geschenken aus dem Dutyfree-Shop nach Hause kam – Parfüm für Anabel, Toblerone für Yasmeen und mich und eine Spielzeuglokomotive für Kwame –, zogen Anabel und ich uns in unsere Zimmer zurück. Ich wartete darauf – stellte mir vor, wie wir beide darauf warteten –, welche Tür mein Vater öffnen würde.

    Erst nach der Krebsdiagnose meines Vaters, nachdem er bettlägerig wurde, gaben Anabel und ich unser jeweiliges Territorium auf. Wir wussten beide, dass wir ihn verlieren würden. Wir gaben unsere Territorien auf, aber nicht unsere Feindseligkeit.

    Der Tod meines Vaters vernichtete mich. Vielleicht lag es daran, dass ich nie richtig betrauert hatte, dass meine Mutter mich verlassen hatte, jedenfalls warf ich mich wild entschlossen in die Trauer um ihn. Trauer, stellte ich fest, war die Konstruktion einer Geschichte. Ich musste eine Geschichte konstruieren, um meine Welt zu rekonstruieren. Ich musste Entscheidungen treffen, was hineingehörte und was ausgelassen werden musste.

    In meiner Version der Geschichte von der Krankheit und dem Tod meines Vaters waren er und ich die Hauptfiguren: ein heldenhafter Vater und eine Tochter, die ihn über alles liebte. Meine Geschwister – Yasmeen und Kwame – waren Nebenfiguren. Das war ichbezogen, mir aber egal. In meiner Geschichte plagte die Krankheit meines Vaters mich ebenso sehr wie ihn. Ich sah zu, wie er schwächer wurde. Ich roch seinen schlechten Todesatem, wenn ich neben ihm lag und erzählte, was ich zu Mittag gegessen hatte, Belanglosigkeiten aus der Schule und aus Filmen. Ich hörte ihn vor Schmerz aufschreien, oder vor Scham, wenn sein Schließmuskel versagte und er in einer Pfütze seiner Exkremente aufwachte.

    Mein Tagebuch aus der Zeit ist voller Einträge über seinen Gewichtsverlust, Haarausfall und chronische Furunkel – Nebenwirkungen der aggressiven Chemotherapie. Ich notierte die Formen seiner vorstehenden Knochen und die Farbe des Eiters, der aus den Furunkeln quoll, wenn sie aufplatzten.

    Anabel taucht in diesen Tagebüchern nirgends auf, obwohl sie es war, die ihn pflegte, obwohl sein Krankenbett auch ihr Bett war, obwohl sie immer da war, Erbrochenes aus dem Teppich schrubbte und seine rissigen Zehen eincremte. Nicht ein einziges Mal dankte ich ihr dafür. Ich schrieb sie bereits aus der Geschichte, meiner Geschichte, heraus. Ich dankte ihr nicht, sondern gab ihr auch noch die Schuld.

    Ich weiß noch, wie mein Vater einmal um einen Apfel bat, und Anabel ihn angiftete, er solle ihn sich selbst holen. Sie wusste, dass er nicht mehr laufen konnte. Sie rief einen Priester, damit er ein Gebet für meinen Vater sprach, etwas, das er niemals gewollt hätte, weil er weder an Gebete noch Gott glaubte. Als er mit den wenigen Worten, zu denen er noch fähig war, protestieren wollte, hob sie die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Ich erkannte ihr Handeln nicht als verzweifeltes Austeilen einer leidenden Person, sondern als Beweis dafür, dass ich diejenige war, die ihn wirklich liebte, und sie die böse Stiefmutter. Meine Geschichte brauchte nun mal einen Bösewicht.

    »Er wollte keinen Priester«, sagte ich. »Er hat mir gesagt, er will nicht, dass ihm Religion angetan wird. Das waren seine Worte.«

    »Ach, halt den Mund«, zischte sie. »Halt einfach den Mund.«

    Ich glaube, später hat sie sich entschuldigt – für das halt den Mund, nicht für den Priester. Aber sicher bin ich mir nicht.

    Nachdem mein Vater gestorben war, sagte mir meine Mutter am Telefon, dass sie nicht zur Beerdigung nach Rom kommen würde. Sie würde nicht kommen, um Yasmeen und mich für sich zu beanspruchen. Ich schwor mir, ihr das niemals zu verzeihen, nie wieder ein Wort mit ihr zu reden. Yasmeen war weniger bereit, noch ein Elternteil zu verlieren, glaube ich. Sie sah mich erschrocken an, als ich ihr mitteilte, dass die Beziehung zu unserer Mutter ein für alle Mal zerbrochen war. Doch mein Vater hatte ihr aufgetragen, ihrer großen Schwester und Beschützerin zu vertrauen. Mir hatte er aufgetragen, ihr Vertrauen niemals zu missbrauchen. Yasmeen überließ die Entscheidung mir.

    »Bleibt bei mir«, sagte Anabel, als ich ihr vom Telefonat mit meiner Mutter erzählte. »Ich habe eurem Vater versprochen, mich um Yasmeen und dich zu kümmern. Und ich brauche euch. Ihr seid meine Töchter.«

    An diesem Tag weinten Anabel und ich zusammen. Wir beschlossen, zu viert eine Familie zu sein: wir beide, Yasmeen und Kwame. Ich werde nie vergessen, dass Anabel uns für sich beansprucht hat, als meine Mutter es nicht tat. Doch lange dauerte es nicht, bis wir wieder in alte Muster verfielen. Wir stritten uns um die Seele meines Vaters: ob und wo sie weiterlebte und was sie brauchte. Anabel wollte nach vorn schauen. Ein Freund meines Vaters, der für dieselbe UN-Organisation arbeitete, verschaffte ihr einen Einstiegsjob in deren Büro in Rom. Es war ihr erster Job. Nach der Hochzeit mit meinem Vater hatte sie an einer amerikanischen Universität in Rom einen Bachelor in Rechnungswesen gemacht, aber nie in ihrem Beruf gearbeitet. In ihrem neuen Job musste sie viel lernen, sich umgewöhnen. Sie wollte sich ein neues Leben aufbauen. Ich hingegen weigerte mich, loszulassen.

    Anabel glaubte an den Himmel. Ich glaubte an die Erinnerung. Wir stritten um das, was mein Vater uns hinterlassen hatte, materiell wie ideell. Sie schloss seine Papiere weg – Notizen, Gedichte –, damit ich sie nicht lesen konnte. Ich bunkerte Reisetaschen voller Socken und Krawatten und versteckte sie ganz hinten in meinem Schrank. Yasmeen schlug sich auf meine Seite, war aber zu schwach, um mich groß zu unterstützen. Sie rauchte Zigaretten und nahm Abführmittel. Sie stellte sich auf die Waage und zählte Kalorien. Sie zählte sogar die Krümel, bevor sie sie sich auf die Zunge legte. Meine Wut nahm genug Raum für uns beide ein.

    »Lass mich in Ruhe! Ich vermisse Baba!«, schrie ich Anabel an, als sie den Fernseher ausschaltete und mich aufforderte, endlich mit dem Trübsalblasen aufzuhören.

    »Dann geh doch zum Friedhof und grab ihn aus«, sagte Anabel. »Kein Wunder, dass deine Mutter dich nicht wollte.«

    Nach diesem Streit sprachen wir eine Woche nicht miteinander. Dann kroch Anabel eines Nachts zu mir ins Bett, und alle ungeweinten Tränen brachen sich Bahn. Der Geist meines Vaters habe sie geweckt, sagte sie, und habe versucht, sie in ein rosiges Licht zu locken. Ich hielt Anabels feuchtkalte Hand unter der Decke und fragte mich, warum sein Geist nicht zu mir kam.

    Nach dem Tod meines Vaters lebten wir noch zwei Jahre in Rom. Dann zogen wir nach Kampala in Uganda, wohin Anabel versetzt worden war. Genau wie es bei Rom der Fall gewesen war, hatten wir früher schon einmal mit meinem Vater in Kampala gelebt. Er war zwei Jahre dort stationiert gewesen. Überall lauerten Erinnerungen an ihn. Als wir am Flughafen in Entebbe ankamen, holte uns der ehemalige Fahrer meines Vaters, Edward, ab. Jeden Tag fuhren wir an dem Haus vorbei, in dem wir zu fünft als Familie gewohnt hatten. Die internationale Schule, auf die Yasmeen, Kwame und ich gingen, hatte sich kein bisschen verändert. Ich spielte Fußball auf demselben Sportplatz, auf dem mein Vater mich angefeuert hatte, als ich beim Sportfest drei blaue Schleifen gewonnen hatte: im 100-Meter-Lauf, im 200-Meter-Lauf und im Staffellauf.

    Als Teenagerin genoss ich in Kampala viele Freiheiten. Ich freundete mich mit einer Gruppe Mädchen und den Jungs in ihrem Schlepptau an und unternahm viel mit ihnen. Wir gingen abends aus – tanzten, kifften, betranken uns und knutschten in dunklen Ecken von Clubs. Auch Anabel blieb abends lange weg, hatte wieder Dates. Sie fragte mich nur manchmal, wohin ich ging und was ich machte. Nur ganz selten – meist, wenn sie schlechte Laune hatte – verbot sie mir, wegzugehen. Bei einer dieser Gelegenheiten stritten wir uns. Ich nannte sie irre. Ich war geschockt, Anabels Hände an meinen Schultern zu spüren, als sie mich auf mein Bett schubste. Ungläubig sah ich zu ihr hoch. Sie hob die Hand, schrie auf und schlug mit den Fäusten auf mein Gesicht ein. Ich rollte mich zusammen und schützte meinen Kopf mit den Händen. Sie schlug nicht so fest zu, dass sie mir körperlich wehtat. Es war nicht mein Körper, den sie verletzen wollte. Ich schlug nicht zurück. Es gab eine Grenze, die nicht überschritten werden durfte, das wusste ich. Die Schläge endeten abrupt, als der achtjährige Kwame mit seinem Plüschfrosch ins Zimmer kam. Beim Anblick seiner Mutter, die seine große Schwester schlug, brach er in Tränen aus. Er schrie, bis Anabel ihn auf den Arm nahm und aus dem Zimmer trug. In der Nacht schlief er am Fußende meines Bettes. Sein leises asthmatisches Schnarchen war zugleich nervig und tröstlich. Wenn er nicht wäre, dachte ich, würde ich Yasmeen wecken und mit ihr dieses Haus verlassen und zur Familie meines Vaters nach Ghana oder England ziehen, egal wohin, Hauptsache weg von ihr.

    Als ich am nächsten Tag nach Hause kam, lag eine aufgeschlagene Bibel auf meinem Schreibtisch. Mit gelbem Textmarker angestrichen war Sprüche 29:15: Stock und Tadel helfen, klug zu werden; ein Kind, das man sich selbst überlässt, macht seiner Mutter Schande. Ich konnte Anabel im Flur rascheln hören. Ganz still saß ich da. Danach wichen Anabel und ich tagelang den Blicken der anderen aus. Ich klaute Geld aus ihrem Portemonnaie und kaufte drei Flaschen Gin. Als sie einen Kollegen zum Abendessen einlud, betrank ich mich. Beim Nachtisch lallte ich schließlich, lachte über die falschen Dinge, lachte über Anabel. Ihr Gesicht war knallrot, doch sie sagte nichts. Wir hatten ein Patt erreicht und gaben die Schlacht auf. Wir sprachen nie darüber, und Anabel schlug mich nie wieder. Unsere Wut köchelte. Wir waren wütend auf den Tod, auf den Krebs, auf den Himmel, der immer noch blau war, auf die Flüsse, die nicht über ihre Ufer traten, auf das gleich gebliebene Kampala. Uns blieb nur die jeweils andere für unsere Schuldzuweisungen.

    Mit achtzehn zog ich von Kampala nach New York, um die Pace University zu besuchen. Anfangs unterstützte mich Anabel bei den Studiengebühren, allerdings nur so lange, wie das Geld reichte, das mein Vater für meine Ausbildung hinterlassen hatte.

    Um mein Studium zu Ende zu bringen, musste ich mich stark verschulden und arbeitete nebenbei in zwei Jobs gleichzeitig – in einem Restaurant und in einem Club. Doch selbst das reichte nicht für Studiengebühren, Miete, Rechnungen, Bahntickets und Essen. Es gab Wochen, in denen das Essen für die Mitarbeitenden im Restaurant, in dem ich arbeitete, meine einzige Mahlzeit war. Lebensmittel und Bahntickets konnte ich mir nicht leisten. Weil ich mit der U-Bahn zur Arbeit fahren musste, entschied ich mich fürs Hungern. Ein- oder zweimal bat ich Anabel per Mail um Geld, wenn mir der Strom abgedreht worden war, oder ich dringend etwas zu essen brauchte. Mal überwies sie mir Geld, mal antwortete sie gar nicht. Zwischen dem letzten und vorletzten Jahr an der Uni nahm ich mir einige Zeit frei. Die Rechnung für die Studiengebühren war an ein Inkassounternehmen gegangen, und ich konnte mich erst wieder für Univeranstaltungen anmelden, wenn ich sie bezahlt hatte. Irgendwann in dieser Zeit kam Anabel zu einer Konferenz nach New York. Ich war fest entschlossen, an die Uni zurückzukehren und hoffte, dass sie mir dabei helfen würde. Beim Betreten des Restaurants, in dem ich mich mit ihr und einer Freundin der Familie zum Abendessen treffen wollte, bekam ich mit, wie Anabel, die mit der Freundin an der Bar wartete, auf Swahili sagte, ich hätte die Uni geschmissen. Sie meinte, ich würde es einfach nicht hinbekommen, gleichzeitig zu arbeiten und zu studieren. Was sie sagte, war nicht falsch. Ganz allein in New York zu sein und für mich selbst zu sorgen, mit Geld umgehen zu lernen und in finanziellen Schwierigkeiten zu stecken – war für mich eine heftige Umstellung. Im Grunde hatte der extrem mobile, globale Lebensstil meiner Familie mich widerstandsfähig und selbstständig gemacht. Doch auf gewisse Weise hatte er mich auch verwöhnt. Bereits in jungen Jahren hatte ich gewaltige Verluste erfahren. Schon früh hatte ich mitbekommen, wie viel Leid auf der Welt herrscht: extreme Armut, Gewalt, Krankheit. Doch bevor ich nach New York gegangen war, hatte ich nicht einmal die Wäsche selbst machen müssen. Mein Vater und Anabel bezahlten Leute, die für uns sauber machten, kochten und uns durch die Gegend kutschierten.

    Pleite zu sein, war etwas völlig anderes, als arm zu sein, das war mir klar. Trotz meines überzogenen Kontos hielten mich die Annehmlichkeiten und Privilegien, die ich ohne großes Zutun angesammelt hatte – meine internationale Privatschulbildung, meine Mehrsprachigkeit, mein selbstverständlicher Umgang mit Institutionen und Bürokratie –, über Wasser. Diese Annehmlichkeiten und Privilegien öffneten Türen. Dennoch fand ich es schwierig, mich an meine neue wirtschaftliche Lage zu gewöhnen. Ich war immer eine gute Schülerin gewesen. In der Highschool hatte ich außer in Mathematik immer gute Noten gehabt, ohne mich groß dafür anstrengen zu müssen. Doch in letzter Zeit fiel es mir schwer, in der Uni Schritt zu halten. Häufig kam ich erst um vier Uhr morgens von meinem Job in der Cocktailbar nach Hause. Meine Konzentrationsfähigkeit

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