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Die Wege von Ines und Jan
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eBook324 Seiten5 Stunden

Die Wege von Ines und Jan

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Über dieses E-Book

Jan gerät zunehmend in eine Sinnkrise und beschließt seinem Leben ein Ende zu setzen. Ines, die Schwester seines Freundes, erfährt davon und kann ihn in langen Gesprächen zu neuen Perspektiven anregen. Während Jan seine kreativen Fähigkeiten entdeckt, kommt Ines für sich selbst zu einer verstörenden Erkenntnis.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum13. Apr. 2021
ISBN9783347252752
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    Buchvorschau

    Die Wege von Ines und Jan - Brigitte Weiss

    Ines dröhnte der Kopf. Dabei versuchte sie, sich Klarheit zu verschaffen. Jan war der Freund von Stephan, ihrem großen Bruder. Früher war Jan sogar der beste Freund von Stephan gewesen. Sie sahen sich kaum noch. Seit Jan die Schule abgebrochen hatte, drifteten die beiden auseinander, ohne dass einer das gewollt hätte. Jan – wie alt war er jetzt? Er war schon zweimal sitzengeblieben, als er nach der zehnten Klasse abging. Ines schob die Fertig-Pizza in den Backofen, stellte drei Teller auf den Küchentisch. Sie sah aus dem Fenster. Bald wurde sie achtzehn und er? War er vier Jahre älter oder vielleicht noch mehr?

    Lukas kam die Treppe heruntergepoltert. „Unsere Biolehrerin hat gesagt, mit zwölf Jahren muss man regelmäßig gut essen, da wächst der Körper besonders schnell bei den Jungen, die Mädchen sind schon vorher gewachsen. Also, wo ist das Essen? „Gleich fertig, setz dich. Ines sprach leiser als sonst und sah Lukas nicht an. Lukas fuhr umso aufgeregter fort: „Hast du eben mit Jan telefoniert? Wegen der Kreissäge und dem Selbstmord? „Was geht dich das an, du kleiner Schnüffler? Ines wollte ihn ablenken und zog eine nicht ganz fertige Pizza aus dem Ofen, teilte sie und legte für beide eine Hälfte auf den Teller. Sie aßen schweigend. Keine fünf Minuten später kam Stephan herein. „Pizza, sehr originell, das essen wir bald jeden zweiten Tag, da hätte ich lieber gleich in die Sportlerklause gehen können. Lukas konnte Stephan kaum ausreden lassen, um mit der Neuigkeit herauszuplatzen: „Jan will Selbstmord machen! Das hat er Ines am Telefon gesagt. „Jan will Selbstmord machen? Dass ich nicht lache. Damit hat er in der Schule schon immer kokettiert. Dann drehte er sich frontal zu Ines „Wieso ruft Jan überhaupt dich an? Ines war erschrocken über Stephan, fing sich schnell und versuchte, alles der Reihe nach zu erklären: „Er hat bei uns angerufen, nicht bei mir. Er wollte dich sprechen, du warst nicht da. Er redete gleich davon, dass er die Kreissäge dringend zurückhaben muss. Er hat sie jemandem zugesagt, vererbt, sagt er, der sie unbedingt braucht. Da hab ich es eben organisiert. Du warst in deiner Projektgruppe dafür verantwortlich, dass Jan seine Säge pünktlich wiederbekommt. Du hast das mal wieder verpennt. Da hab ich sie ihm gebracht, mit dem Hausmeister allerdings. Der hat sie aufgeladen, mich abgeholt, wir haben sie kurz hingefahren. „Super, du mischt dich mal wieder in meine Angelegenheiten, mein Fräulein. „Nur in solche, die für alle in der Familie echt peinlich werden. ‚Die kriegen nichts auf die Reihe‘, heißt es dann wieder. Ja, ich hatte das große Glück, deinem Freund die Säge wiederzubringen zu deiner Ehrenrettung, mein teurer Herr Bruder. „Oder besser zu deiner Verleihung der Samariter-Medaille erster Klasse. Ines überhörte das und fuhr fort: „Jan will vorher nur noch alle wichtigen Verpflichtungen in Ordnung bringen, sagte er. Ich hab geantwortet: ‚Eine davon ist, dass du vorher hier vorbeikommst.‘ Ines sprach zu schnell und musste husten. Lukas hörte gespannt zu und vergaß zu essen. Ines erinnerte ihn daran, dass er in einer Stunde zum Fußballtraining gehen und vorher noch Hausaufgaben machen müsse. Lukas erkannte, dass er keine weiteren Neuigkeiten erfahren würde, steckte die letzten Bissen in den Mund und trollte sich nach oben in sein Zimmer. Ines wollte von Stephan mehr über Jan erfahren, aber Stephan hatte sich den Mund andauernd zu voll gestopft, um reden zu können und hing förmlich über seinem Teller. Ines gab noch nicht auf: „Mittwoch. Mittwoch um vier will Jan vorbeikommen, das würde er noch schaffen, meinte er. Stephan schluckte, dann lachte er wieder. „Na dann viel Spaß am Mittwoch. Er sah seine Schwester belustigt an, stand auf und ging schon in Richtung Tür, als er vor sich hin murmelte: „Das kommt dabei raus, wenn du dich in anderer Leute Angelegenheiten mischst. Gleich witterst du deine Chance zur Rettungsaktion. Auf der Treppe rief er ihr noch nach: „Nur weiter so, du wirst bestimmt noch mal heilig gesprochen, aber ich bin auf keinen Fall dabei."

    Es hatte keinen Sinn, mit Stephan über Jan zu reden, jedenfalls nicht jetzt. Dabei wäre es gerade jetzt gut, mit jemandem über ihn zu reden. Sie wusste so wenig von ihm, kaum mehr, als dass er eine Lehre als Dreher oder Werkzeugmacher gemacht hatte. Zu Anfang hatte Stephan Jan beneidet um das Lehrgeld und erst recht, als er hörte, wie viel Jan danach verdiente. Stephan hatte keine große Lust, zur Schule zu gehen, aber es stand für ihn außer Frage bis zum Abitur durchzustehen. Jetzt war er zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich für andere zu interessieren. Er hatte zuhause alle Freiheit zu kommen und zu gehen, wie er wollte – sie lernten ja alle in Gruppen, hatte er erklärt. Beteiligen sollte er sich im Haushalt nicht mehr. Es käme ja alles darauf an, gute Noten zu bekommen für das Studium. Lukas war Ines Fürsorge anvertraut, musste dreimal in der Woche pünktlich zum Sport und schaffte es dabei selten, den Müll rauszubringen. Alle hatten ihre Freiräume. Warum nur sie nicht? Warum konnte sie nicht losgehen und jemanden suchen, mit dem sie vernünftig über Jan sprechen konnte? Auch mit der Mutter konnte sie selten sprechen.

    Seit die Mutter sich ihren Traum von einem eigenen Geschäft für Kunst und Wohnaccessoires erfüllt hatte, war die Arbeit im Haus zunächst zwar aufgeteilt worden auf alle Familienmitglieder, tatsächlich erledigte Ines aber die Woche über das Nötigste im Haushalt allein und kaufte auch ein, denn nach Feierabend waren die Mutter wie der Vater dafür nicht ansprechbar. Größere Putzaktionen oder Gartenarbeiten wurden aufgeschoben bis zu einem verabredeten Wochenende, an dem dann regelmäßig die Grippe ausbrach oder Geburtstage von Verwandten anstanden.

    Ines hatte sich vorgenommen keine weiteren Verpflichtungen zu übernehmen, sie hatte weiß Gott genug Pflichten im Haushalt, in der Familie, insbesondere für Lukas, das einzige Kind, das ihr Stiefvater mit ihrer Mutter hatte. Trotzdem kümmerte er sich kaum um sein Kind. Die Mutter gab ihr zwar immer wieder Anweisungen, wie sie mit Lukas umzugehen hätte, war aber mit ihrem Geschäft zu überlastet, um sich selber um die Kinder zu kümmern. Jetzt, am Anfang des Schuljahres, hatte Ines sich geweigert für die Wahl zum Klassensprecher zu kandidieren, aber die Klassenlehrerin hatte sie überredet: „Es hat doch bisher alles gut geklappt. Es ist keiner sonst in der Klasse, mit dem alle einverstanden wären. Das gibt nur ein ewiges Tauziehen zwischen den Parteien." Am Ende hatte Ines sich breitschlagen lassen und sich dann über sich selbst geärgert.

    Nun grübelte Ines schon seit fast einer Stunde darüber, wie sie Jan begegnen sollte. Was hatte sie über ihn gehört? Er habe Kontakt zu komischen Typen, sagten sie in Stephans Klasse. Einige wollten wissen, er ginge mit den Tippelbrüdern. Stephan hatte erzählt, er sei mit einer Band unterwegs. „Der macht da auch schon Erfahrungen mit Drogen, beneidenswert", hatte Stephan geschwärmt. Allmählich bekam sie Angst vor ihrem Angebot, Jan zu treffen, um ihn umzustimmen.

    Schließlich versuchte sie, eine Adresse für ihn zu finden, an die er sich wenden könnte. Zuerst hatte sie an den Pastor gedacht, aber als sie überlegte, was sie ihm von Jan sagen sollte und was sie von ihm erwarten könnte, hatte sie die Idee schon wieder verworfen. Die Kirche war nicht Jans Welt. Jugendamt? Jan war kein Jugendlicher mehr, wenn sie richtig gerechnet hatte, mindestens einundzwanzig müsste er sein. Kann er einfach zum Psychiater gehen? Sie suchte eine Nummer aus dem Telefonbuch. Als sie den Hörer abnahm und wählte, bekam sie so heftig Herzklopfen, dass sie wieder auflegte. „Erst mal genau überlegen, sagte sie sich, holte einen Zettel und schrieb: 1. Guter Freund. 2. Schulfreund vom Bruder. 3. Selbstmordgedanken. 4. Diesmal hat er einen genauen Plan. „Nein, ich hol' mir zuerst selbst einen Termin, entschloss sie sich und rief an. Ob es akute Probleme gebe, wurde sie gefragt. „Selbstmord", sagte sie. Ines bekam einen Termin.

    Der Psychiater machte auf sie einen sehr freundlichen Eindruck und sie erklärte ihm etwas umständlich, was sie hier wollte. „Es geht also nicht um Sie sondern um ihren Freund, wie sie sagen, wiederholte er. „Eigentlich ist er der Freund meines Bruders, verbesserte sie. „Ich brauche Hilfe dabei, ihn zu einer Therapie zu motivieren. Der Psychiater redete viel, was sie nicht alles behalten konnte. Ein paar Sätze waren bei ihr aber hängengeblieben. Solche wie: „Ja, aber letztlich muss er schon selbst herkommen, mit Ihnen muss ich ja nicht arbeiten, oder: „Versichern Sie Ihrem Freund, dass für ein Erstgespräch – und sogar die ersten fünf Gespräche – keine Kosten auf ihn zukommen. Später wird man dann einen Antrag auf Kostenübernahme bei der Krankenkasse stellen. Ihr Freund ist versichert? „Das weiß ich nicht genau, musste sie zugeben. „Sie sehen ja, hier wird niemand zurechtgewiesen, es gibt bestimmt keine Vorhaltungen, hatte der Psychiater in gewinnendem Tonfall versichert. „Aber das hilft mir nichts. Er will eigentlich gar keine Therapie, er will Schluss machen, hatte sie protestiert, aber nur erfahren: „Suizid ist hierzulande nicht verboten. Gesetzlich kann man da nicht eingreifen, aber Sie können vielleicht bestätigen, dass man mit mir gefahrlos reden kann. Ines hatte schon resigniert, obwohl sie höflich genickt hatte. Trotz einer längeren Gesprächspause war ihr nichts mehr eingefallen. Sie hatte dann noch einen letzten Vorstoß gewagt: „Können Sie mir nicht einen Tipp geben, wie ich es anstellen kann, ihn herzuschicken? „Sie kennen ihn besser als ich, da fällt Ihnen sicher noch etwas ein. Es gibt natürlich auch Selbsthilfegruppen, aber auch da müsste er selbst hingehen. Entmutigt war sie aus der Praxis gekommen.

    Ihre Gedanken kamen wie finstere Rauchschwaden daher: „Alle sind so selbstgerecht, keiner packt das Problem an. Stephan sagt sich, Jan kokettiert nur mit seinen Selbstmordgedanken und ist damit fein raus. Der Pfarrer würde vielleicht für ihn beten. Wer weiß, letztlich für sein eigenes Konto der Pflichterfüllung. Ich kann die Polizei anrufen, wenn es brenzlig wird, aber ich weiß nicht, wann das sein wird. Der Herr Psychiater weiß auch nur, dass man selbst kommen muss. Alle stellen ihre Bedingungen. Wer die nicht erfüllt, fällt hinten runter, das ist ihnen egal. Wem ist das auf dieser Welt mal nicht egal, wenn sich einer umbringen will?"

    Ines stapfte mit wütenden Schritten nachhause. Sie hatte keine Lust, jetzt im Bus zu sitzen. Als sie in ihre Straße einbog, fiel ihr die alte Dame ein, mit der sie als Kind öfter geredet hatte, wenn sie sie auf der Straße getroffen hatte. Manchmal war sie mit ihr die Straße heruntergegangen bis zu ihrem kleinen Häuschen. Im Sommer durfte sie sogar einige Male mit in den Garten kommen und sich Himbeeren und Erdbeeren pflücken. Aber das Allerschönste war, dass die Dame immer Geschichten erzählte und Gedichte kannte. Jetzt grüßten sie sich nur noch im Vorbeigehen, Ines war ja kein Kind mehr. „Diese Frau, dachte sie, „ist besonders, sie passt eigentlich nicht recht in die Nachbarschaft. Sie wurde selten gegrüßt, obwohl man wusste, dass sie Martein hieß. Sie wohnte in einem ausgebauten Gartenhaus, einem „Behelfsheim, wie Ines Mutter es nannte. Das Ende der Straße war nicht gepflastert. Dort waren ehemalige Schrebergärten, deren Hütten im Krieg ausgebaut worden waren. Einige Gärten waren inzwischen von der Stadt verkauft und völlig neu bebaut worden. Die Verlängerung der Straße durch das ehemalige Schrebergartengebiet war nur ein Schotterweg trotz dieser Neubauten. Frau Martein wohnte all die Jahre unverändert in ihrer „Kriegsunterkunft. Ines sprach als Kind zuhause immer nur von der „Dame, wenn sie nach einem Besuch von ihr erzählte. Der überkorrekte Vater, eigentlich ihr Stiefvater, hatte sie zurechtgewiesen, sie solle doch bitte den Namen nennen. Jeder Mensch habe schließlich einen Namen. Aber Ines war zu dem Schluss gekommen, dass es in der Nachbarschaft lauter Leute mit Namen gebe, aber nur eine Dame. Später erzählte sie nichts mehr von der Dame, denn die Mutter hatte sie spöttisch angesehen und gemeint: „In den Garten darfst du schon mal gehen, aber geh mir auf keinen Fall in das Haus, da ist es nicht so…, so hygienisch.

    Ines erinnerte sich an das warme, freundliche Lächeln der Dame und war unversehens am Elternhaus vorbeigegangen, sie war schon am Ende der Pflasterung. „Sie könnte im Garten sein, dachte Ines und ging noch das letzte Stück der Straße herunter. Unschlüssig stand sie vor der Pforte. „Was wollte sie denn von der Dame? Als sie noch überlegte, ging die Haustür auf, Frau Martein lächelte und winkte. „Komm nur, rief sie „wir kennen uns ja immer noch. Ich bin ein wenig krumm und klein geworden und du bist jetzt groß. Aber was macht das schon? Es gibt wohl was zu fragen? Komm nur herein.

    Ines überlegte, wie viel sie eigentlich von Jan sagen dürfte ohne einen Verrat zu begehen. Sie würde sich bedeckt halten oder besser gar nichts preisgeben. „Mir kam es gerade in den Sinn, noch ein Stück zu laufen und da bin ich an Ihrem Garten vorbeigegangen und erinnerte mich an früher. Frau Martein nickte. „Komm, ich mach' uns einen Tee, wenn du magst, es ist schon zu frisch, um draußen zu sitzen.

    Nun saß Ines in der Küche. Ihr war etwas unbehaglich zumute. Alte Leute reden gern von sich, ihrem Leben und von Krankheiten. Sie sah sich um, es war hier nicht unhygienisch, wie ihre Mutter behauptet hatte. Altmodisch bestimmt – oder besser altgedient – die Kücheneinrichtung war in verschiedenen Zeiten zusammengestellt und ergänzt worden. Es gab noch die alte Feuerhexe, aber Frau Martein setzte das Teewasser auf einem zweiflammigen Elektroherd auf. „Es stimmt zwar, dass wir uns von früher kennen, aber das war natürlich ein anderes Kennen, aus dem sicheren Gefühl, das Kinder für Menschen haben. Ich bin in der Nachbarschaft nie warm geworden, man kennt mich nicht gut. Ich könnte ja etwas über mich sprechen, wie sich das für Erwachsene gehört." Ines war erleichtert, dass Frau Martein von sich aus ein Gespräch begann.

    „Im Krieg, als diese Schrebergärten noch draußen vor der Stadt lagen – heute ist alles zugebaut – da haben sich viele Leute hier sicherer gefühlt, wir auch, mein Mann und ich. Ines dachte erschrocken: „Jetzt kommt der Roman ihres Lebens. Ich wollte doch hier nicht so lange festhängen. Frau Martein fuhr ruhig mit ihren Schilderungen fort: „Als mein Mann noch an der Uni seine Seminare hatte, kamen die Studentinnen lieber hierher. Manchmal haben sie im Garten kampiert. Hier gab's keinen Fliegeralarm. Wir konnten bis spät sitzen und diskutieren. Die jungen Männer waren ja alle im Krieg – fast alle. Die Mädchen studierten bei meinem Mann Philosophie. Habilitiert hatte er sich, aber bei der Vergabe einer Professorenstelle stimmten die Kollegen gegen ihn. Er blieb zwar Dozent, aber sonst war er Privatgelehrter. Er hatte trotzdem großen Zulauf. Im Sommer saßen wir unter den Apfelbäumen, im Winter hockten wir mit bis zu zwanzig Leuten in der Küche, dem größten Raum hier. Da war es von den Menschen immer warm genug. Feuerung hatten wir kaum. Nach dem Krieg hoffte mein Mann auf Gesinnungsänderung. Frau Martein machte eine wegwerfende Handbewegung. „Es wurde noch schlimmer mit der Ablehnung seiner Forschung, obwohl es auch Dozenten an anderen Universitäten gab, die Interesse für seine Ansätze zeigten. Ein harter Kern von Mitdenkern blieb uns verbunden, bis er starb. Dann wurde es sehr einsam für mich. Frau Martein goss den Tee auf und stellte die braune Steingutkanne und zwei Teegläser auf den Tisch. „Sie hatten keine Kinder? fragte Ines. „Zum Glück nicht. Im Krieg wäre es elend gewesen mit Kindern. Ich hatte auch so genug zu tun. An der Uni hatte mein Mann keinen Anspruch auf eine Bürokraft. Ich schrieb die Arbeiten meines Mannes auf der Schreibmaschine. Ich war seine rechte Hand auch in allen Forschungsfragen. Ein Gehalt habe ich zwar nie bekommen, aber ich war mit ganzem Herzen dabei. Später haben wir mit den Studentinnen Kernpunkte konzentriert in einem symbolischen Zeichen. In langen Diskussionen kristallisierte es sich gewissermaßen heraus. Sie sah durch das Fenster und lächelte. „Eigentlich ist es ganz einfach. Was völlig klar geworden ist, ist am Ende einfach.

    Frau Martein sah glücklich aus, als sie erzählte, obwohl sie doch eigentlich von schrecklichen Zeiten sprach. „Nun habe ich dir etwas von mir erzählt. Sie sah Ines aufmerksam an. „Du hast doch wohl auch etwas zu berichten? „Nicht so viel, lieber beschreiben Sie mir dies Symbol genauer. Können Sie mir das erklären? Ines hoffte, ihren Plan, nichts von Jan zu sagen durchhalten zu können, wenn das Gespräch diese Wendung nahm. „Sicher, ja, Frau Martein nickte, „wir könnten darüber sprechen, aber besser lässt sich alles anhand einer konkreten Frage darstellen. Einer Frage, die dir am Herzen liegt. Du hattest wohl eine Frage, als du hierher kamst? Ines fühlte, wie ihre Ohren heiß wurden, dann schlug die Wärme über ihr Gesicht. Frau Martein goss den Tee ein, holte den Zuckertopf und zwei Teelöffel. Ines gab sich einen Ruck. „Tatsächlich hätte ich eine Frage, gestand sie, „deswegen bin ich aber nicht gekommen und vielleicht ist es genau genommen gar nicht meine eigene Frage. Ines probierte den heißen Tee, holte einmal tief Luft und begann: „Mein Bruder hat einen Freund, einen ehemaligen Freund, müsste ich besser sagen, der will sich das Leben nehmen. ‚Alles hat keinen Sinn mehr‘, hat er mir so im Nebensatz mitgeteilt. Spontan hab' ich ihn aufgefordert, vorher noch mal bei uns vorbeizuschauen. Mein Bruder will damit nichts zu tun haben, hat er mir gleich gesagt. Mittwoch um vier sitze ich allein damit, das heißt mit seinem Freund. Ich habe Angst, dass die letzte Chance, die er sich gegeben hat, dann vertan ist, weil ich nicht weiß, wie ich ihn retten kann. Er habe alles genau geplant, sagte er, da ginge nichts mehr schief. Ich habe mich schon bei verschiedenen Stellen erkundigt, was es überhaupt für Hilfe geben könnte. Natürlich, alle sagen, er müsse sich selbst darum kümmern, aber er kümmert sich ja nur um seinen sicheren Tod. Er ist auch mindestens vier Jahre älter als ich. Wahrscheinlich nimmt er mich gar nicht ernst. So viel wollte Ines eigentlich gar nicht verraten, aber nun war es heraus. „Mittwoch?, überlegte Frau Martein, „du hast noch zwei Tage. Dann kannst du morgen wieder zu mir kommen. Ich werde dir heute in aller Kürze ein theoretisches Rüstzeug geben. Morgen sehen wir dann auf die praktische Seite. Erwarte keine Wunder. Es wird deiner Mitgestaltung einiges abverlangen. Es kann nur ein Rahmen sein, füllen musst du ihn selbst.

    Frau Martein suchte in Schubladen nach einem Anhänger aus Messing. Den hatte ein Student ihres Mannes einmal angefertigt. Endlich fand sie den Messing-Anhänger: ein akkurater Fünfstern im Kreis, feine Linien, die miteinander verwoben waren. Die Linien konnte man im Uhrzeigersinn verfolgen, immer verlief eine Linie erst über, dann unter der kreuzenden anderen Linie hindurch. Ein Kreis fasste den Stern ein. Sie brachte den Anhänger, holte ein Putztuch und rieb ihn blank. Dann legte sie ihn in seine kleine Blechdose mit Watte und stellte die Dose vor Ines. „Das schenke ich dir. Keine Angst, es geht hier nicht um Aberglauben und Hexerei. Es ist nur eine hübsche Gedächtnisstütze, eben ein Symbol.

    Fangen wir einfach an. Mir ist noch sein Satz im Gedächtnis: ‚Alles hat keinen Sinn mehr‘. Was macht denn zunächst für uns Sinn? Die Sinne machen Sinn. Als Kinder sind wir natürlich so unmittelbar mit unseren Sinnen verbunden, dass wir in dieser Sinnhaftigkeit getragen und gehalten werden. Aber das muss uns verloren gehen, sonst würden wir nur Sklaven unserer Sinne bleiben. Die Sinne werden nicht alle gleichzeitig „sinnlos im Jugendalter, aber einer nach dem anderen. Da fühlen sie sich plötzlich oder allmählich leer und bedeutungslos an. Die Neugierde ist verflogen, das Wundern und Staunen prägt keine Worte mehr, die Vorgänge und Veränderungen werden gleichgültig und das Vertrauen in die Kraft und Sinnhaftigkeit der Welt bildet keinen festen Boden mehr. Dann beginnt der lange Prozess der Wiederbelebung aus dem eigenen Interesse, selbst den Sinn erkennen zu können. Natürlich funktionieren die Sinnesorgane noch, aber einen sinnhaften, Interesse fesselnden Sinn oder einen neuen sinnvollen Begriff kann man sich nicht so schnell daraus machen. Jeder junge Mensch macht das durch: Die alte Faszination der Sinne trägt nicht mehr, eine neue ist noch nicht vorhanden. Bei der Erforschung der Sinne ist es nützlich, auf alte Weisheiten zurückzukommen. Aus den altindischen Lehren stammt die Vorstellung von zehn oder zwölf teils transzendenten Sinnen. Rudolf Steiner hat diese Einteilung in seine Forschung aufgenommen und dabei einen Kreis von zwölf Sinnen erforscht. Diesen Ansatz haben nach ihm andere Sinnesforscher weiter entwickelt. Da ist viel zu finden, was dir eine Anregung sein kann. Du brauchst jetzt keine Literatur zu wälzen. In diesem Fall ist es immer das Beste, Anregungen werden mündlich weitergegeben. Erst von mir, dann machst du dir deine Gedanken dazu und erzählst ihm davon. Mit den Studenten hatten wir diesen grundsätzlichen Arbeitsansatz, der taugt auch gut für die Sinne. Bei jedem Sinn wirst du vier, besser fünf Aspekte herausfinden müssen. Zuerst bei dir, und wenn der Freund Vertrauen findet, entdeckt er sie auch bei sich. Das kann sicher ein Jahr und mehr an Zeit benötigen. Ziel für den Mittwoch müsste sein, ihn zu einem Experiment einzuladen unter der Bedingung, dass er sein Vorhaben erstens so lange aufschiebt und zweitens, dass er verbindlich daran teilnimmt, also einen Vertrag schließt mit dir, bis das Experiment mit den Sinnen durch etwa zehn, zwölf Sinnesbereiche gelaufen ist. Ines hörte ihr gebannt zu. „Du bist daran so interessiert, als ginge es genauso um dich. Willst du dich denn auch auf diese Reise begeben? Du wirst dabei immer um einen Schritt in Vorleistung gehen müssen, dann wird dir das Gespräch gelingen können. Frau Martein machte eine lange Pause. Ines befiel eine Beklommenheit aus Angst, dass sie das zeitlich und intellektuell nicht leisten könnte. Dann fühlte sie Skepsis aufsteigen, ob sie damit bei Jan überhaupt Interesse wecken könnte. Ines war zwar neugierig, was sie hier alles noch erfahren würde, schwankte aber in ihren Gefühlen: hoffnungsvoll und dann wieder zweifelnd. „Du brauchst dich nicht sofort zu entscheiden. Schlaf noch mal darüber, morgen sehen wir weiter. Ines trank ihren Tee aus. „Und wenn er angefangen hat und dann doch abbricht?, fragte sie leise. „Er kann jederzeit abbrechen, er behält seine volle Freiheit, aber dann hätte er nicht den Mut zu diesem Experiment und du weißt, dass du getan hast, was du nur irgend konntest. Du stehst anders vor dir selbst, als du jetzt dastehst. Die Dämmerung war schon angebrochen. Ines wollte nachhause. Bis morgen hatte sie Bedenkzeit. „Lass auch dem Jan Bedenkzeit, so etwas kann man nicht überstürzt entscheiden", riet Frau Martein. Ines bedankte sich und versprach, morgen wiederzukommen. Mit Frau Martein als ihre Verbündete war Ines weniger nervös. Ihre Angst war vorerst gebannt.

    Am folgenden Nachmittag saß Ines wieder in der Küche bei Frau Martein. Sie sprach von den

    Erinnerungen, die sie an diesen Garten hatte und wie wohl sie sich als Kind hier gefühlt hatte. „Jetzt haben wir wohl einen anderen Garten zu bestellen, die Sommerzeit ist ja auch vorbei. Hast du dir schon etwas überlegt? Hast du für dich noch Einwände oder Bedenken? Ines beschrieb ihre Verpflichtungen. Wie sollte sie da noch eine so schwere Aufgabe unterbringen in ihrer eng bemessenen Freizeit? Frau Martein beeindruckte das wenig. Sie riet nur: „Einmal in der Woche könnte ein Treffen stattfinden. Wahrscheinlich wird das aber zu viel für dich, alle vierzehn Tage, das müsste zu schaffen sein. Aber wichtig ist, immer am selben Wochentag zur selben Zeit, das belastet am wenigsten. „Und wie lange muss ich auf ihn einreden?, fragte Ines. „Gar nicht. Du erzählst von dem, was du dir in den zwei Wochen vorher überlegt hast zu einem Wahrnehmungsbereich und achtest darauf, dass er sich einbringen kann. Eine Dreiviertelstunde wirst du schon brauchen, länger als eineinhalb Stunden sollte so ein Treffen niemals sein. Es empfiehlt sich, keine gesellige Verlängerung zu dulden. Es verwässert nur alles, was verstanden und erreicht wurde. Zunächst ist die Regelmäßigkeit die größere Hälfte des Erfolgs. Ines war entschlossen, ihren Ängsten zu trotzen. Sie hatte in der Schule keine Probleme, sich zu äußern, aber lange hatte sie noch nie ein Gespräch geführt. Zuhause sprach man nicht lange miteinander. „Den ersten Sinn und später die Reihenfolge der Sinne gebe ich dir immer als Empfehlung. Die Sinne sind einander in besonderer Weise zugeordnet. Es hilft dir im Fortgang der Darstellungen, wenn du diese Reihenfolge beibehältst. „Wieso gibt es einen ersten Sinn und danach eine Reihenfolge?, fragte Ines verwundert. „Das Leben lässt die Sinne wie Knospen erst allmählich aufgehen. Bei der Entwicklung dieser Knospen ist der Mensch im Laufe seines Lebens zunehmend selbst beteiligt. Am Anfang hat natürlich mehr die Biologie vorgesorgt. Nun sollten wir schon einmal auf den ersten Sinnesbereich schauen, das ist der Tastsinn. „Bei mir ist das aber der Augensinn, das Sehen, das ist das Allerwichtigste für mich, protestierte Ines. Frau Martein nickte: „Das ist bei vielen Menschen so, bei einer anderen großen Gruppe ist es das Hören. Am Anfang des Lebens aber, bei der Geburt und der ersten Zeit danach noch ist der Tastsinn ein Existenzsinn, sonst könnte das Kind wohl gar nicht sofort saugen und trinken. Vielleicht müssen wir uns sogar die Geburt aus dem Blickwinkel, aus dem Erleben des Tastsinns vorstellen. Die Mediziner unterscheiden den Tastsinn von der Tiefensensibilität, dem Druckgefühl, das tiefer im Körper liegt, aber für unsere Betrachtungen sollen sie zu einem Bereich gezählt werden." Hiermit endete schon ihre Ausführung. Sie wollte Ines nur eine kurze Anregung geben.

    Nachdem sie eine Weile schweigend Tee getrunken hatten, stand Frau Martein auf und holte aus dem Nachbarzimmer einen Block mit karierten Linien und einen Bleistift. Beides legte sie sich an ihrem Platz zurecht. Sie setzte sich wieder und sah Ines aufmerksam mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Nun bekommst du noch fünf Stichpunkte mit auf den Weg. Später können wir diese Punkte vertiefen, aber sie bleiben ein grobes Raster. Es gibt darin viel auszufüllen für dich." Sie begann zu schreiben:

    1. Wahrnehmung

    Sie erläuterte: „Der erste Schritt ist immer die Wahrnehmung, so wie die Sinne sie liefern. Wir können dabei erstmal nur aufmerksam sein.

    2. Begriff

    „Wenn die Wahrnehmung und die dazu gefundene Vorstellung oder der dazu gefundene Begriff zur Deckung kommen, entstehen auch Gefühle wie Freude, Wertschätzung, Abscheu usw.

    3. Tat

    „Der dritte Schritt ist nun die Motivation, die Initiative zur Tat, wenn sich zum l. Begriff und Wertgefühl, das Ich stellt." Sie schrieb in die nächste Zeile:

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