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Betty
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eBook156 Seiten1 Stunde

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Über dieses E-Book

"›Ich habe Durst ...‹, murmelte sie. Jemand reichte ihr ein Glas, ihres oder ein anderes, das war nicht mehr wichtig." Nichts ist mehr wichtig, Bettys Leben liegt in Scherben. Ihr Mann hat sie bei einem Seitensprung erwischt, sie aus dem großbürgerlichen Haus gejagt; ihre beiden Töchter darf Betty nichts mehr sehen. Drei Tage lässt sie sich von Bar zu Bar treiben, bis ihre selbstzerstörerische Odyssee im Le trou bei Mario endet, wo sie völlig zusammenbricht. In einem Hotel in Versailles wacht sie auf. Laure, die Geliebte von Mario, kümmert sich rührend um Betty, richtet sie wieder auf, hilft ihr, mit ihrer dunklen Vergangenheit ins Reine zu kommen. Aber wer ist Betty wirklich, was will sie vom Leben? Und welchen Preis muss sie, müssen die anderen dafür zahlen?
SpracheDeutsch
HerausgeberKampa Verlag
Erscheinungsdatum15. Apr. 2021
ISBN9783311702313
Betty
Autor

Georges Simenon

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Liège, ist der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), seine Rastlosigkeit und seine Umtriebigkeit bestimmten sein Leben: Um einen Roman zu schreiben, brauchte er selten länger als zehn Tage, er bereiste die halbe Welt, war zweimal verheiratet und unterhielt Verhältnisse mit unzähligen Frauen. 1929 schuf er seine bekannteste Figur, die ihn reich und weltberühmt machte: Kommissar Maigret. Aber Simenon war nicht zufrieden, er sehnte sich nach dem »großen« Roman ohne jedes Verbrechen, der die Leser nur durch psychologische Spannung in seinen Bann ziehen sollte. Seine Romane ohne Maigret erschienen ab 1931. Sie waren zwar weniger erfolgreich als die Krimis mit dem Pfeife rauchenden Kommissar, vergrößerten aber sein literarisches Ansehen. Simenon wurde von Kritiker*innen und Schriftstellerkolleg*innen bewundert und war immer wieder für den Literaturnobelpreis im Gespräch. 1972 brach er bei seinem 193. Roman die Arbeit ab und ließ die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« aus seinem Pass streichen. Von Simenons Romanen wurden über 500 Millionen Exemplare verkauft, und sie werden bis heute weltweit gelesen. In seinem Leben wie in seinen Büchern war Simenon immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«, was sie in ihrem Innersten ausmacht, und was sich nie ändert. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.

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    Buchvorschau

    Betty - Georges Simenon

    1

    »Würden Sie gerne etwas essen?«

    Sie schüttelte den Kopf. Ihr schien, die Stimme, die sie hörte, habe keinen natürlichen Klang, als spräche einer hinter Glas.

    »Verstehen Sie, wenn ich sage, etwas essen, dann heißt das Kaninchen, Sie können es ja hier bei allen sehen, heute ist Kaninchentag. Schade, falls Sie das nicht gerade lieben. Am Kabeljautag, da gibt es eben nur Kabeljau.«

    Es war komisch, den Silben zu lauschen, die aufeinanderfolgten, sich verbanden, Wörter bildeten, Sätze, etwa so, wie Garn sich allmählich in Spitze verwandelt, Wolle in einen Strickstrumpf.

    Das Bild vom Strickstrumpf, halbfertig an drei Nadeln baumelnd, machte sie lächeln. Sie kam unerwartet, diese Vorstellung von einem derart gewöhnlichen Gegenstand, hier, einem Mann gegenüber, der ganz offenbar wünschte, vornehm zu wirken, und der seine Sätze mit großer Sorgfalt konstruierte. Gekleidet war er in Grau. Er war ganz und gar grau: seine Augen, sein Haar, seine Haut, sogar Krawatte und Hemd. Man sah keinen einzigen Farbtupf. Und beim Zuhören dachte sie nicht einmal an einen grauen Strumpf, sondern an einen schwarzen, denn sie hatte noch nie beobachtet, dass jemand andere Strümpfe strickt als schwarze, vor langer Zeit, in der Vendée, damals war sie erst vierzehn. Und heute, da war sie achtundzwanzig …

    »Es ist nur eine Frage der Gewohnheit.«

    Fast hätte sie gefragt:

    »Wieso Gewohnheit?«

    Denn ihre Gedanken gingen in mehrere Richtungen zugleich. Sie sah keinen Zusammenhang zwischen dieser Gewohnheit und dem Wollstrumpf, hatte aber vergessen, dass der Strumpf ihrer eigenen Erinnerung entsprang, nicht der ihres Begleiters. Die Frage aber stand ihr sehr deutlich im Gesicht, denn der Mann sprach geduldig weiter und mit einem rührenden Eifer:

    »Lieben oder nicht lieben.«

    Lieben? Was? Sie hatte Kaninchen und Kabeljau vergessen. Ihr Blick traf sich abermals mit dem des amerikanischen Offiziers, drüben auf seinem Barhocker. Er starrte sie ausdauernd an, und sie fragte sich, wo sie ihn schon einmal gesehen hatte.

    »Mittwoch ist Cassoulettag, besser gesagt, Cassouletnacht.«

    Aus dem dünnen Lächeln ihres Gegenübers schloss sie, dass es ihm auf den feinen Unterschied ankam, und sie wollte ihn gern verstehen.

    »Haben Sie darauf große Lust?«

    Lust? Das Gespräch wurde immer komischer, und sie begriff inzwischen gar nichts mehr. Alles ging durcheinander. Na gut. Sie sagte feierlich:

    »Ja.«

    Sie wusste nicht genau, um was es sich drehte, doch unhöflich sein wollte sie auch nicht. Diesen übertrieben gut gekleideten Mann mit dem faszinierend scharfen Blick, sie kannte ihn nicht. Sie wusste nicht einmal seinen Namen. Trotzdem, sie war ihm näher als jemals irgendwem sonst, das war eindeutig, denn außer ihm gab es nichts mehr auf der Welt.

    Das schien unglaublich, aber es war so. Dauern würde es, solang es eben dauerte, eine Stunde oder eine Nacht, oder auch länger. Und bei diesem Gedanken musste sie lächeln, und dies Lächeln war für einen Moment ohne jede Bitterkeit. Er war sehr höflich. Im Auto hatte er nicht versucht sie anzufassen, und er hatte keine einzige Frage gestellt.

    Denn sie erinnerte sich an das Auto, an das weiche und kühle Leder der Sitze, an den Regen auf der Windschutzscheibe und den beschlagenen Seitenfenstern, wo sie gedankenlos mit der Fingerspitze zeichnete. Noch einmal sah sie die Stadtlichter, die sich in jedem Tropfen brachen, und die Scheinwerfer auf der Landstraße, später dann. Alles hätte sie bis in die kleinsten Einzelheiten erzählen können, wie vor dem Untersuchungsrichter oder beim Arzt, alles, was geschehen war, seit …

    Seit wann? Zumindest seit der Bar in der Rue de Ponthieu. Noch weiter zurückgehen war allzu unangenehm, und sie wollte nicht daran denken. Man durfte nicht ruinieren, was so schwer zu erreichen war und noch schwerer festzuhalten: diesen Zustand eines wirklichen Gleichgewichts, oder genauer: eines vollkommenen Schwebens, in dem sie sich jetzt gerade befand, ein angenehmes Schweben, erholsam, beinahe heiter.

    Nicht heiter im gewöhnlichen Wortsinn, natürlich nicht. Sie hatte keine Lust zu lachen, auch nicht zu tanzen oder Geschichten zu erzählen. Erregend war vielmehr, dass sie gar nichts wusste, nicht, was nachher kommen würde, weder heute Nacht noch morgen, noch in den folgenden Tagen, und dass sie sich nicht drum scherte.

    Bevor sie in der Rue de Ponthieu aufbrachen, hätte sie ihren Begleiter bitten sollen, dass er einen Moment wartete, und hinuntergehen zum Waschraum, die Toilettenfrau hätte ihr sicher ein paar Seidenstrümpfe verkauft. Man bekommt dort fast immer welche.

    Sie war nervös, denn an jedem Bein hatte sie eine Laufmasche. Zum ersten Mal im Leben hatte sie ihre Strümpfe ewig nicht gewechselt. Zwei Tage? Drei? Sie mochte nicht dran denken. Sie hatte auch kein Bad genommen, und das wäre ihr ziemlich bald sehr unangenehm. Gab es dort gleich eine Badewanne und ließ er ihr genug Zeit?

    Sie sah Gesichter, sehr nah oder sehr fern, Haare, Augen, Nasen, Münder, die sich bewegten, und sie hörte Stimmen, die nicht immer aus diesen Mündern kamen. Sie wollte Klarheit über diesen Ort hier, an dem sie sich befand, doch ohne Erfolg, und gedankenlos griff sie nach ihrem Whiskyglas.

    »Auf Ihr Wohl!«

    Da war eine blonde Frau, eine Bardame, hinter dem Tresen, mit so großem Busen, wie sie selbst als junges Mädchen sich einen gewünscht hatte. Da war ein Schwarzer mit weißer Kappe, der lächelnd mal in der einen, mal in der andren Tür auftauchte und den offenbar alle Welt kannte. Da war der amerikanische Offizier, auf den Tresen gestützt, sein Glas ständig in der Hand, und er betrachtete sie noch immer.

    Ein paar Leute aßen, andere hatte nur etwas zu trinken, manche in Gruppen, andere waren allein und starrten schweigend vor sich hin.

    »Ist Ihnen noch nie der Gedanke gekommen, dass wir genau darum voll sind mit Tieren?«

    Sie war betrunken, das war ihr klar. Sie war schon lange betrunken, aber im Augenblick ging es ihr damit ziemlich gut. Sie fühlte sich nicht krank, musste sich nicht erbrechen, nicht weinen. War ihr Begleiter auch betrunken? Hatte er vorher schon getrunken, vor ihrer Begegnung im Ponthieu?

    Er war einfach hereingekommen, von der finsteren Straße, Regentropfen auf seinem Tweedanzug. Auch dort war er Stammgast, das merkte sie an der Art, wie er sich umschaute und den Barmann grüßte, mit einem Wink.

    Sie saß auf einem Hocker, und er hatte sie gefragt, ob er sich auf den Hocker daneben setzen dürfe.

    »Ja, selbstverständlich.«

    Seine Hände waren lang und weiß, sehr trocken, und die ganze Zeit über spielte er mit ihnen, als wären es fremde Gegenstände.

    Auch er wusste nicht, woher sie kam oder was sie vorher getrunken hatte. Vielleicht hatte er die Laufmaschen gar nicht bemerkt? Jedenfalls konnte er nicht ahnen, dass sie nicht gebadet, sich nicht einmal hatte waschen können, nach dem Mann vom Nachmittag.

    Sie waren nicht mehr in der Rue de Ponthieu. Sie wusste nicht, wo sie sich jetzt befanden. Sie hatte nur die Avenue de Versailles wiedererkannt, denn dort hatte sie kurz das Haus ihrer Mutter erblickt, dann hatten sie die Landstraße genommen, waren nach rechts abgebogen, in einen schlammigen Weg. Beim Aussteigen atmete sie den Geruch von feuchtem Laub, sprang über eine Pfütze. Auch jetzt noch spürte sie das Wasser im linken Schuh.

    Sie waren in einem Restaurant, denn hier wurde gegessen. Es gab auch eine Bar. Gedämpft tönte aus einer Jukebox Musik, der niemand zuhörte. Dennoch hatte sie den Eindruck, es handle sich nicht um ein Lokal wie jedes andre, und auch, dass alle sie anschauten.

    All diese Leute, auch der amerikanische Offizier, wirkten wie Bekannte, ganz besonders, wenn sie nicht miteinander sprachen, und der Patron ging von Tisch zu Tisch, setzte sich einen Augenblick, und auch er ließ sie nicht aus den Augen. Sie war gut frisiert. Sie hatte auch keinen schwarzen Fleck auf der Nase. Ihr Kostüm war durchaus dezent. Natürlich, die Strümpfe, aber das passiert jeder Frau.

    Vielleicht hätte er sie vorstellen müssen, damit man sie hier aufnahm. Oder musste sie eine Prüfung bestehen?

    »Wie geht’s, Doktor?«

    Der Patron, ohne sich zu setzen, wandte sich an ihren Begleiter, der zwinkerte nur zurück, gab keine richtige Antwort, dann schaute er wieder auf seine Hände, die flach auf dem Tisch lagen, und kratzte sorgfältig die Haut zwischen zwei Fingern.

    »Sie hören mir nicht zu …«

    Sie war es, zu der er sprach, der Patron war schon weitergegangen.

    »Doch, ganz sicher, ich höre zu.«

    »Und was habe ich gesagt?«

    »Dass, wenn man Tiere isst …«

    Er starrte sie an, und sie fragte sich, ob das wohl die richtige Antwort war. Sie musste ihn gekränkt haben, denn er erhob sich mit einem Murmeln:

    »Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment.«

    Er ging mit kräftigen Schritten zu einer der Türen. Der Patron nutzte den Augenblick, kam heran und griff nach den zwei leeren Gläsern.

    »Dasselbe?«

    Auch ihn, schien ihr, auch ihn hatte sie schon gesehen. Das war eine Manie heute Nacht. Nicht nur bei den Personen, auch bei den Gegenständen. Alles erinnerte sie an etwas. Aber wann? Und wo?

    »Sind Sie zum ersten Mal im Trou?«

    »Ja.«

    Sie wusste nicht, dass dieses Lokal Le Trou hieß, und sie fragte sich, ob es nicht ein Witz war oder eine Falle, ob sie nicht einen Fehler gemacht hatte mit ihrer ernsthaften Antwort.

    »Kennen Sie ihn schon lange, den Doktor?«

    »Nein.«

    »Möchten Sie nichts essen?«

    »Nein, danke. Ich habe keinen Hunger.«

    »Fühlen Sie sich wie zu Hause. Hier sind die Leute bei sich zu Hause.«

    Sie lächelte zum Dank, dass er sie angesprochen hatte, und trank, um Haltung bemüht, die Hälfte ihres Glases, öffnete die Handtasche und begann sich zu pudern. Ihr Gesicht war gedunsen. Sie schaute lieber nicht in den kleinen Spiegel, der ihr zugleich eine sehr brünette und vor allem sehr große Frau zeigte, die genau hinter ihr saß.

    »Wenn Sie uns erst mal besser kennen, dann kommen Sie ganz bestimmt öfter her.«

    Ihr Begleiter nahm jetzt wieder mit einem seltsam verschlossenen Ausdruck gegenüber Platz.

    »Ich bitte um Entschuldigung, ich habe Sie lange allein gelassen.«

    Erfolglos versuchte sie zu verstehen, was hinter ihr gesprochen wurde, war aber sicher, es war von ihr selbst die Rede. Nun erhob sie sich ihrerseits und murmelte:

    »Erlauben Sie?«

    Auf dem Weg zum Waschraum stand sie dem Schwarzen gegenüber, der sie mit einem breiten, lautlosen Lachen ansah, als wäre es ein komisches Abenteuer, sie plötzlich hier zu treffen, in diesem engen Gang. Er tat ihr jedoch nichts, verschwand mit noch breiterem Lachen, und sie erblickte eine schmutzige Küche, in schrecklicher Unordnung. Eine Tür, die nicht richtig

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