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Das Gold der Felder: Teil 2 - Brix
Das Gold der Felder: Teil 2 - Brix
Das Gold der Felder: Teil 2 - Brix
eBook250 Seiten3 Stunden

Das Gold der Felder: Teil 2 - Brix

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Über dieses E-Book

Der Finale Band

Sie dachten, sie sähen sich nie wieder, doch das Schicksal führte Brix zurück in Gérards Arme. Als Brix Gérard findet, hängt dessen Leben jedoch am seidenen Faden. Brix setzt alles in Bewegung, um ihn zu retten und nimmt ihn bei sich auf. Dort, zwischen Familie und Adel, muss Brix die tiefromantischen Gefühle, die er gegenüber Gérard empfindet, zu ihrer beider Verdruss verbergen. Ein gefährliches Katz- und Mausspiel beginnt, während Brix und Gérard herausfinden müssen, ob ihre Liebe von einst noch währt. Können sie einander ihre Verfehlungen von damals vergeben? Nicht nur Gérards Körper trug Wunden vom Kampf davon, auch seine Seele. Er scheint nicht mehr der zu sein, der er einmal war. Und Brix fürchtet, ihn auf eine Weise verloren zu haben, die er sich niemals verzeihen könnte.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum19. Sept. 2018
ISBN9783742721983
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    Buchvorschau

    Das Gold der Felder - K.P. Hand

    Tagebuch

    Ich traf einen Jungen. Nicht irgendeinen Jungen, sondern einen besonderen Jungen. Gérard.

    Ich erinnere mich daran, wie er mir das erste Mal sprachlos mit seinen großen Augen entgegen blinzelte, als wäre es erst gestern gewesen. Bis heute spüre ich das leicht erhöhte Klopfen meines Herzens, wenn ich auch nur an seinen verschlafenen Blick denke.

    Ein Blick, mit dem er mich heimlich aus jeder noch so großen Entfernung beobachtete.

    Das Kitzeln auf meiner Haut, wenn seine Augen mich streiften, fühlte sich genauso stark an wie damals mit meinem Jugendfreund, der sich verbotene Küsse von mir stahl.

    Ich fühlte mich umgehend auf eine Art zu diesem fremden Burschen hingezogen, wie ich es nicht verspüren sollte. Er weckte wieder diese zärtlichen Gefühle in mir, die ich tief vergraben hatte, seit ich damals die Nachricht erhielt, dass mein heimlicher Liebster in die Stadt ziehen würde, während ich in die Armee eintrat, um meinen Vater stolz zu machen. Ich weiß bis heute nicht, was aus meiner ersten Liebe geworden ist, es interessierte mich irgendwann auch nicht mehr. Er war nur noch eine blasse Erinnerung im Strudel der Zeit, als gehörte sie zu einem anderen Leben.

    Ich hatte geglaubt, ich wäre durch die Armee ein anderer Mann geworden.

    Allerdings reichten meine Gefühle gegenüber jenem besonderen Jungen – über den ich hier schreiben möchte – von Anfang an deutlich tiefer, was mich zusätzlich beschämen sollte.

    Aber dieser junge Bursche, Gérard … ich konnte ihm und seinen verträumten Augen nicht entkommen. Ich musste ihn haben.

    Ich war verliebt.

    Mit einem Lächeln denke ich daran zurück, dass ich ihn für seltsam hielt, weil er mich unentwegt ansah, als wäre ich der Sohn Gottes. Erst als ich begriff, dass er mich nur deshalb auf diese anhimmelnde Art anstarrte, weil er sich ebenso zu mir hingezogen fühlte, wie ich mich zu ihm, wurde mir gewahr, welche verbotenen Gefühle sich zwischen uns auftaten. Wenn ich von nun an in seine Augen sah, erkannte ich mich selbst darin; erkannte mein eigenes Verlangen.

    Ich erinnere mich an das tiefe Blau seiner Augen und das Funkeln darin, als würde sich der Sternenhimmel auf der Oberfläche einer glatten See spiegeln. Ich sehe noch seine dunkelbraunen Löckchen, die keck in seiner glatten Stirn hingen, und wie ich die Hand ausstrecke, um sie zur Seite zu streichen, damit er mich ansieht.

    Ich begehrte ihn.

    Ich erinnere mich, wie ich ihn das erste Mal berührte, wie sich seine blasse Haut unter meinen Fingern anfühlte, samten und warm. Und ich erinnere mich noch deutlich daran, wie ich ihn das erste Mal küsste, nachdem er mich fragte, ob ich ein schlechtes Empfinden dabei hätte, auf welche Weise wir einander ansahen.

    Seine Lippen … Ich habe nie wieder etwas Köstlicheres gekostet als diese. Ihre weiche Beschaffenheit und die Süße seiner Jugend, die auf ihnen haftete, ließen mich erkennen, wo mein persönliches Glück entsprang. Noch heute fühle ich seinen Kuss auf meinem Mund, und ich bin wie berauscht.

    Ich kann noch immer seine Berührungen auf meinem Körper fühlen.

    Das Prickeln unter meiner Haut ist mit meinen starken Erinnerungen verbunden.

    Jede Nacht wälze ich mich umher und denke an uns, an ihn und an sein albernes, strahlendes Lächeln, seine funkelnden Augen. Ich denke an das letzte Mal, als er mich berührte, und an das letzte Mal, als ich ihn küsste; und dann, wirklich nur dann, kann ich einschlafen. Wenn ich mir einrede, er läge neben mir, und das Kissen, in das ich meine Nase vergrabe, wäre sein weiches Haar, das stets nach einem taufrischen Wald geduftet hatte.

    Wenn er doch nur wüsste, dass ich mein Versprechen brach, weil ich ihn beschützen wollte! Und wäre es mir doch nur möglich, zu erfahren, wo er gerade ist und ob er in Sicherheit war! Ich könnte mit der Schuld, ihn verlassen zu haben, erträglicher leben, wüsste ich, dass es nicht umsonst gewesen war, ihm das Herz zu brechen.

    Ich schreibe diese Zeilen zwei Jahre nachdem ich ihn das letzte Mal gesehen habe … es kommt mir vor, als hätte ich ihm erst gestern zum Abschied gewunken. Und doch fühlte sich jeder bisher erlebte Tag wie eine halbe Ewigkeit an. Eine Ewigkeit der Qual.

    Ich wollte mich entschuldigen, doch ich war zu feige. Tausend angefangene und wieder verbrannte Briefe fielen dem Feuer zum Opfer, keinen habe ich je abgeschickt. Ich wüsste auch gar nicht, wohin ich die Botschaft hätte schicken sollen, da ich nicht weiß, wo er jetzt ist.

    Aber ich muss ihn finden, denn mich ereilte heute eine unheilvolldrohende Nachricht …

    Dämmerung

    Nach der Schlacht bei St. Aubin, am 27. Juli 1488 – als der bretonische Angriff endete, der in den Rücken der französischen Truppen geführt wurde – kämpfte Brix zusammen mit seiner Kompanie im Fürstentum Flandern, bei Gent.

    Genau dort traf er eines schicksalhaften Tages kurz vor dem Frühjahr ein ihm bekanntes Gesicht unter vielen Fremden.

    Es war Jean, den er entdeckte, und sein Herz setzte einen Moment aus. Jean und Gérard dienten in derselben Truppe. Jean trug nun die Rüstung eines Capitaine und ritt auf einem edlen Ross, als er seine Kompanie in das Lager führte. Aber Gérard war nirgends zu sehen.

    Als Brix Jean bemerkte, kletterte er auf einen Karren und suchte fieberhaft die Männer ab, die ihm folgten. Sie sahen nicht gut aus. Grimmige Gesichter, in denen Schmutz klebte. Sie schienen kampferprobt, aber ebenso erschöpft und abgestumpft, als kämen sie gerade aus einem Scharmützel. Panik breitete sich in ihm aus, während er nach seinem jungen Burschen Ausschau hielt. Genau diese trüben Augen, wie Jean und seine Truppe sie herumtrugen, hatte Brix nicht bei Gérard sehen wollen. Aber wie es schien, hatte der Krieg auch diese Kompanie eingeholt.

    Wo hatten sie wohl gekämpft? Und ging es Gérard gut?

    Wo war er? Brix konnte ihn nicht sehen, allerdings konnte er ohnehin nicht allen Soldaten ins Gesicht blicken, einige wurden von ihren Kameraden verdeckt. Bei dem ein oder anderen schlanken Rücken machte sein schlagendes Organ in der Brust erneut einen Satz, aber er war sich nie sicher, ob einer davon wirklich Gérard war.

    »Wo ist er!« Es war das erste, was er zu Jean sagte, als er diesen bei den Pferdegattern allein antraf. Er blaffte ihn von der Seite an.

    Jean riss wütend den Kopf herum und begegnete dem drängenden Blick mit kalten, wütenden Augen. Der junge Mann hatte sich verändert, jeglicher kindliche Hauch war aus ihm gewichen, sein Gesicht war hart, und eine Narbe spaltete seine rechte Wange, ihm fehlte ein Stück seines Ohrs.

    Es schien einen Moment zu dauern, doch dann erkannte er Brix, und ein freudiges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Der Capitaine!«, lachte er und packte Brix` Arme.

    Brix nickte ungeduldig und zwang sich zu einem Lächeln. »Wie ich sehe, gilt der Titel für uns beide. Ich freue mich für dich.«

    Jean grinste nickend. »Danke! Nachdem du abgezogen wurdest, übergaben sie mir deine Aufgaben.«

    Brix blickte über Jeans Schulter, ein paar Männer sattelten ihre Pferde in ihrer Nähe ab. Bevor er seine Frage wiederholte, zog er Jean in eine dunkle Nische. »Wo ist der Sergent?«

    Jeans Lächeln verlor sich, und Brix` Herz blieb stehen.

    »Gérard?« Jean wurde traurig und senkte den Blick. »Ich … weiß nicht, wo er jetzt ist.«

    Alle möglichen schrecklichen Dinge gingen Brix durch den Kopf. Gefangennahme, im Kampf verschollen, desertiert. »Was ist passiert?«, fragte er drängend, und seine Finger bohrten sich in Jeans Arme, er musste sich davon abhalten, den anderen wütend zu rütteln.

    Jean rieb sich die Stirn. »Als der Aufstand begann, kamen wir nach Flandern, das ist nicht so lange her ...«

    »Ihr wart hier?« Brix rüttelte ihn nun doch, aber Jean schien davon kaum etwas mitzubekommen.

    Gérard war die ganze Zeit in Flandern gewesen? Vermutlich irgendwo direkt neben ihm, und er hatte es nicht einmal bemerkt. Sein Herz flatterte, als er daran dachte, dass Gérard immer nur einen Katzensprung entfernt gewesen war. Und Furcht breitete sich wie ein dunkler Teppich in ihm aus, weil er es nicht geschafft hatte, Gérard vom Schlachtfeld fernzuhalten.

    »Ja, wir waren hier«, bestätigte Jean erschöpft und sah Brix in die Augen, »und wir haben gekämpft. Gérard und ich. Seite an Seite. Er … war mein Schild.« Ein leichtes Lächeln trat auf Jeans Lippen, das sofort von Bedauern fortgespült wurde. Brix blieb das Herz erneut stehen. »Er war gut, besser als jeder andere von uns. Aber dann … wurden wir getrennt. Ich weiß nicht, was passierte. Als das Handgemenge zu Ende ging und wir die Leichen vom Schlachtfeld zogen, fand ich ihn. Er war schwer verwundet, eine Hüftwunde. Sie brachten ihn fort, um ihn zu heilen.« Er schüttelte entschuldigend und ratlos seinen Kopf, sodass der offene Verschluss seines Helmes klimperte. »Ich habe seitdem nichts mehr von ihm gehört. Ich weiß nicht, wohin sie ihn gebracht haben. S’excuser.« - Entschuldige.

    Brix wurde kreidebleich. Doch er klammerte sich an seinen letzten Hoffnungsschimmer: »Aber er lebte noch, als sie ihn fortbrachten?«

    Jean nickte. »Vielleicht…«, versuchte er, Brix Mut zuzusprechen, »…haben sie ihn nach Hause geschickt. So lange ist es nicht her, er erholt sich bestimmt noch, si Dieu veut.« …wenn Gott will.

    Brix ließ Jean langsam los, seine Fingerknöchel knackten dabei, weil er ihn derart fest gedrückt hatte. Er fühlte sich wie betäubt, zu schockiert, um es zu begreifen.

    Gérard könnte ebenso gut wie viele andere an seinen Wunden gestorben sein. Niemand seiner Kameraden würde davon erfahren, wenn überhaupt jemand sein Gesicht unter all den Leichen in den Krankenhäusern erkennen würde. Allerhöchstens bestand die Chance, dass seine Mutter benachrichtigt wurde.

    »Es tut mir leid«, flüsterte Jean betroffen, »ich weiß, dass er dir viel bedeutete.«

    Brix starrte an ihm vorbei in die Leere. »Er war mir wie ein Neffe«, log er. Was hätte er sonst sagen sollen?

    Jean versuchte zu lächeln und in seinen Augen lag ein allzu wissender Ausdruck. Er neigte nur noch den Kopf zum Abschied und ließ Brix allein in der Nische zurück.

    Ausatmend lehnte er sich gegen die Wand des Unterstands und rieb sich das aschfahle Gesicht. Seine Hände zitterten heftig dabei. Er hatte so sehr gehofft, Gérard würde all dem fernbleiben, aber nun hatte er nicht nur das Grauen der Schlacht erlebt, er war vielleicht sogar tot.

    Das Schlimmste, was hätte passieren können, war eingetroffen …

    Nein! Sein Herz wehrte sich dagegen, diesen Gedanken auch nur zu formen. Gérard war verwundet worden, aber nicht tot. Wäre er dem Tode geweiht gewesen, hätten sie ihn zum Sterben einfach liegen lassen, statt ihn zurück in die Stadt zu bringen. Er musste irgendwo sein, und er war am Leben, das sagte ihm sein Bauchgefühl.

    Du lebst, dachte Brix entschlossen, und ich werde erst wieder ruhen, wenn ich dich gefunden habe.

    ***

    Die Kutsche fuhr über ein Schlagloch, und Brix erwachte aus seinem traumlosen Schlaf, als sein Kopf gegen die Wand donnerte.

    Es kam ihm vor wie gestern, als er vor den General getreten war, um etwas zu erbitten, von dem er nie geglaubt hatte, dass er es wollen würde.

    »Ihr wollt uns verlassen?« Sein Vorgesetzter war ebenso überrascht gewesen wie er selbst, als er diesen in seinem Quartier aufgesucht und vor dessen Tisch getreten war.

    »Ich habe jahrelang ununterbrochen gedient. Selbst als ich verwundet war, machte ich mich nützlich, so gut ich konnte«, hatte Brix vorgebracht, seine Worte Stunden zuvor wohlbedacht zurechtgelegt, »und ich habe lange und geduldig darauf gewartet, dass man mich wieder in die Schlacht schickt, darauf bin ich stolz und ich bin dankbar. Es ist nicht so, dass ich nicht hier sein will, General, aber es gibt jüngere Männer …«

    »Wir brauchen erfahrene Soldaten, Capitaine«, unterbrach er Brix. Doch er wirkte lediglich verwundert, nicht wütend. Allerhöchstens bedauernd.

    Brix hatte sich geschämt, so sehr, dass er den Kopf senken musste. »Ich weiß«, seufzte er leise, »dennoch möchte ich darum bitten, die Front verlassen zu dürfen. Ich werde der Armee natürlich weiterhin dienen, doch jetzt … gibt es dringende Angelegenheiten, um die ich mich kümmern muss.«

    Brix hatte sich, seit er denken konnte, nichts mehr ersehnt als ein Leben an der Front. Nicht etwa, weil er einen Drang zur Gefahr verspürt hätte, sondern da es für ihn die einzige Möglichkeit gewesen war, seinem adeligen Leben zu entfliehen. Doch dieses Mal musste er von seiner guten Abstammung profitieren, um nach demjenigen zu suchen, dem sein Herz gehörte.

    Beschämt hatte er aufgeblickt. Und irgendetwas in seinem Gesicht musste den General erweicht haben, denn er seufzte und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Lange betrachtete er Brix wie ein Vater den jungen Sohn, der um Unabhängigkeit bat.

    »Ich bin der letzte Mann in meiner Familie, abgesehen von meinem Jungen. Er ist jedoch erst fünfzehn, wenn ich mich recht entsinne.« Brix lächelte schief und freudlos. »Ich habe zwei Jahre lang gekämpft, General, freiwillig. Es gibt Männer aus geringeren Häusern, deren Dienstzeit nicht einmal die Hälfte von dem beträgt, was ich geleistet habe.«

    »Die meisten davon sind tot.«

    »Und ich würde ungern dazugehören und meine Familie ohne Oberhaupt zurücklassen.«

    Der General kratzte sich an seinem dichten, grauen Bart. Eine lange Narbe, die bereits verblasste, zog sich über seine Lippen und verzerrte seinen rechten Mundwinkel zu einem stetig grimmigen Lächeln. Nachdem er Brix noch einmal deutlich von oben bis unten gemustert hatte, seufzte er schwer und beugte sich über seinen Tisch. Er zog ein leeres Pergament heran, nahm die Schreibfeder in die Hand und tunkte ihre Spitze in ein Tintenfässchen. »Das wird Euren Männern nicht gefallen.«

    »Mir gefällt es auch nicht, General«, hatte Brix ernüchtert zurückgegeben. Er fühlte sich wie ein Verräter, als er die Freistellung verlangte und schließlich entgegennahm. Aber er hätte sich nur selbst umgebracht, wäre er geblieben, weil er ununterbrochen an Gérard denken musste und welches Schicksal den jungen Burschen ereilt haben könnte. Derart zerstreut konnte er nicht kämpfen. Brix musste gehen, denn er musste Gérard finden. Dafür nahm er es in Kauf, allem den Rücken zu kehren, was er kannte und liebte.

    Hätte er dazu doch nur vor zwei Jahren den Mut besessen, dann wäre Gérard nie verwundet worden! Brix konnte sich an allem nur selbst die Schuld geben.

    Deswegen muss ich ihn auch jetzt finden.

    Müde zwang er nun in der Kutsche die Augen auf und bemerkte, dass bereits die Abendsonne durch die Vorhänge fiel. Er strich den Stoff beiseite, während er sich den Kopf rieb, und blickte nach draußen. Der alles überlagernde Geruch von Unrat und Fäulnis schlug ihm ins Gesicht, während die Kutsche durch das Tor der Stadt fuhr. Wobei er den Duft nur deshalb so stark wahrnahm, weil er es einfach nicht gewohnt war, in eine so große Ansammlung von Menschen einzutauchen. Er mochte das Stadtleben nicht unbedingt, bevorzugte die Abgeschiedenheit seines Familienanwesens, wenn er nicht gerade mit einem Armeelager unterwegs war. Aber nirgends stank es so sehr wie in den Städten, wo viele Menschen, viel verschmutzten.

    Brix hatte seit seiner Freistellung vom Dienst jedes Krankenlager von Gent bis nach Paris durchsucht, hatte voller Angst Leichenhaufen durchwühlt, und sich hoffnungsvoll bei jedem Helfer nach einem jungen Sergent mit dunkelbraunen Locken und blauen Augen erkundigt, doch Gérard blieb verschwunden, niemand erinnerte sich an ihn. Es hatte einfach zu viele Verletzte gegeben.

    Schließlich war Brix nach Paris gereist, weil Gérard ihm erzählt hatte, dass er in den Straßen der Stadt groß geworden war, nachdem sein Vater im Krieg verschwunden war. Wenn Gérard noch lebte, hatten sie ihn höchstwahrscheinlich nach Hause gebracht. Und wenn nicht, würde seine Mutter vielleicht wissen, was mit ihm geschehen war. Wie er starb.

    Brix verbrachte den Abend und die halbe Nacht damit, Ärzte und Hospitäler abzuklappern, wie ein Kaufmann Markstände. Er fragte herum, nötigte die Ärzte und freiwilligen Helfer zu Antworten, die sie ihm nicht geben konnten, sodass er mit jedem verstreichenden Augenblick und jedem erneuten ratlosen Kopfschütteln verzweifelter wurde.

    Gérard, wo bist du?

    Als er sich spät in der Nacht in einer noblen Stube eines prunkvollen Gasthauses auf dem Bett niederließ, packte ihn die Erschöpfung mit scharfen Klauen, und seine zunehmende Frustration wandelte sich in blanke Furcht.

    Was, wenn ich ihn nicht finde?

    Stöhnend rieb er sich die Augen mit den Handballen. Er konnte nicht einmal den Gedanken zulassen, dass er vermutlich niemals erfuhr, was mit Gérard geschehen war. Wie lange er noch gelebt hatte, und wo und unter welchen Umständen er letztlich seiner Verletzung erlag, sollte er bereits tot sein.

    Brix seufzte und strich sich das kastanienbraune Haar aus der Stirn, krallte sich daran fest und versuchte, Hoffnung zu bewahren. Er war aus einem bestimmten Grund nach Paris gekommen. Wenn Gérard überlebt hatte, dann war er hier. Doch Brix zögerte, nach Gérards Mutter zu suchen, denn wenn er ihn dort nicht fand, würde er ihn niemals finden …

    ***

    Am nächsten Tag war Brix sehr früh morgens auf dem Markt, um nach einer Fischhändlerin zu suchen. Er schimpfte sich umgehend einen Narren, weil er an jeder Ecke eine Händlerin erspähen konnte, die Fisch anbot.

    Außerdem war der Platz derart überfüllt, dass er sich unendlich klein und verloren vorkam. Er wurde verschluckt von der Besuchermenge. Die Woge zog ihn einfach mit sich, er wurde angerempelt und zur Seite gestoßen, und die Menschen warfen ihm missbilligende und ungeduldige Blicke zu, weil er ihnen nur im Wege stand. Unzählige Geräusche und Gerüche drangen auf ihn ein, Händler brüllten durch die Standgassen. Ziegen, Lämmer, Schweine und Gänse blökten, quickten und gackerten in ihren Gattern. Es stank nach fauligem Obst, altem Fisch, vergammeltem Fleisch und Unrat. Er musste sich zusammenreißen, sich nicht sofort zu übergeben.

    Er hasste den Markt, er hasste große Menschenansammlungen, er verabscheute den Lärm und den Gestank. Trotzdem würde er nicht eher gehen, bis er Gérard gefunden hatte. Oder zumindest einen Hinweis auf seinen Verbleib.

    Eine Weile lief er von Stand zu Stand und fragte nach einem jungen, verwundeten Soldaten.

    »Habt Ihr einen Sohn, Madame?«, fragte er jede Frau, die auch nur den geringsten Teil Waren aus dem Wasser anbot. Die

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