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Willenbrecher
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eBook805 Seiten10 Stunden

Willenbrecher

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Über dieses E-Book

Um dem Kopf einer organisierten Sklavenhändlertruppe auf die Spur zu kommen, schleust sich der Ermittler Norman Koch als Drogendealer in eine Verbrecherorganisation ein. Während er, abgeschnitten von seinen Kollegen und Vorgesetzten, sein Leben in Gefahr bringt um die vielen Entführten zu retten, verschwindet erneut ein junges Mädchen, das gar nicht weit von Normans Reichweite entfernt festgehalten und gefoltert wird.
Um sie zu retten benötigt Norman die Hilfe eines alten Bekannten: dem Auftragskiller Alessandro.
Überraschend möchte sich Alessandro mit Norman verbünden um ihm bei dem Fall zu helfen.
Norman lässt sich darauf ein, doch merkt er schnell, das dieser Verbrecher gar nicht so skrupellos war, wie er sich einen Auftragsmörder vorstellte. Zu der Angst, bei diesem Fall zu versagen, drängten sich Norman nun auch noch Gefühle auf, die er gegenüber diesem Mann keinesfalls zulassen will...
*Warnung: Dieser Roman will keinesfalls Gewalt verherrlichen, jedoch tauchen Szenen und Darstellungen von physischer und psychischer Grausamkeit auf, die auf manche Menschen verstörend wirken können. Außerdem enthält diese Geschichte explizit geschilderte homoerotische Szenen, an denen sich einige Menschen stören könnten. Altersempfehlung: ab 18 Jahre
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum14. Jan. 2016
ISBN9783738054965
Willenbrecher

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    Buchvorschau

    Willenbrecher - K.P. Hand

    Prolog

    Alessandro glaubte nicht, dass er sich je in einer solch peinlichen Situation befunden hatte.

    Zähneknirschend schielte er von links nach rechts um seine Umgebung betrachten zu können, doch mehr als graue, fensterlose Wände waren sowieso nicht zu erkennen.

    So sahen also die Verhörzimmer der neuen Polizeistation von innen aus, musste er erkennen. Das war interessant. Er hätte nicht erwartet, dass alles so nach Filmrequisite aussah. Aber ob nun klischeehaft oder nicht, trotzdem wäre es ihm allemal lieber, er hätte mehr als nur eine knappe Unterhose am Leib.

    Nun gut, er musste dem jungen Polizisten, der ihn festgenommen hatte, zugestehen, dass er ihm immerhin erlaubt hatte, barfuss in seine Turnschuhe zu schlüpfen, bevor man ihn mit Handschellen aus seiner Wohnung geführt hatte.

    Tja, den Mietvertrag würde er jetzt wohl nicht mehr verlängern können, befürchtete Alessandro. Die alte Dame, die ihm die kleine Wohnung vermietet hatte, war schon immer paranoid und übermisstrauisch ihm gegenüber gewesen. Nun, da er mit großem Aufsehen abgeführt worden war, würde sie ihn wohl kaum länger in ihrem Haus dulden. Sie hatte immer angenommen, er wäre ein Krimineller, jetzt hatte sie die Bestätigung.

    Zu schade eigentlich, die Wohnung war schön gewesen, bedauerte er seufzend.

    Die Tür öffnete sich und zwei junge Polizisten in ziviler Kleidung betraten den Raum. Ihre Gesichter wirkten verschlossen und hart; attraktiv waren sie trotzdem. Beide hatten dunkles Haar, einer war kleiner und schmäler, während sein Kollege sehr groß und gut durchtrainiert aussah. Seine Schultern waren breit, sein Oberkörper wurde zur Hüfte hin schmäler, und er hatte ein kantiges, männliches Gesicht. Er war geradezu perfekt! Es war derselbe junge Polizist, der Alessandro auch vor etwa einer Stunde festgenommen und hier her gebracht hatte.

    Der schmälere Mann hielt sich abseits und sein gut aussehender Begleiter setzte sich gegenüber von Alessandro auf einen Stuhl. Nur noch der Tisch stand zwischen ihnen, aber für Alessandro war auch dieser schon zu viel. Gern hätte er ihn beiseite geschoben ...

    Der junge Polizist legte eine Akte auf die Tischblatte und schlug sie auf.

    »Also«, begann er und räusperte sich, »Alessandro Martin, achtundzwanzig Jahre alt-«

    »Jung«, fiel Alessandro ihm ins Wort.

    Der Polizist stoppte und schielte ihn genervt an.

    Oh, welch wundervoller Blick aus tiefgründigen braunen Augen, dachte sich Alessandro schmunzelnd. Wie gern er doch dem Ermittler diese ernste Falte zwischen den dunklen Augenbrauen mit dem Daumen glatt gestrichen hätte.

    Der Polizist klappte die Akte zu; ein Zeichen dafür, dass er die Sache nun doch anders angehen wollte. Er lehnte sich zurück und fragte: »Sie sind verwandt mit Enio Martin, richtig?«

    Alessandro nickte. »Er ist mein Bruder. Aber ich bin sicher, das wissen Sie selbst. Es steht doch ganz bestimmt in Ihrer hübschen Akte dort.«

    Der Polizist ignorierte den Kommentar. »Ihr Bruder ist hier nicht unbekannt.«

    »Bin ich deswegen hier?«, klugscheißerte Alessandro entnervt. »Ist es ein Verbrechen der Bruder meines Bruders zu sein?«

    Abschätzend betrachteten sie sich gegenseitig.

    Doch der andere Polizist unterbrach das nette Anstarrduell, indem er vortrat und das Wort erhob: »Wir wollen von Ihnen wissen, wo Sie letzten Montag gegen Einundzwanzig Uhr waren, Herr Martin.«

    »Oh mein Gott, tun Sie das bitte nicht!« Alessandro verzog angewidert das Gesicht. »Nennen Sie mich nicht so, sonst fühle ich mich gleich dreißig Jahre älter.«

    Kollektives seufzen kam von den beiden Polizisten. Eine typische Reaktion anderer Personen auf Alessandro, der die Ausweichtaktik in den letzten Jahren perfektioniert hatte. Ihm war es nicht fremd, dass man so auf ihn reagierte. Um ehrlich zu sein, hätte es ihn mehr verwundert, wenn es anders gewesen wäre.

    »Beantworten Sie einfach unsere Fragen«, forderte der gut aussehende Mann auf.

    Alessandro grinste ihn an und wollte wissen: »Beantworten Sie dann auch meine Fragen, Herr Kommissar

    Er wurde nur kühl angesehen.

    Enttäuscht lehnte er sich gegen seine Stuhllehne. Einen momentlang musterte er die Erscheinung des jungen Mannes, der ihm gegenüber saß. Er schätzte, der Ermittler konnte höchstens in seinem Alter sein.

    So jung, dachte Alessandro bei sich. So jung aber seine Augen strahlten mehr Klugheit und Weisheit aus, als all die anderen Polizisten, denen Alessandro im Laufe seines Lebens bereits begegnet war.

    »Sie sind neu, nicht wahr?«, fragte Alessandro. »Ein Frischling in der Abteilung.«

    Noch immer erwiderte der Mann nichts, sein kühler, distanzierter Blick blieb immer gleich. Abwartend saß er dort, als kenne er bereits jeden Ablenkungstrick, den Alessandro auf Lager hatte.

    Ein Schmunzeln breitete sich auf Alessandros Lippen aus. Dieser Kerl schien ein harter Brocken zu sein. Gut! Denn Alessandro mochte es, wenn man es ihm nicht so leicht machte. Endlich hatte die Abteilung für organisiertes Verbrechen einen fähigen Ermittler ins Rennen geschickt. Diese Sache hier konnte tatsächlich interessant werden.

    »Sie wollen wissen, wo ich letzten Montag war?«, fragte Alessandro und lehnte sich auf die Tischplatte. »Ich sag Ihnen was, schicken Sie doch Ihren Kollegen nach draußen und ich verrate Ihnen alles, was Sie wissen wollen.«

    Der Kollege schnaufte belustigt, doch das Interesse des anderen Ermittlers war geweckt, das konnte Alessandro ihm deutlich ansehen. Er schien sowieso keine Lust dazu zuhaben, das man ihm bei dem Verhör über die Schulter blickte.

    »Ist gut«, beschloss er und wandte sich dann an seinen Kollegen, »geh doch kurz vor dir Tür, ich regle das.«

    Der Kollege blickte den Mann vor Alessandro grimmig an. Er schien etwas sagen zu wollen, doch er schloss wieder den Mund und ging kopfschüttelnd zur Tür.

    Alessandro sah ihm etwas verwundert nach, er hätte nicht erwartet, dass sein Vorschlag so schnell angenommen werden würde.

    Befürchtend blickte er den Kommissar wieder an, der nun ein leicht amüsiertes Funkeln in seinen braunen Augen hatte.

    Vielleicht war das doch keine so gute Idee gewesen, befürchtete Alessandro. Er wäre nicht der erste Verdächtige, der verprügelt worden wäre.

    »Also«, drängte der Ermittler, »wo waren Sie am besagtem Tag?«

    Alessandro nahm einen verschlossenen Gesichtsausdruck an und lehnte sich wieder zurück, eher er erwiderte: »Wieso, was war denn da?«

    »Das wollte ich von Ihnen hören, Alessandro«, wich der Ermittler aus.

    Alessandro lächelte und sagte: »Das ist unfair, oder?«

    »Was denn?«, brummte der Kommissar.

    »Sie kennen meinen Namen, ich aber Ihren nicht.« Und es war wichtiger denn je, den Namen zu erfahren. Er schien ein unnachgiebiger, verbissener Hund zu sein, die Sorte Ermittler, die endlich mal Aktion in das Getümmel bringe würde. Aber nichtsdestotrotz war er eine Gefahr, die man besser im Auge behalten sollte. »Nennen Sie mir Ihren Namen, Herr Kommissar, und ich verrate Ihnen, wo ich letzten Montag war.«

    Nun lehnte sich der Ermittler auf den Tisch und erklärte ungeduldig: »Das hier ist eine Befragung, das ist Ihnen doch bewusst, oder? Das wird kein Geben und Nehmen-«

    »Das ist aber schade«, witzelte Alessandro, »denn ich bin für gewöhnlich der, der sehr gerne gibt. Genau genommen, gebe ich ausschließlich und nehme nichts dafür. Wie wäre es? Ich gebe und Sie nehmen sich, was immer Sie von mir benötigen. Glauben Sie mir, Sie verpassen da wirklich etwas, wenn Sie das Angebot abschlagen.«

    Für gewöhnlich zuckten Polizisten bei seinen zweideutigen Aussagen zurück, oder wurden zumindest aus dem Konzept gebracht, weil es ihnen unangenehm war. Doch dieser nicht. Er schien Alessandros Verhalten als Taktik, das Verhör sabotieren zu wollen, abzutun. Mit anderen Worten: er schien Alessandro nicht ernst zu nehmen.

    Schade eigentlich ...

    »Wir spielen hier keine Spielchen«, sagte der Kommissar ruhig aber betont. »Ich stelle die Fragen und Sie antworten mir. Andernfalls sehe ich es als Weigerung Ihrerseits und lasse Sie wegsperren, bis Sie bereit sind, mit mir zu sprechen.«

    Alessandro schmunzelte daraufhin belustigt. »Sie sind gut. Wirklich gut! Aber wissen Sie, ich bin nicht dumm und das hier ist auch nicht die erste Vernehmung, die ich mitmache. Ich weiß also, welche Rechte ich habe und welche Sie haben. Und wenn ich nicht auf Ihre Fragen antworte und Sie keine handfesten Beweise für ein schwerwiegendes Vergehen haben, müssen Sie mich gehen lassen.«

    Der Kommissar presste seine vollen Lippen aufeinander.

    »Also, so wie ich das sehe, sind Sie darauf angewiesen, das ich rede, andernfalls, bin ich schneller wieder hier draußen, als Ihnen lieb sein wird.«

    »Ein paar Tage werde ich Sie schon hier behalten können«, warf der Kommissar ein.

    »Sicher«, bestätigte Alessandro. »Wegen Indizien, nehme ich an? Die gleichen Indizien, die Ihnen erlaubt haben, mich halb nackt herzubringen, oder? Aber so oder so, werde ich freigelassen, ob heute oder in drei bis fünf Tagen, wenn mein Anwalt schnell arbeitet.«

    Der Kommissar verengte die Augen und lehnte sich zurück. »Was wollen Sie?«

    »Ihren Namen«, säuselte Alessandro, »fürs Erste.«

    Der Kommissar schnaubte kopfschüttelnd, doch dann sah er Alessandro an und gab nach. »Koch«, antwortete er, »Norman Koch.«

    Der Name sagte Alessandro nichts, also war er wirklich neu in der Abteilung.

    »Und jetzt Sie«, forderte Koch ihn auf.

    »Letzten Montag, hm?« Alessandro grübelte laut. »Das war der elfte Mai, oder? Hm, lassen Sie mich überlegen...«

    »Gegen Einundzwanzig Uhr.«

    »Oh Gott, das ist ewig lange her…«

    Der Kommissar schaute grimmig drein.

    Alessandro musste sich ein Schmunzeln verkneifen. Dieses Hinhaltespielchen trieb er gerne mit den Gesetzeshütern. Das trieb sie alle in den Wahnsinn. Und der ungeduldige Blick diesen Exemplars gefiel Alessandro sehr.

    »Ich war unterwegs.«

    »Wo waren Sie?«, wollte der Ermittler wissen.

    Grinsend antwortete Alessandro: »In der Innenstadt. Ich hatte anonymen Sex in einer Seitengasse.«

    Kommissar Koch verschränkte die Arme vor der Brust. »Kann das jemand bezeugen?«

    »Klar doch! Ungefähr sechs Frauen und zwanzig Zuschauer ...«

    Der Kommissar seufzte genervt.

    »Ich meine, was denken Sie denn?«, lachte Alessandro. »Was glauben Sie, was anonymer Sex bedeutet?«

    »Und wo waren Sie wirklich?«, verlangte Koch zu wissen. Seine Geduld mit Alessandro neigte sich dem Ende zu.

    Alessandro lächelte und beschloss, wahrheitsgemäß zu antworten: »Ich war bei meinem Bruder. Den ganzen Abend.«

    Der Kommissar klappte die Akte auf, er legte einige Blätter verdeckt zur Seite bis er ein freies Blatt fand und nahm dann einen Kugelschreiber zur Hand um sich Notizen zu machen.

    »Die Villa Ihres Bruders Enio Martin?«, fragte er dann.

    »Ja, ich habe nur den einen Bruder.«

    »Ich brauche genaue Aussagen für das Protokoll«, erwiderte der Kommissar, als wollte er sich für seine ständigen Nachfragen entschuldigen.

    Alessandro wusste, dass man genaue Aussagen von ihm benötigte, deswegen formulierte er seine meisten Aussagen ungenau.

    »Wann kamen Sie dort an?«

    Alessandro holte Luft und erklärte in einem Rutsch: »Ich kam gegen Achtzehn Uhr dort an und übernachtete in meinem alten Jugendzimmer. Gegangen bin ich am nächsten Morgen etwa gegen Elf Uhr.«

    »Und Ihr Bruder wird das bezeugen?«

    »Natürlich, er war ja da«, erwiderte Alessandro.

    »Was haben Sie genau dort gemacht?«

    Alessandro seufzte. »Sie werden meinen Bruder ganz genau darüber ausfragen, habe ich Recht? Und wenn meine Aussage auch nur einwenig von der meines Bruders abweicht, werden Sie mich des Lügens beschuldigen, stimmt doch, oder?«

    »Beantworten Sie mir die Frage!«

    »Erst will ich wissen, was ich angeblich wieder verbrochen habe«, verlangte Alessandro dreist. »Was ist an diesem Tag passiert?«

    Der Polizist warf ihm einen ärgerlichen Blick zu.

    »Hey, Sie werden mir ja wohl sagen können, was Sie mir vorzuwerfen versuchen!«

    Koch atmete geräuschvoll aus und fuhr sich entnervt durch sein geradezu absurd perfektes Gesicht. Sein Antlitz war wirklich faszinierend, musste Alessandro zugeben.

    »Sie würden sich verdammt gut als Marmorstatue machen, wissen Sie das?«, lenkte Alessandro vom Thema ab. »So groß und ... männlich. Mit diesen Muskeln und diesem symmetrischen Gesicht, das zugleich schön und stark wirkt. Was halten Sie davon? In einer Kriegerpose mit hocherhobenem Schwert, zerzaustem Haar und grimmiger Miene ... halbnackt in Stein gemeißelt? Hört sich gut an, oder nicht?«

    Der Kommissar erwiderte ruhig Alessandros Blick.

    Alessandro schüttelte den Kopf. »Nein?«

    Der Kommissar rührte sich nicht.

    Er war enttäuscht. »Dann nicht.«

    Koch atmete ein und erklärte schließlich: »Es geht um eine Vergewaltigung. Eine junge Frau hat Sie angezeigt.«

    Alessandro starrte den Ermittler eine volle Minute sprachlos an. Dann fing er an zu lachen und rief amüsiert: »Was

    Der Ermittler fand das nicht witzig, aber er konnte ja auch nicht wissen, wie absurd das war.

    Alessandro dachte nach, dann kam ihm eine Idee, welches kleine Miststück eine solche Behauptung aufgestellt haben könnten. »Lassen Sie mich raten, die Dame heißt Clarissa Lang?«

    Koch runzelte die Stirn, antwortete aber: »Ganz genau.«

    Alessandro nickte und sagte dann gelassen: »Das kann ich erklären.«

    »Bitte«, forderte Koch ihn auf.

    »Hören Sie, dieses Miststück war lange mit meinem Bruder liiert, überprüfen Sie das, die ganze Stadt müsste davon wissen! Jedenfalls habe ich meinem Bruder gesagt, er soll sie loswerden, weil sie nur eine geldgeile Schlange ist, der man nicht trauen kann. Und ... was soll ich sagen? Mein Bruder hörte eben auf mich und verließ sie, seitdem ist sie darauf aus, mich irgendwie zu zerstören.«

    Es war eigenartig für Alessandro, bei einem Verhör mal wirklich die Wahrheit zu sagen.

    Aber Koch wirkte noch immer nicht überzeugt.

    »Ach ich bitte Sie! Sehe ich aus wie ein Vergewaltiger?«, rief Alessandro. »Sehen Sie mich an, ich bin zwar groß aber schmal. Ich kenne Clarissa, sie hat mehr Oberarmmuskeln als ich, sie wäre mir haushoch überlegen gewesen, selbst dann, wenn ich es versucht hätte. Was ich aber nicht habe!«

    Er hatte sich ja schon viel anhören müssen, aber Vergewaltiger? Das war wirklich geradezu absurd. Er hätte da ein Argument, das er vielleicht vorbringen sollte, aber solange das nicht unbedingt nötig war, würde er es vermeiden, sich zu offenbaren.

    Er soll sich an Frauen vergehen? ... So etwas Bescheuertes hatte er wirklich noch nie gehört.

    »Also, was haben Sie bei Ihrem Bruder gemacht?«, fragte Koch erneut.

    Alessandro ließ den Kopf hängen und verharrte eine Weile so.

    »Wir haben zusammen gegessen«, antwortete er schließlich auf die Frage. »Nach dem Essen blieb ich noch eine Weile. Wir unterhielten uns, tranken dabei etwas zu viel Alkohol, weshalb ich schließlich nicht mehr fahren konnte. Deshalb habe ich dort übernachtet. Das kann nicht nur mein Bruder bezeugen, sondern auch sämtliches Personal.«

    Koch hatte sich das alles auf einem Zettel notiert, er nickte dabei immer mal wieder.

    »Okay, vielen Dank.«

    »Ich schätze, Sie müssen mich jetzt gehen lassen«, sagte Alessandro triumphierend. »Meine Aussage steht gegen die des angeblichen Opfers. Bis mein Alibi überprüft wurde, bin ich ein freier Mann.«

    »Da haben Sie recht«, gab der Kommissar zurück.

    Und da Alessandro die Wahrheit sagte, würde er auch weiterhin frei bleiben.

    »Wenn Sie die Wahrheit sagen, sollten Sie sich überlegen, mal juristisch gegen diese Clarissa Lang vorzugehen, Alessandro.«

    Alessandro grinste und fragte provozierend frech: »Sorgen Sie sich um meinen guten Ruf, Kommissar?«

    »Nur darum, Ihr Gesicht öfter sehen zu müssen«, gab der Ermittler zurück.

    Ach, Alessandro hätte aber nichts dagegen, ihn öfter zu sehen. Allerdings wären ihm eine andere Umgebung und eine andere Situation lieber gewesen.

    »Ich nehme an, Sie wollen jemanden anrufen, der Sie abholt?«, fragte Koch und deutete mit dem Kugelschreiber auf Alessandros nackte Brust.

    Kurz sah Alessandro an sich hinab, dann erwiderte er: »Ist es nicht Erregung öffentlichen Ärgernis, wenn ich so nach Hause laufe? Demnach dürfen Sie mich so wohl nicht gehen lassen, oder?«

    »Ich weiß nicht.« Der Kommissar runzelte die Stirn. »Ist vielleicht eine Grauzone«, scherzte er dann, »immerhin sind Sie nicht ganz nackt.«

    Alessandro schmunzelte ihn an. »Könnte man schnell ändern.«

    »Könnte man«, gab der Kommissar - ganz zu Alessandros Erstaunen - zurück. Und dann lächelte er auch noch! Das war das erste Mal, das Alessandro ihn lächeln sah.

    Und es war herrlich!

    Der Kommissar schob die Blätter wieder in die Akte und erhob sich schließlich von seinem Stuhl. Er ging in Richtung Tür. »Ein Kollege wird Sie zu einem Telefon bringen.«

    »Ist gut«, erwiderte Alessandro, konnte aber den Blick nicht von dem Ermittler nehmen.

    »Ach und ... nein, auf mich wirken Sie nicht wie der typische Vergewaltiger«, sagte der Ermittler und drehte sich an der Tür noch einmal um. »Sie ... haben einfach nichts ... Dominantes an sich.«

    Oh, wie recht er doch damit hatte, überlegte Alessandro schmunzelnd.

    »Und ehrlich gesagt ...«, der Kommissar musterte Alessandros Erscheinung, »... nun, ich schätze, jemand wie Sie hat es auch nicht nötig, oder?«

    »War das ein Kompliment?«, hakte Alessandro erfreut nach.

    Koch grinste verschmitzt, erwiderte aber: »Nichtsdestotrotz behalte ich Sie im Auge!«

    Darauf hatte Alessandro gehofft.

    »Ich bin sicher, wir werden in Zukunft viel Spaß miteinander haben, Kommissar Koch«, rief er dem Ermittler nach, als die Tür hinter diesem langsam zufiel, dabei betonte er mit Absicht die letzten Worte anzüglich.

    Oh ja, dachte er bei sich, der neue Ermittler würde endlich frischen Wind in die Stadt bringen.

    1

    8 Jahre später...

    Mona Lorenz schüttelte verärgert ihren Kopf.

    Eigentlich wollte sie das hier gar nicht, aber ihr Vater hatte sich mal wieder gegen ihren Willen durchgesetzten. Mit erhobener Stimme hatte er ihre Einwände abgetan und sie zum zittern gebracht. Schon als kleines Mädchen hatte sie Angst bekommen, wenn er schrie, obwohl er sie nie ernsthaft geschlagen hatte, aber die dunkle Stimme ihres Vaters konnte sehr einschüchternd sein. Sogar der Familiehund zuckte dabei zusammen. Deshalb hatte sie auch letzten Endes keine andere Wahl gehabt, als bei dieser Rechtsanwaltsfirma anzurufen, um sich für die angebotene Ausbildungsstelle zu bewerben. Es war eine echte Chance, keine Frage, denn diese Firma stellte auch Personen mit mittelmäßigem Schulabschluss - wie Mona einen hatte - ein. Das Problem war nur, das sie nie Bürofachangestellte hatte werden wollen.

    Sie war eher eine kreative Person. Zeichnen konnte sie gut. Menschliche Gesichter waren ihre Spezialität. Daraus kreierte sie meistens außergewöhnliche Bilder. Fantasiewesen oder Science-Fiction Kreaturen. Es waren menschliche Gesichter, die aussahen, als wären sie von Computerviren befallen. Ihre Website war sehr beliebt, nur verdiente sie damit kein Geld.

    Und da lag das Problem.

    Lern was Richtiges, schimpfte ihr Vater.

    Und deshalb saß sie nun in dieser großen Rechtsanwaltsfirma, die Arme vor der Brust verschränkt und ärgerlich den Kopf schüttelnd.

    Mona seufzte leise.

    Sie wollte das hier nicht, dennoch würde sie sich bei ihrem Vorstellungsgespräch von ihrer besten Seite zeigen. So war sie einfach.

    Mittlerweile müsste sie es gewohnt sein, zu Vorstellungsgesprächen gehen zu müssen, zu denen sie nicht wollte. Ihre Familie drückte sie ständig irgendwo rein.

    Ist das Sinn der Sache? Funktionierte das System wirklich so? Jeder Mensch sollte einfach irgendetwas arbeiten, völlig egal, ob es ihn glücklich machte oder nicht?

    Man brauchte sich nicht über ältliche psychische Erkrankungen zu wundern. Und man musste sich auch nicht fragen, warum sich fast wöchentlich jemand vor einem Zug schmiss. Wer ging denn schon gerne sieben Tage die Wochen zu einem verhassten Job?

    Mona wollte das nicht, doch wie so oft hatte sie keine andere Wahl. Genau genommen, hatte sie noch nie eine Wahl gehabt. Dieses Gefühl war schrecklich! Es engte sie ungemein ein. Manchmal, so wie im Moment, hatte sie das Gefühl, deshalb keine Luft mehr zu bekommen.

    »Du musst, Mona! Du musst!« – »Ich bin nicht ewig da!«

    Jedes Mal wenn ihr Vater oder ihre Mutter so etwas sagten, spürte sie ein eigenartiges Gefühl tief in der Brust. Wie eine Hand die langsam ihre Lunge zuquetschte.

    Es war Angst, das wusste sie. Die Angst, irgendwann - so, wie es ihre Mutter immer prophezeite - allein zu sein. Und niemand war gerne völlig alleine und auf sich gestellt, oder?

    Was würde sie nur tun, wenn ihre Eltern irgendwann nicht mehr wären? Nicht nur in finanzieller Hinsicht war sie dann aufgeschmissen. Bei wem sollte sie sich einen Rat holen? Wem konnte sie sich dann noch anvertrauen? Wer war da, wenn es ihr nicht gut ging?

    Mona war trotz der ständigen Zwänge ein Familienmensch, der ohne den Rückhalt der Familie nicht leben konnte.

    »Frau... Hochhausen?«

    Mona fuhr hoch, als eine junge Frau mit blondem Haar im Bürooutfit um die Ecke kam. Sie hielt ein Klemmbrett in der Hand, auf dem zweifelsohne die Namen der Bewerber aufgelistet waren, doch Mona war im Moment alleine in dem grauen Warteraum.

    Verwundert hob die blonde Frau den Kopf und sah sich suchend um.

    Ihr Blick fiel auf Mona und sie wollte wissen: »Sie sind nicht Frau Hochhausen?«

    Mona lächelte, schüttelte aber den Kopf. »Nein, mein Name ist Lorenz.«

    Die blonde Frau seufzte und sah auf die Liste. »Nun, wie es scheint, hat sich diese Frau Hochhausen anders entschieden oder verspätet sich wohlmöglich.«

    Mona wusste nicht, ob und was sie darauf erwidern sollte, deshalb rang sie sich lediglich ein halbherziges Grinsen ab, das sowieso nicht gesehen wurde.

    »Also dann«, erhob die blonde Frau wieder das Wort und sah Mona freundlich an. »Dann ziehen wir Sie eben vor. Wie war Ihr Name noch gleich?«

    »Lorenz«, wiederholte Mona und erhob sich, »Mona Lorenz.«

    Die Frau runzelte die Stirn und begutachtete ihre Liste.

    »Hm«, machte sie nachdenklich, »Sie stehen gar nicht auf der Bewerberliste.«

    »Ich weiß«, erklärte Mona, »ich habe gestern Abend angerufen und mich beworben, Ihr Kollege sagte, ich solle heute einfach vorbei kommen und meine Bewerbungsunterlagen mitbringen, man würde mich dann drannehmen, wenn die anderen Bewerber durch sind.«

    Die Blonde lächelte erneut charmant. »Verstehe. Okay, dann kommen Sie doch einfach schon mal mit, so wie es aussieht, wird Ihre Vorgängerin heute nicht mehr auftauchen.«

    Mona folgte der blonden Frau - die sie ohne Neid als Schönheit bezeichnen würde - durch einen langen Flur zu einem Raum voller Schriebtische und Computer.

    Mona war kurz verwundert, denn sie hatte einen Konferenzraum mit mehreren Frauen und Männern erwartet, die sie verhören würden. Stattdessen wurde sie zu einem Mann an einem Schreibtisch geführt, der geschäftig auf seiner Tastatur herumklimperte.

    Er war klein, bummelig und hatte sein mittelbraunes Haar zu einer schmierigen Frisur gestylt. Sein Anzug war schmutzig, sein Hemd wies Senfflecken auf und seine runde Brille saß schief auf seiner dicken Knollennase.

    »Einen Moment«, sagte er abweisend ohne aufzusehen, als Mona neben ihm stehen blieb.

    Die blonde Sekretärin drückte aufmunternd Monas Arm und flüsterte ihr freundlich zu: »Viel Glück.«

    »Danke«, hauchte Mona zurück und strich sich schüchtern eine ihrer hasselnussbraunen Haarsträhnen, die sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst hatte, hinter ihr Ohr.

    »Setzten Sie sich«, brummte der Mann am Computer.

    Mona kam dem geknurrten Befehl nach und fühlte sich reichlich unwohl, als sie sich auf dem Stuhl niederließ, der an der kurzen Seite des überfüllten Schreibtischs stand.

    Sie warf einen unauffälligen Blick auf den Bildschirm des Mannes, konnte aber mit der aufgerufenen Website nichts anfangen. Sie erkannte Fotos von jungen Menschen. Frauen und Männer Anfang zwanzig, vielleicht auch jünger, dahinter las sie Namen ohne Nachnamen und Zahlen mit einem Eurozeichen.

    Der Mann, der sich ihr nicht vorstellte, ließ von der Tastatur ab und sah sie an.

    Erwischt!, dachte Mona und wurde rot.

    Nun lachte der Mann auf. »Keine Sorge, ich mache kein großes Geheimnis daraus, das ich für Sex zahlen muss.«

    Mona wünschte, er hätte eines daraus gemacht.

    »Interessant, was man mittlerweile alles im Internet erwerben kann«, murmelte sie.

    Er lachte erneut auf. »Sie ahnen ja gar nicht, was man noch so alles kaufen kann.«

    Nun wandte er sich ab und ließ das Thema fallen. Er schnappte sich ein Blattpapier von einem unordentlichen Stapel und beugte sich mit einem Kugelschreiber darüber.

    »So, Frau ... Hochhausen. Sie haben also bereits mehrere Ausbildungen angefangen aber wieder abgebrochen-«

    »Ich bin nicht Frau Hochhausen«, unterbrach Mona schnell. »Ich ... Mein Name ist Mona Lorenz, ich wurde vorgezogen, weil Frau Hochhausen wohl nicht erscheint.«

    Er brummte etwas Unverständliches und strich etwas auf dem Blatt aus. Dann legte er es auf einen anderen Stapel.

    »Haben Sie das Formular ausgefüllt?«, fragte er genervt.

    »Nein«, antwortete Mona. »Ich habe gestern Abend angerufen und wurde für heute eingeladen. Ich habe meine Bewerbungsmappe-«

    »Lebenslauf?«

    Mona stockte kurz, weil sie unterbrochen wurde, antwortete dann aber: »Ja. Natürlich!«

    Er streckte den Arm aus und machte mit seinen Fingern eine auffordernde Geste.

    Diese herablassende Art die er hier anstrebte, machte Mona langsam wirklich wütend. Am liebsten wäre sie gegangen, doch das würde ihren Vater nur wieder zornig machen, deshalb kramte sie aus ihren Unterlagen den Lebenslauf hervor und gab sie kommentarlos dem Mann.

    Er sah sich das Blatt nicht einmal an, er legte es zur Seite und reichte ihr ein Formular.

    »Ausfüllen«, befahl er im schroffen Ton und knallte einen Kugelschreiber auf das Formular.

    Mona blinzelte ihn verwundert an, doch er würdigte sie keines Blickes.

    Ausatmend nahm sie den Kugelschreiber an sich und beugte sich über das Formular. Die ersten Dinge waren leicht auszufüllen und standen bereits in ihrem Lebenslauf: ihr Name, ihr Geburtsdatum, Familienstand. Hatte sie Eltern? - Wenn ja: Name der Eltern, Tätigkeit der Eltern.

    Aber dann wurde es kurios.

    Sie wurde gefragt, ob sie Medikamente nahm, ob sie ansteckende Krankheiten hätte, ob sie schwanger sei, ob sie rauchte und ob sie schon einmal eine Suchterkrankung aufzuweisen hätte. Zudem wurde gefragt, ob sie zu einem Therapeuten ging.

    Mona wusste, worauf das hinauslief.

    Diese Firma nahm vielleicht mittelmäßige Schüler an, doch diese mussten voll und ganz gesund sein. Körperlich und psychisch.

    Kurz war sie versucht, einzutragen, dass sie eine ehemalige Alkoholikerin wäre und abhängig von schwere Psychopharmaka war. Doch stattdessen kritzelte sie einfach irgendwelche Zeichen in die Spalten, damit es so aussah, als hätte sie etwas eingetragen. Säße sie nicht direkt neben diesem Typ, hätte sie sich die Mühe erspart.

    Wie nicht anders erwartet, nahm er das Formular ohne einen Blick darauf geworfen zu haben an sich und legte es zu ihrem Lebenslauf.

    »Danke. Warten Sie bitte draußen, wir geben Ihnen gleich bescheid.«

    Mona hätte gerne abfällig geschnauft, doch sie verbiss es sich. Kommentarlos erhob sie sich und wandte sich ab.

    Ekelhafter Lustmolch!, schimpfte sie in Gedanken. Da schaut er sich im Internet Prostituierte an, anstatt anständig seinen Job zu machen!

    Aber ihr konnte es recht sein. Nun, da sie das Formular nicht richtig ausgefüllt hatte, waren ihre Chancen hier sowieso auf Null zurückgeschnellt.

    Mona kam wieder im Wartebereich an, nun saß die blonde Frau hinter dem Anmeldetresen. Sie lächelten sich zu, als Mona sich setzte.

    Kurz darauf klingelte ein Telefon. Die Sekretärin nahm den Hörer ab und ging ran. Sie horchte, legte auf und verließ den Raum.

    Mona seufzte tief und lehnte sich gegen die Stuhllehne. Sie wollte hier raus und endlich nach Hause. Hier in dieser Firma würde sie nicht einmal arbeiten wollen, wenn man sie darum anbetteln würde. Ihr Vater sähe das bestimmt anders, aber Mona hatte ein schlechtes Gefühl. Und im Zweifelsfall verließ sie sich stets auf ihre Gefühle.

    Mona musste noch eine volle Stunde warten, eher die blonde Frau wieder auftauchte und mit einem bedauerlichen Blick auf sie zukam. »Entschuldigen Sie, dass Sie warten mussten, aber manche Bewerber werden sofort überprüft, das erspart uns viele Telefonate.«

    Mona erhob sich und zog den Riemen ihre Tasche über die Schulter. Sie wusste, was nun kam.

    »Tut mir sehr Leid, Frau Lorenz, aber ... Sie sind nicht das, was wir suchen.«

    »Schon gut. Verstehe schon.«

    Die Sekretärin sah sie mitleidvoll an: »Tut mir wirklich leid.«

    »Muss es nicht.« Mona lächelte und dachte bei sich, das sie noch einmal davon gekommen war.

    Sie verabschiedete sich von der Frau und verließ den großen Bürokomplex.

    Eisige Luft wehte ihr auf dem Parkplatz entgegen, weshalb sie ihren schwarzen Mantel enger zusammen zog. Es war Januar und tiefster Winter, deshalb war der Himmel der Stadt bereits stockdunkel, obwohl noch nicht einmal achtzehn Uhr sein konnte.

    Mona hasste es, alleine bei Dunkelheit durch die Straßen zu laufen, egal wie früh am Abend es war. Aber sie hatte kein Auto, nicht einmal eine Fahrerlaubnis, und ihre Mutter hatte keine Zeit, sie abzuholen. Vielleicht wäre ihr Bruder zuhause, aber zu diesem hatte Mona kein gutes Verhältnis.

    Sie holte ihr Handy hervor und sah auf die Uhr. - Es war gerade erst 17:48Uhr.

    Zwar lag die nächste Bushaltestelle nur fünf Minuten entfernt ... trotzdem beschloss Mona, den langen Weg zum Fitnessstudio zu laufen, in dem ihr fester Freund arbeitete.

    Dafür musste sie aber in die andere Richtung. Zum Glück wusste sie, das es hinter dem Gebäude einen weiteren Ausgang gab, von dort aus sie auf die Straße gelangte, die sie nehmen musste. - Eine willkommene Abkürzung!

    Nachdem Mona sich in Bewegung gesetzt hatte, bereute sie ihre Entscheidung bereits nach drei Metern, denn hinter dem Bürokomplex war es noch düsterer. Hier gab es keine Autos, keine umliegenden Hauswände mit Fenstern. Nur Müllcontainer, dunkle Ecken und die große Garagentore in der Fassade des Betongebäudes.

    Mona ging schneller, als sie glaubte, hinter sich ein Geräusch gehört zu haben. Schlurfende Schritte, wenn sie sich nicht täuschte.

    Sie beruhigte sich damit, dass ihr Verstand ihr Streiche spielte. Wer sollte hinter ihr sein? Obwohl ... plötzlich erinnerte sie sich daran, das es zwei Städte weiter vermehrt zu Vergewaltigungen gekommen war. Außerdem waren in letzter Zeit in der Gegend mehrere Menschen verschwunden. Einige hat man tot wieder aus dem Fluss gefischt.

    Mona ging nun schneller, sie rannte fast, während ihre Schuhe laut auf dem Betonboden klackerten.

    Als sie endlich das geöffnete Tor erreichte, bog ein großer Lieferwagen in die Einfahrt.

    Mona war gezwungen, auszuweichen. Sie ging einige Schritte zurück, damit der Fahrer die Tordurchfahrt durchqueren konnte, dabei sah sie, dass niemand hinter ihr her gewesen war.

    Alles nur Einbildung, beruhigte sie sich und atmete erleichtert auf.

    Der Wagen fuhr auf das Gelände und umrundete das Gebäude, bestimmt hatte er ebenfalls nur eine Abkürzung nehmen wollen.

    Mona verließ die Tordurchfahrt und schüttelte über sich selbst den Kopf.

    Sie war stets so ängstlich!

    Über sich selbst schimpfend lief sie die dunkle Straße entlang und bemerkte dabei nicht, dass sie von einem Schatten verfolgt wurde, der sich seit dem Verlassen der Firma an ihre Fersen geheftet hatte.

    ***

    Norman rieb sich über sein müdes Gesicht.

    In den Innenflächen seiner Hände spürte er die Stoppel seines Dreitagebarts, den er sich hatte wachsen lassen, um seiner falschen Identität den letzten Schliff zu verleihen.

    Als Norman Koch, der Mann, der er wirklich war, trug er stets ein glatt rasiertes Gesicht und sportlichelegante Kleidung. Aber so durfte seine Rolle nicht auftreten.

    Der Name seiner Rolle lautete Alexander Neumann. Ein fiktiver Mann, der auf der Straße aufgewachsen und sich als Kleinkrimineller durchgeschlagen hatte. Solche Kerle trugen selten Sportsakkos und glatt rasierte Gesichter.

    Norman hatte sich gehen lassen. Wochenlang! Eher er in seine Rolle geschlüpft war.

    Und es hatte sich gelohnt. Die Kerle haben es ihm abgekauft. Nun durfte er sich als integriertes Mitglied einer organisierten Verbrecherbande sehen; über die seine Vorgesetzten dringend mehr Informationen benötigten. Denn diese Kerle waren neu in der Stadt und seitdem sie da waren, fischte man mehrmals im Monat Leichen aus dem Fluss. Es verschwanden Menschen; überwiegend Leute mit recht wenig Angehörigen. Bis ihr Verschwinden bemerkt wurde, konnten die Behörden nicht mehr viel zutun.

    Keiner, der bisslang Entführten, konnte bisher lebend gefunden werden.

    Und genau deshalb wurde aus Norman Koch - einer der besten Sonderermittler der Umgebung - Alexander Neumann, einem widerlichen kleinkriminellen, der gerne der Handlanger des Kopfes dieser neuen Organisation wäre.

    Nun, soweit war er noch nicht, aber er durfte sich mittlerweile wenigstens zum unteren Fußvolk zählen.

    Das Schlimme an der Sache war nicht einmal, vorzugeben, jemand zu sein, den man eigentlich verabscheuen würde, schlimmer war es, keinerlei Kontakt zu Kollegen haben zu können, solange er noch keinen richtigen Fuß in der Tür hatte.

    Er durfte nicht riskieren, aufzufliegen. Also war Norman schon seit Wochen ganz allein. Lebte in einer Wohnung, die nicht seine war. Fuhr einen Wagen, der nicht seiner war. Trug abgetragene Sachen, die eindeutig nicht seine waren.

    Ab und an ging er joggen und lief soweit, bis er mitten in der Wildnis stand. Erst wenn er sich sicher war, das ihn niemand beobachtete, holte er ein Handy hervor und benutzte eine sichere Leitung um mit seinem Chef über Codewörter per Kurznachrichten kommunizieren zu können.

    Von seiner Partnerin Fatima und ihrem Neuzugang, dem jungen Tom, hatte er seit Wochen nichts gehört. Solange Norman diesen Undercovereinsatz hatte, war er quasi auf sich alleine gestellt.

    Aber ihm war es lieber so. Er erledigte das alleine, statt seine Kollegin in Gefahr zu bringen.

    Fatima hatte Familie. Eine Mutter und einen Vater. Kleine Geschwister und einen großen Bruder, der Norman in den Boden stampfen würde, wenn Fatima etwas zustieße.

    Und Norman hatte nur sich selbst.

    Keine Verwandten, da er Waise war. Kinder hatte er noch nie haben wollen, ebenso wenig hatte er das Bedürfnis, zu heiraten; oder eine anderweitig ernsthafte Beziehung einzugehen.

    Es wäre nicht fair einer anderen Person gegenüber, denn er lebte ausschließlich für seine Arbeit. Wenn dieser Einsatz schief lief, würden also nicht viele um Norman trauern.

    Das war auch gut so. Genauso hatte Norman es gewollt. Dennoch hoffte er, dass alles weiter nach Plan verlief. Nicht für sich, sondern für all jene, die entführt wurden.

    Normans Auftrag lautete, an so viele Informationen wie möglich zu kommen. Aber natürlich war Vorrang, herauszufinden, wer der Kopf der neuen Bande war und was mit den Entführten gemacht wurde. Wohin verschwanden sie? Lebten sie noch? Was geschieht mit ihnen? Was hatte man mit ihnen vor?

    Fragen, die nur jemand beantwortet bekommen würde, der einer von ihnen war.

    Norman rieb sich den Nacken und klappte mit der freien Hand sein Notebook zu. Er hatte stundenlang gelangweilt auf illegalen Websites herumgeschaut, weil er wusste, dass seine Geräte überwacht wurden. Er musste also so tun, als interessierte er sich für den Handel von Drogen. Denn seine Rolle war ein kleiner Drogendealer.

    Überraschenderweise waren die Kerle aber gar nicht so stark daran interessiert. Sie wollten lediglich ab und zu nicht zugelassene Beruhigungsmittel. Aber Norman hatte nie gesehen, dass auch nur einer von ihnen das Zeug nahm, das er ihnen besorgte. Ab und an sollte er etwas Speed auftreiben, aber auch das hatte bisher keiner in seiner Gegenwart konsumiert.

    Zähneknirschend überlegte er, ob sie das vielleicht auf internen Partys machten, zu denen er noch nicht eingeladen war.

    Es frustrierte ihn, das es solange dauerte und er wusste nicht, wie lange er noch illegale Substanzen auftreiben konnte. Zumal es nicht genehmigt worden war. Norman nahm einfach an, dass seine Vorgesetzten, falls sie davon erfuhren, ein Auge zudrücken würden. Immerhin nahm er es nicht selbst.

    Ja ... Norman nahm viel auf sich für diesen Einsatz. Aber er würde noch viel mehr tun, wenn auch nur die geringste Chance bestand, auch nur ein Opfer zu retten.

    Die Frage lautete, ob überhaupt noch jemand am leben war.

    2

    Was war passiert?

    Mona erinnerte sich nicht, als sie langsam aus einem traumlosen Schlaf erwachte. Dunkelheit umfing sie. Ihr Kopf tat weh. Nicht so, als wäre sie hingefallen, mehr so, als hätte sie eine viel zu große Menge Alkohol konsumiert. Aber Mona war keine Partygängerin, weshalb sie sich fragte, warum sie solche Kopfschmerzen hatte und warum sie sich an nichts erinnern konnte.

    Langsam drang immer mehr Bewusstsein in sie. Von weiter Ferne glaubte sie, Stimmen zu hören. Sie lag auf der Seite, ihr Untergrund war hart und feucht. Ihr war kalt und die Luft roch nach nassem Hund.

    Als sie versuchte, zu schlucken, spürte sie, wie ausgetrocknet ihre Kehle war und sehnte sich nach seinem Glas Wasser.

    Die Stimmen wurden lauter. Eine hörte sich erbost an; eine männliche Stimme, die aufgebracht herumschrie.

    Wo war sie?

    Mona schaffte es unter höchster Anstrengung, die Augen zu öffnen. Doch sie sah nicht viel.

    Es war dunkel dort, wo auch immer sie war. Nur weit entfernt glaubte sie, verschwommen einen Lichtstrahl in Augenhöhe zu erkennen. Was bedeutete, dass sich der Lichtstrahl am Boden befand, denn genau dort lag sie. Erschrocken fuhr sie hoch. Sofort durchfuhr ein stechender Schmerz ihre Schläfen. Aufkeuchend rieb sie sich den Kopf.

    Sie tastete sich auf allen Vieren voran, bis sie zu dem Lichtstrahl kam. Genau wie sie vermutet hatte, befand sich dort eine Tür. Es war künstliches Licht, das durch ihren Spalt in den kalten, feuchten Raum drang.

    Mona zog sich auf die Beine, dabei bemerkte sie, dass sie keine Schuhe mehr trug. Ihre Socken, Hose und Bluse waren noch da, aber Schuhe, Handtasche und Mantel waren fort.

    Was war passiert? Sie erinnerte sich nicht, egal, wie sehr sie sich anstrengte.

    War sie vielleicht mit ihrem Freund Dennis noch etwas trinken gegangen? Waren sie bei einem seiner komischen Freunde eingeschlafen?

    So musste es sein!

    Mona wollte die Tür öffnen, weil sie glaubte, sie wäre in einer Art Garage, doch die Tür war verschlossen.

    »Scheiße!«, fluchte sie leise.

    Sie hob die Hand und wollte klopfen, sie wollte auf sich aufmerksam machen, doch da hörte sie die Stimmen nun ganz deutlich hinter der Tür.

    Mona hielt inne, als sie den Mann aufgebracht brüllen hörte: »Wie kann denn so etwas passieren?«

    Sie kannte diese Stimme nicht.

    »Tut mir wirklich leid, Franklin! Ich habe das nicht gewusst! Mir wurde die Information gegeben, dass sie es ist«, antwortete eine andere, ebenfalls männliche Stimme. Sie klang jünger und enorm eingeschüchtert.

    Mona kannte keine der beiden, aber sie konnte sich auch an letzte Nacht nicht erinnern, deshalb war sie nicht beunruhigt. Sie war sich sicher, bei einem von Dennis Freunden zu sein. Es war nicht das erste Mal, das sie wegen ihrem festen Freund an ungemütlichen Orten hatte schlafen müssen. Neu war nur ihr fehlendes Gedächtnis an die letzte Nacht.

    Erneut wollte sie auf sich aufmerksam machen, doch da ging die Diskussion schon weiter.

    »Sollen wir sie zurückbringen?«, fragte die jüngere Stimme.

    »Zurück-«, die andere Stimme brach ab, so schockiert war der Mann. »Zurückbringen? Sagtest du das gerade? Zurückbringen

    Es blieb still, vielleicht zuckte der andere mit den Schultern und zog verängstig den Kopf ein.

    Langsam begriff Mona, das hier etwas gewaltig nicht stimmte.

    Ging es in dem Gespräch etwa um sie?

    »Und was willst du ihr sagen?«, fragte der verärgerte Mann. »Oh Entschuldigung, wir haben dich entführt, weil wir dich für eine andere hielten? Tut mir wirklich leid? Kommt nicht wieder vor?«

    Entführt! Mona wich vor der Tür zurück. Nein, das konnte nicht sein ... Sie schüttelte den Kopf. Das war irgendein fieser Witz ...

    »Nimm doch einfach sie, wo liegt der Unterschied? Ob die oder jene ... Völlig egal!«, schlug der jüngere Mann vor.

    »Und wer ist sie? Weiß das jemand?«

    »Noch nicht«, erwiderte der andere.

    »Hat sie Familie?«, fragte die dunklere Stimme wütend. »Weißt du, was das bedeutet, du inkompetenter Idiot? - Das jemand nach ihr sucht! Das ihr Gesicht in den Medien gezeigt wird! Das sie eine Gefahr ist!«

    »Dann ... dann ....«

    »Dann was?«, zischte der erboste Mann.

    Das Gespräch verstummte.

    Mona war mittlerweile soweit von der Tür zurückgewichen, das sie mit dem Rücken gegen eine feuchte, kalte Wand stieß. Plötzlich nicht weiter fliehen zu können, sorgte dafür, dass Panik in ihr ausbrach. Sie fuhr herum und tastete hastig die Wand nach einer Fluchtmöglichkeit ab. Einem Schacht, einem abgedunkeltem Fenster. – Irgendwas!

    Aber da war nichts. Sie fand in dem kleinen Raum nur vier Kantige Betonsäulen.

    Es war absurd, das wusste sie selbst, aber hinter einer von ihnen versteckte sie sich und versuchte, ihren Atem zu kontrollieren.

    Was war genau geschehen? Das Letzte woran sie sich erinnerte, war das Vorstellungsgespräch ... Nein, an den Lieferwagen, auf dem Bürogelände ... oder nein! - Das wirklich Letzte, woran sie sich zurück erinnerte, war ihr Weg über die dunkle Straße. Sie hatte ihren Angreifer nicht gesehen, als sich plötzlich schwere Arme von hinten um sie gelegt hatten. Ein Pieks in ihren Nacken und ab da wusste sie nichts mehr.

    Eine Spritze!, erkannte sie nun.

    Man hatte sie betäubt und verschleppt.

    Aber warum?

    Wozu?

    Warum ausgerechnet sie?

    Sie war ein Nichts, ein Niemand! Ihre Familie war weder berühmt noch reich ...

    Ihr Atem ging schneller. Ihre Instinkte schalteten sich ein, sie wollte nur noch fliehen. Sie hatte Angst. Panik. Atmete unkontrolliert. Sie hatte das Bedürfnis, mit ihren Fingernägeln an den Betonwänden zu kratzen, in der Hoffnung, schnell genug ein Loch nach draußen graben zu können. Was natürlich Unsinn war, weil es nicht funktionieren würde. Aber ihr angsterfüllter Verstand suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, von hier zu entkommen.

    Keine Fenster. Keine Luftschächte. Nur diese eine Tür! Immer wieder drang das in ihr Bewusstsein ein. Nur eine Tür! Verschlossen.

    Selbst wenn jemand herein kam, wie hoch standen ihre Chancen, aus der Tür zu entkommen? Sie wusste ja nicht einmal, wie es hinter der Tür aussah. Führte sie nach draußen oder in ein Gebäude? In ein Haus? In einen Keller? Eine Halle? War sie in einem Wald? In einem Industriegebiet? In einem Bunker unter der Erde? War sie überhaupt noch in derselben Stadt? Im selben Land?

    Sie wusste es nicht, das war das Schlimmste daran.

    Und mit dieser Erkenntnis gaben ihre Knie nach. Sie sank zu Boden und erste Tränen der Verzweiflung kullerten aus ihren Augen.

    Ich will hier raus, dachte sie ängstlich. Oh Gott, ich will doch einfach nur nach Hause!

    Mona hörte die streitenden Stimmen näher kommen.

    »Du gehst jetzt da rein und beseitigst das Problem! Verstanden?«, brüllte die herrische Stimme.

    Monas Atem ging noch schneller, sie keuchte beinahe.

    Bedeutete das, was sie befürchtete ...?

    »Ich ... Franklin ... Ich ...«, stammelte die unsichere Stimme.

    Der andere schnaubte verächtlich. »Jetzt muss ich mir auch noch die Finger schmutzig machen!«

    Mona hörte das Klicken eines Türschlosses. Automatisch sah sie sich hektisch nach einem Versteck um. Aber es gab keines.

    »Bleib an der Tür!«, befahl der aufgebrachte Mann.

    Aus purer, verzweifelter Angst zog sie den Kopf ein und umschlang ihn schützend mit den Armen. Die Panik ließ sie wieder zu einem kleinen Mädchen werden, das hoffte, dass man es nicht sah, wenn es selbst nichts sehen konnte.

    »Wo ist sie?«, fragte die wütende Stimme.

    Mona hörte große, laute Schritte nahen. Und als sie zur Seite schielte, trat ein eleganter Schuh in ihr Blickfeld.

    Erschrocken fuhr sie zusammen und krabbelte von der Säule in die nächstgelegene, dunkle Ecke. Wie eine Maus auf der Flucht. Aber sie saß in der Falle. Kein Entkommen.

    Bitte nicht ... Bitte nicht ..., flehte sie innerlich. Ihr kam in keiner Sekunde der Gedanke, laut um Gnade zu flehen. Sie hätte sowieso keinen Ton heraus bekommen.

    Ängstlich wagte sie einen Blick hinauf. Sie konnte ihren Entführer nicht gut erkennen. Aber er war groß, schlank, sein Haar war dunkel und perfekt gestylt. Er trug - zu ihrem Erstaunen - Anzughose, Hemd und Sportsakko. Seine Erscheinung passte so gar nicht zu der schwarzen Pistole, die locker in seiner herabhängenden Hand lag.

    Mona begann zu zittern und petzte die Augen zusammen.

    Dieses Ding in seiner Hand ... dieses große Ding, dazu gedacht, zu töten ...

    Ihr wurde schlecht, aber noch schlimmer war, dass sie nicht wusste, ob ihre Blase ihrer Todesangst standhalten konnte. Wie erniedrigend es doch wäre, sich jetzt auch noch in die Hose zu machen ...

    »Na toll«, sagte der Mann mit plötzlich sanfter Stimme, »jetzt sieh dir dieses arme Ding an! Sie ist ja völlig verängstigt.«

    Mona, deren Augen immer noch fest zusammen gepetzte gewesen waren, schielte vorsichtig zu ihm auf.

    Immer noch mit der bedrohlichen Pistole in der Hand, kam er zu ihr und ging vor ihr in die Hocke. Mona versuchte, mit der Wand zu verschmelzen, und hätte gerne geweint, weil es nicht funktionieren wollte.

    Er legte den Kopf schief und betrachtete sie eingehend.

    »Franklin?«, fragte sein Kumpane, der noch immer in der Nähe der Tür stand. »Wir sollten es schnell machen, du hast gleich ein Treffen mit einigen ... Geschäftspartnern.«

    Dieser Franklin seufzte und blickte zur Tür hinüber. »Wir tun gar nichts«, tadelte er den anderen. »Du und deine nichtsnutzigen Männer haben einen Fehler gemacht, um den ich mich jetzt kümmern muss, weil du zu feige bist, einem Mädchen das Licht auszuknipsen!«

    Mona fuhr zusammen und begann zu wimmern. Sie presste das Gesicht gegen ihre Arme, die sich an die feuchte Betonwand klammerten, und petzte die Augen zusammen. Sie wollte nicht sehen, wie er die Pistole hob und auf sie zielte.

    Gleich ist es vorbei, sagte sie sich in Gedanken vor. Dann ist alles vorbei.

    Das Problem war nur, das sie nicht sterben wollte.

    »Na-na!« Dieser Franklin schnallste mit der Zunge und rückte näher.

    Mona versteifte sich, als sie seine große Hand spürte, die beruhigend über ihr Haar strich.

    »Soviel Angst vor dem Tod ... Armes Mäuschen.«

    Sein ruhiger, einfühlsamer Ton brachte sie unweigerlich dazu, zu hoffen.

    Mona öffnete die Augen und sah ihn an.

    Er hatte ein wirklich schönes Gesicht, das zu seiner melodischen Stimme passte. Das Gesicht eines Modells oder eines Filmstars. Ebenmäßige Haut, große blaue Augen, gerade Nase, hohe Wangenknochen und volle, sinnliche Lippen. Kein Mann, den man sich als Entführer vorstellen konnte, und doch hing Mona in seinen Fängen.

    Er legte den dunklen Haarschopf schief und betrachtete lange stumm ihr Gesicht.

    »Frank-«

    »Schnauze«, wies er den anderen zurecht. »Ich überlege gerade.«

    Der andere seufzte verhalten. »Können wir das später machen? Ich muss auch bald wieder los, ich habe noch zutun.«

    »Ich sagte: Schnauze!«, brüllte der Pistolenmann.

    »Okay«, murmelte der andere.

    Als dieser Franklin wieder den Kopf drehte, lächelte er Mona an. »Du willst leben, oder?«

    Mona schluckte ein Schlurzen herunter und nickte einmal kurz. Sie hatte das Gefühl, das ihn das zufrieden stellte. Sein einfühlsamer Gesichtsausdruck brachte sie dazu, nun doch zu flehen. Sie nahm die Hände herunter und wandte sich ihm zu. »Bitte ...«

    Schneller als sie hätte reagieren können, schlug er ihr heftig mit dem Griff der Pistole gegen die Wange. Ihr Kopf flog herum. Unbeschreiblicher Schmerz breitete sich in ihrem Gesicht aus. Mona keuchte fassungslos auf. Teils wegen der Schmerzen, teils wegen der plötzlichen Gewalt.

    Sie hielt sich noch die Wange, als sich seine große Hand um ihr Kinn schloss, so, dass er ihren Mund verschlossen hielt. Er zwang sie, ihn wieder anzusehen. Tadelnd schüttelte der den Kopf. »Und dabei hat es so gut angefangen.«

    Mona wusste nicht, was sie falsch gemacht hatte. Hatte sie überhaupt etwas falsch gemacht?

    Sie weinte und ihre Schultern zuckten dabei, doch seine Hand verhinderte, dass sie einen Laut von sich gab.

    »Regel Nummer eins«, sagte er zu ihr, »du sprichst niemals ungefragt! Verstanden?«

    Mona rührte sich nicht.

    Sein Griff wurde fester, er quetschte ihren Kiefer schmerzhaft zusammen. Leise zischend fragte er erneut: »Hast. Du. Mich. Verstanden?«

    Mona nickte so gut sie konnte.

    Da lächelte er plötzlich wieder und nahm die Hand fort.

    Mona wollte nach Luft schnappen, hatte aber Angst, es zutun. Sie senkte lediglich den Kopf und versuchte, keinen Laut von sich zu geben.

    Der Typ mit der Pistole lachte vergnügt. »Sieh mal einer an, ein Naturtalent! Siehst du das, Tie? Da hast du mir ja ein braves, kleines Ding gebracht.«

    »Ich dachte, du musst sie loswerden«, murrte der Kumpane zurück.

    »Ja«, seufzte ihr Entführer bedauerlich.

    Mona sah nur seine Hände, die sich unmittelbar vor ihrem Gesicht befanden. In dem Moment, als er die Pistole hob, seitlich hielt und sie entsicherte - wie sie glaubte - konnte sie sich nicht mehr zusammenreißen. Sie glaubte, gleich erschossen zu werden, noch nie hatte sie mehr Angst in ihrem Leben verspürt. Sie konnte sich nicht wehren, nicht fortrennen, sie hockte einfach da und musste warten ... Warten auf ihren Tot. Ihre Blase gab nach und sie machte sich ein. Scham überkam sie, aber sie konnte es nicht aufhalten.

    Wegen der Peinlichkeit und der Erniedrigung fing sie wieder zu weinen an, doch diesmal konnte sie die Laute nicht unterdrücken.

    »Oh je«, hörte sie diesen Franklin amüsiert ausstoßen, »meine Süße, keine Sorge, ich habe sie nur gesichert!«

    Mona traute ihren Ohren erst nicht. Vorsichtig blickte sie wieder auf seine Hände.

    »Schau! Ich steck sie weg«, versprach er und ließ die Pistole hinter seinem Rücken verschwinden. Danach zeigte er ihr demonstrativ seine Hände. Sie waren leer.

    Mona stieß beinahe dankbar die Luft auf.

    »Okay?«

    Sie nickte, ohne ihn anzusehen.

    Da spürte sie wieder seine Hand, die über ihr Haar strich. »Braves Mädchen, ganz ruhig.«

    Allmählich kam sie sich vor wie ein Tier, das er besänftigen wollte. Traurig stellte sie fest, dass es funktionierte. Er strahlte eine Ruhe aus, die auf sie überging.

    »Ihr habt ihr nicht ihre Haarnadeln weggenommen!«, schimpfte er mit seinem Kumpanen.

    »Was soll sie damit schon tun? Uns allen die Augen ausstechen?«, witzelte dieser.

    »Nein, sie hätte damit die Tür aufmachen können!«

    Mona starrte wie betäubt vor sich hin. Wäre ihr die Idee gekommen ... wäre sie nur etwas früher aufgewacht und auf diese Idee gekommen ... wäre sie dann längst frei?

    »Komm, ich nehme dir die mal raus, Süße«, hörte sie den Kerl sagen.

    Mona hielt still, während er ihr sorgsam die Haarklammern und Haarnadeln abnahm, und Strähne für Strähne ihr welliges Haar um ihr Gesicht fiel. Sie konnte sich nicht rühren, zu groß war die Angst vor weiteren Schlägen.

    Es war eigenartig, denn einerseits hasste sie ihn vom ersten Moment an abgrundtief, andererseits war er es, der die Macht hatte, sie zu töten und es nicht getan hatte. Jedenfalls noch nicht. Aus unerklärlichen Gründen empfand sie ihm gegenüber einen Anflug von Dankbarkeit. Mona verabscheute sich selbst für derlei Gefühle.

    »So«, sagte er und ließ mehrfach seine Hände durch ihr Haar gleiten, um sicher zu gehen, dass auch alle Klammern draußen waren.

    Er ließ die Utensilien in seiner Hosentasche verschwinden. Anschließend streckte er erneut die Hände nach ihr aus. Strich ihr beinah fürsorglich das Haar aus dem Gesicht und zwang sie, den Kopf zu heben.

    »Lass mal sehen«, flüsterte er interessiert. »Schau mich mal an.«

    Mona hob den Blick und sah ihm in die Augen.

    Was er erblickte, schien ihm zu gefallen, denn er lächelte zufrieden.

    »Siehst du das, Tie?«, fragte er den anderen ohne den Blick von ihr zu wenden. »Keine Abscheu, keine hasserfüllten Blicke. Nur pure, erstickende Angst!«

    Es war noch einmal beängstigender, das er diese Tatsache aus ihrem Blick hatte ablesen können. Mona schluckte schwer und war versucht, erneut um Gnade zu flehen. Aber der Schlag in ihr Gesicht hatte sich eingebrannt, deshalb blieb sie stumm.

    »Also«, begann er freundlich, »willst du leben, kleines Mäuschen?«

    Mona unterdrückte die nächsten Weinkrämpfe und öffnete den Mund um zu bejahen.

    Doch sie verstummte, als er sie streng ansah. Sie presste die Lippen aufeinander und nickte.

    Das stimmte ihn erneut zufrieden. »Du lernst schnell, das sprich für dich.«

    »Franklin, du sagtest, die ganze Stadt werde irgendwann nach ihr suchen«, versuchte der andere, den Mona wegen der Säule noch immer nicht sehen konnte, auf ihn einzureden.

    »Vielleicht«, stimmte Franklin zu. Aber er lächelte Mona an. »Wer wird sie hier schon suchen?«

    »Sie ist eine Schwachstelle! Das hast du selbst gesagt!«

    »Nicht, wenn sie brav ist«, warf er ein und grinste Mona nun breiter an.

    Er beugte sich zu ihr, noch immer hielt er ihr Gesicht fest. Dann, als würde er mit einem Welpen reden, sprach er zu ihr: »Kannst du das, Süße? Hm? Kannst du brav sein? – Ja! Ich bin sicher, dass wir das lernen können, oder? Du willst doch leben, Kleine. Ich schenk dir dein Leben, wenn du meine Regeln achtest. - Wie hört sich das für dich an?«

    »Das ist eine blöde Idee«, murrte dieser Kerl, der Tie genannt wurde.

    Mona fragte sich, ob dieser Spitzname für den Buchstaben T, der im englischen Tie ausgesprochen wurde, stand oder wurde er Tea genannt, wie Tee, weil er vielleicht absurder Weise eine Vorliebe für Tee hatte? Eine witzige Vorstellung, sich einen ihrer Entführer mit einer Tasse warmen Kamillentee vorzustellen ...

    Ein Anflug von Hysterie machte sich in Mona breit. Am liebsten hätte sie laut gelacht und gleichzeitig geweint. Verzweiflung breite sich in ihrem Inneren aus.

    »Beachte ihn nicht«, sagte Franklin zu Mona, die ängstlich versucht hatte, einen Blick in die Richtung des Mannes zu werfen, der ihren Tod provozierte. »Das ist eine Sache zwischen dir und mir, Kleine. Er hat da kein Mitspracherecht, keine Sorge.«

    Sie sah den dunkelhaarigen wieder in die Augen.

    »Also?«, drängte er. »Willst du ein braves Mädchen sein?«

    Sie hätte ihm am liebsten in sein perfektes Gesicht gespuckt und ihn verflucht.

    Ob nun aus Angst oder aus letzten bisschen Vernunft, sie tat nichts dergleichen, stattdessen nickte sie zögerlich.

    Er grinste. »Na also. So ein gehorsames Mädchen hatten wir noch nie!«

    Hellauf begeistert erhob er sich. Dabei strich er ihr wieder über den Kopf, als lobte er einen Hund. Doch Mona spürte, wie er ihren Kopf nach unten drückte, damit sie eine unterwürfige Haltung einnahm. Bevor er sich gänzlich abwandte, flüsterte er ihr noch ins Ohr: »Regel Nummer Zwei: Du schaust nur dann auf, wenn ich es dir gestatte!«

    Mona sah erstarrt zu Boden.

    »Nicke, wenn du mich verstanden hast.«

    Sie tat, wie ihr befohlen.

    »Braves Kind«, lobte er sie. »Ich bin in ein paar Stunden zurück, dann schauen wir mal, ob du den Ärger wert bist.«

    Er wandte sich ab und ging zur Tür.

    Mona traute sich nicht einmal zu atmen, solange er noch im Raum war, selbst als er ihr den Rücken zugedreht hatte.

    »Aber Franklin, du sagtest eben noch, dass du sie loswerden willst. Was, wenn wirklich jemand nach ihr sucht?«

    »Ich sollte dich erschießen! Dich und alle, die an diesem Fehler beteiligt waren!«, hörte sie ihren Entführer sagen.

    »Ich sagte doch, ich habe falsche Informationen bekommen! Mir wurde gesagt, das Mädchen, das du haben wolltest, verlässt um die angegebene Uhrzeit das Gebäude. Ich bin ihr gefolgt und ...«

    »Du hattest doch ein Foto!«

    »Es war dunkel! Und sie sehen sich sehr ähnlich! Dunkles Haar, klein und zierlich-«

    Mona sah nichts, doch was sie hörte, ließ darauf schließen, dass gerade jemandem heftig ins Gesicht geboxt worden war.

    Ganz tief in ihr drinnen, lächelte sie darüber. Denn nach allem, was sie aus dem Gespräch entnommen hatte, war es dieser Tie gewesen, der sie verschleppt und hier her gebracht hatte. Unabhängig davon, wer sie nun festhielt, war er es, der alles in die Wege geleitet hatte. Wegen ihm war sie jetzt hier. Von ihr aus konnte dieser Franklin ihn noch zweimal mehr einen Fausthieb verpassen.

    »Nun denn«, hörte sie ihn sagen. »Ich muss zu einem Treffen. Aber ich möchte über deinen Fehler hinwegsehen, weil du nützlich bist! Sollte jemand nach ihr suchen, ist es deine Aufgabe, dass alle Spuren ins Leere führen. Verstanden?«

    »Natürlich«, gab dieser Tie kleinlaut zurück. »Aber ich versichere dir, das ich keine Spuren hinterlassen habe, Franklin.«

    »Versagst du auch diesmal, werde ich mich deiner entledigen müssen. Scheitern ist für dich also keine Option, mein Freund!«

    Mona sah, wie Licht hereinfiel und spürte warme Luft in den Raum eindringen. Das ließ sie vermuten, dass diese Tür in ein Haus führte.

    Die Tür wurde wieder geschlossen und versperrt, aber erst als sie hörte, wie sich die Schritte entfernten, traute sie sich wieder zu atmen.

    Entsetzt über ihre Lage, ließ sie sich zurückfallen. Ihr Magen schmerzte fürchterlich und ihr war danach, sich zu übergeben. Mehrmals hatte sie geglaubt, er würde sie einfach erschießen. Aus Angst hatte sie sich eingepinkelt, eine Tatsache, die sie demütigte. Nun saß sie in der nassen, dreckigen Hose da. Sie fühlte sich schmutzig. Und ihr Entführer kam erst in ein paar Stunden wieder? Solange sollte sie in diesem nassen, kalten und düsteren Raum verbringen? Durstig, unterkühlt und durchnässt?

    Hinterher fragte sie sich, ob die Pistole nicht doch die bessere Wahl gewesen wäre.

    Sie weinte und klammerte sich an die einzige Hoffnung, die sie noch hatte: das ihre Familie nach ihr suchen würde. Das bald ein Einsatzkommando durch diese Tür stürmen und sie retten würde. Mona flehte den Himmel an, dass dies bald geschehen würde.

    Dunkelheit und Nässe streckten ihre Klauen nach ihr aus und umfingen sie. Hielten sie fest. Nahmen sie gefangen. Hilflos begann Mona in der Einsamkeit zu weinen.

    ***

    »Fatima, kommst du mal bitte?«

    Fatima sah auf und blickte ihrem Vorgesetzten in das alte, kantige

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