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Ein Spiel zu viel
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eBook640 Seiten9 Stunden

Ein Spiel zu viel

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Über dieses E-Book

Sommer 1902
Fünf junge Schauspieler – darunter die Brüder Irving und Orest Van Sander – machen scheinbar Ferien an der Südwestküste Englands. In Wahrheit jedoch treibt Irving Van Sander ein anderer Grund nach Sherborne: der Adoptivvater seines Geliebten Galen Asquith, ebenfalls bei der Truppe, wohnt dort und soll nach Irvings Plänen ausgeschaltet werden, da er fürchtet, Galen zu verlieren, wenn dieser erfährt, dass Raphael Blake noch lebt.
Orest mag den reservierten, aber sympathischen Blake und möchte nicht, dass ihm etwas geschieht. Er überredet Galen, mit ihm zu Blake zu gehen und ihn vor Irving zu warnen.
Die beiden unerwarteten Gäste bringen Unruhe in das beschauliche Dorf, und auch innerhalb der Schauspieltruppe spalten sich nach und nach die Gemüter. Das von Irving Van Sander inszenierte Drama gerät bald außer Kontrolle...
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum1. Okt. 2014
ISBN9781492335658
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    Buchvorschau

    Ein Spiel zu viel - Christine Wirth

    Prolog

    Südafrika, März 1900

    Tropische Schwüle lastete über Pretoria. Die Sonne war gerade im Aufgehen begriffen, doch die Ebenen lagen noch völlig im Dunkeln. Einzig die hohen Berge in der Ferne wurden mit einem rötlichen Schimmer gekrönt. Eigentlich ein gigantisches Schauspiel, doch der junge britische Soldat hatte dafür keine Augen. Eilends schlich er durch das Zeltlager, das zu dieser Zeit fast menschenleer war; der Großteil seiner Kompanie befand sich auf dem Marsch zu Bloemfontein, um die Stadt noch vor Tagesanbruch zu besetzen. Ob dieser Feldzug siegreich ausging, war ihm im Grunde einerlei, doch er ertappte sich dabei, stumm und unaufhörlich für seine Kameraden zu einem Gott zu beten, den er nicht wirklich kannte. Sein Freund – für ihn weit mehr als das - führte das Bataillon an, das in dieser gefährlichen Funktion unterwegs war; obschon zahlenmäßig in der Minorität, war der Kampfgeist und Siegeswille der einheimischen Buren nicht zu unterschätzen. Während der ersten Monate des Krieges hatten die englischen Truppen herbe Verluste einstecken müssen, doch langsam schien sich das Blatt zu wenden. Er dachte an den Regen in der fernen Heimat und grinste vor sich hin. Seine eigene Mission war fast genauso delikat wie die seiner Gefährten, und dennoch hatte er Muße, über so etwas Profanem wie das graue Wetter in der Heimat zu sinnieren.

    Nach einem kurzen Fußweg über Felder und halb ausgedörrte Bäche gelangte er schließlich zum Ziel, der Unterstand seines Freundes, der diesen bis gestern Abend mit einem Jungen geteilt hatte und ihm nun allein gehörte.

    Tief einatmend tastete er nach dem Schreiben in seiner Uniformjacke, etwas Reelles in einer Irrealität, einem Nachtmahr, der immer dichter und verwobener um sich griff und ihn wie einen Schlafwandler agieren ließ. Zugleich schickte ihn der Wortlaut des Briefes in eben jenes alptraumhafte Geschehen. Er hätte nein sagen können, fühlte sich seinem Freund, der zudem sein Vorgesetzter war, aber verpflichtet.

    Nun galt es, besonders vorsichtig zu Werke zu gehen, der kritische Punkt des Unterfangens stand ihm unmittelbar bevor. Zwar waren die meisten Soldaten ausgerückt, doch Sanitäter auf der Suche nach liegengelassenen Verwundeten der vergangenen Nacht komplizierten sein Vorhaben. Um seines Freundes willen durfte er nicht bemerkt werden, weder von Freund noch Feind. 

    Auf Zehenspitzen stahl er sich zum Eingang, fädelte die Riemen auf und schlug bedächtig die Plane um. Die Schlafstätte lag auf der hinteren Stirnseite; eine Leine, auf der Wäsche trocknete, war vor die Pritschen gespannt, um dem Eintretenden den Blick auf ein fast intimes Chaos aus Kleidung und Militärdecken zu verwehren. Er schob die Wäsche beiseite und starrte auf die Pritschen. Eine war unbesetzt, auf der anderen ruhte ein Kamerad, er sah aus, als schliefe er. Der vor Morgengrauen abberufene Freund hatte ihn völlig in die Schabracke verhüllt und beim Kommandeur mit den Worten entschuldigt, er fühle sich nicht gut. Was durchaus der Wahrheit hätte entsprechen können: Allesamt kämpften die auswärtigen Briten heftiger mit den Naturgewalten als die verbündeten Engländer der Kronkolonie, die sich durch das ungewohnte Klima, dem damit einhergehenden Hitzschlag, Durchfall und Übelkeit aufgrund der Mangelernährung Bahn brachen.

    Allmählich reduzierte sich sein Herzschlag auf das normale Pensum; erleichtert stellte er fest, dass er ein wenig ruhiger wurde. Er brauchte einen kühlen Kopf für diese Aktion, die er schlimmstenfalls mit dem Leben bezahlte. So behutsam wie möglich packte er das Bündel, in dem der Junge verpackt war und warf es sich über die Schulter, wobei er rasch nachfasste, als er spürte, wie das Gewicht über seinen Rücken absackte. Fieberhaft setzte er den Jungen ab, verschnürte ihn in der Decke. Dabei gewährte er sich einen Blick auf das friedliche Gesicht des Kameraden, wenngleich er nicht beabsichtigt hatte, ihn in diesem Stadium noch einmal anzuschauen. Kalt lief ein Schauer durch seine Adern. Tags zuvor hatte er ihn so lebendig erlebt, dass er nicht umhinkonnte, ihm mit seinem Bajonett die Wange einzuritzen. Erst dann würde er glauben, was in dem Brief zu lesen war, den ihm sein Lieutenant Major kurz vor der Dämmerung blass überreicht hatte. Zu einem verbalen Austausch war bis zum Appell keine Zeit geblieben. Lediglich eine kurze Bitte war über seine Lippen gekommen, während er ihm den Brief anvertraute, in dem er sich in der Nacht die Verzweiflung von der Seele geschrieben hatte.

    Vielleicht überlebe ich das Manöver nicht, was das Beste wäre. Aber falls doch, sieht es übel aus für mich. Du bist mein Freund, du kannst mir helfen, indem du das tust, was ich aufgeschrieben habe. Aber die Entscheidung liegt bei dir. Ich zwinge dich nicht, denn es ist riskant. Wenn du erwischt wirst, sind wir beide dran.

    Damit hatte er sich verabschiedet und ihn dem Alptraum ausgeliefert, der nun in Gestalt des toten Soldaten konkrete Formen annahm. Er hatte nicht gelogen, in keiner Zeile, aber er hatte keine Zeit, darüber zu lamentieren, musste schnell handeln, was ihm unter Eindruck der überflogenen Worte schwerfiel. Er nahm sich vor, den Schrieb gut aufzubewahren, damit er die Quintessenz später verinnerlichen und verdauen konnte.

    Es erfolgte keine Reaktion auf den Messerschnitt bis auf die befremdende Tatsache, dass der dickflüssige Blutfluss sofort versiegte. Lange war er noch nicht in diesem Zustand, auch war er noch recht beweglich, nur die Kiefermuskeln waren von unnatürlichen Verkrampfungen verfremdet, die schon bald den ganzen Körper vereinnahmen würden.

    Flugs knüpfte er sein Halstuch ab und band es dem Jungen um den Kopf. Jemand könnte auf den irrsinnigen Gedanken verfallen, der Blutspur zu folgen, dann wäre er ein Fall fürs Kriegsgericht.

    Je kritischer die Situation, desto nüchterner wurde er. Stoisch wickelte er den wie eine Puppe wächsernen Soldaten wieder in den Woilach, versicherte sich, dass der Kopf nicht herauslugte und schulterte seine menschliche Bürde. Ehe er ging, nahm er eine Axt, wie man es ihm aufgetragen hatte, die er in der Ecke des Zeltes fand. Bei dem Gedanken, was er mit ihr anstellen sollte – und er würde es tun, das war unumstößlich – zitterte er abermals.

    Draußen war es still, beinahe idyllisch, als spotte der liebe Gott der allgegenwärtigen Gewalt mit der Herrlichkeit seiner Schöpfung. Gelegentlich unterhielt sich im Flüsterton eine Patrouilleneinheit mit einer anderen. Es war nicht nötig, zu flüstern, doch sie alle hatten schon lange erfasst, dass das Abenteuer, auf welches sie sich eingelassen hatten, kein Spaß, sondern zu tödlichem Ernst eskaliert war.

    Die nah beieinander aufgestellten Biwaks und Unterstände als Deckung nutzend lief er in flotter Schrittgeschwindigkeit über den Lagerplatz auf das freie Feld hinaus, wo er sich erst einmal eine Pause gönnte. Der Tote auf seinem Kreuz war schwer und kräftiger gebaut als er, und er hatte noch eine beträchtliche Strecke zurückzulegen. Vernünftig wie immer hatte ihn der Freund präzise instruiert.

    Vor einigen Tagen hatte auf einem Zuckerrübenfeld außerhalb der Siedlung ein Kugelwechsel stattgefunden, das in der Folge mit Leichen gepflastert war; die Sicherheit, sie ordnungsgemäß zu bestatten, war im Hinblick auf eine eventuelle Blitzattacke nicht gewährleistet, und so überließ man ihre Restverwertung auf beiden Seiten den Raben und kreuchendem Getier. Zudem waren die Männer von Granaten und den schweren Gefechten dermaßen verstümmelt, dass es sich nicht lohnte, die Überreste aufzuklauben. Er war dabei gewesen und hatte wie durch ein Wunder nahezu unverletzt überlebt. Die Minderheit der Buren hatte sie zu einer Brutalität angestachelt, die er sich nicht hätte träumen lassen, als sie zu dritt nach Afrika reisten. Damals hatte er geglaubt, diese Siedler seien vergleichbar mit Buschmännern, primitiv und leicht zu schlagen. Doch es waren stolze und an der Muskete geschulte Patrioten, über die Jahrhunderte vertrieben aus Deutschland und den Niederlanden, und sie würden sich dem Empire der Briten nicht kampflos beugen und ihre Unabhängigkeit bis zum Letzten in gnadenlosen Gemetzeln verteidigen, das hatten sie eindrücklich bewiesen.

    Heimkehren würden sie nur noch zu zweit, vorausgesetzt, sie überlebten diese Hölle. Auf eine verzwickte Weise lastete der Tod des Kameraden schwer auf ihm, denn indirekt war er dafür verantwortlich. So stand es in dem Brief. Er ahnte, dass sein Freund diese bedeutenden Sätze nicht aus der Luft gegriffen hatte. Nein, es ergab einen Sinn, das war das Schreckliche an der Sache.

    Ächzend verlagerte er den Toten auf die andere Schulter, wechselte sein wuchtiges Werkzeug in die andere Hand und ermahnte sich gleich darauf. Das geringste Knacken unter seinen Füßen würde ihn verraten. Die Ruhe trügte vielleicht, auf jeden Fall machte sie ihn leichtsinnig. Geduckt, um der Last auf seinem Rücken mehr Fläche zuzugestehen, damit er sich nicht über die Maßen plagen musste, huschte er im Rain des Feldes zur ungefähren Mitte hin. Im Acker selbst wimmelte es von Krähen, die in Schwärmen über die Toten herfielen und den Sanitätern die Arbeit abnahmen, indem sie sie bis auf die Knochen abnagten.

    Mitunter strauchelte er über Extremitäten; er sah nicht nach, ob der Körper noch daran war. Eine Schrecksekunde lang griff jemand nach ihm; sein Hosenbein verhedderte sich über den ausgestreckten Fingern eines Soldaten, die wie kleine Zweige gen Himmel ragten, als ersuchten sie seine Hilfe. Er stolperte und verlor den Jungen, als er sich fluchend anschickte, das Hosenbein aus den starren Fingern zu flechten. Der Tote glotzte ihn an. Eigentlich hätte er ihn kennen müssen – er hatte rasch mit allen Brüderschaft getrunken - aber die Witterung und die Gier der Vögel hatten seine Gesichtszüge in etwas verwandelt, das mit einem menschlichen Schädel nur noch verschwindende Ähnlichkeit aufwies. Wo Augen und Mund einst waren, gähnten ihm riesige Löcher entgegen. Im Zwielicht wirkte der Soldat trotz allem nicht ausdruckslos, sondern wie ein mumifizierter Lehrmeister, der ihm mit erhobenem Zeigefinger die Sinnlosigkeit des Krieges vor Augen führte. Er stieß ein schockiertes Japsen aus, krabbelte auf allen Vieren zurück und raffte Zachary Blake wieder auf.

    An einer Stelle, die ihm mehr oder weniger geeignet schien, lud er den Jungen ab, mit einem schwachen Geräusch plumpste die Leiche auf den hügeligen Ackerboden. Er kniete nieder, um den Woilach abzustreifen, obwohl ihm die Aufgabe zutiefst widerstrebte. Man würde Verdacht schöpfen, wenn man sie vermummt entdeckte, und diese Gefahr war stets gegeben. Hinterher stellte sich heraus, dass Private Blake gar nicht auf der Liste der ausgewählten Frontkämpfer stand, und man würde in wilde Spekulation verfallen, die letztendlich geprüft und vom Komitee untersucht wurde. Man würde sich fragen, wie es möglich war, dass er an besagter Schlacht teilgenommen hatte, obwohl ihn der Corporal vielleicht zum Küchen- oder Sanitärdienst verdonnert hatte. Darum die Axt. Sie würde dafür sorgen, dass eine mögliche Identifizierung der Leiche nicht stattfand. Zwar war das eher unwahrscheinlich, aber sein vorausschauender Freund hatte diese Möglichkeit in Erwägung gezogen und ihn gebeten, den Kameraden unkenntlich zu machen.

    Zachary Blake schlief noch immer, ein in der Dunkelheit schwarzes Rinnsal auf der Wange. Er wirkte so unversehrt, dass er ihn sachte schüttelte in der Hoffnung, er möge die Augen aufschlagen.

    Plötzlich flossen Tränen über seine Wangen; er tätschelte die glatte Haut des Jungen, suchte einen Hauch Leben darin, doch sie war kalt und blau, und unter dem rechten Auge bildete sich ein Hämatom, der erste Totenfleck, der ihn an den Rand der Hysterie katapultierte und ihn unwillkürlich das Gesicht mit der Hand schützen ließ.

    Er ertrug den Anblick nur mühsam, als er zwischen seinen Finger hindurchlugte. Wenn er schon hatte sterben müssen, hätte er ihm gerne noch Lebewohl gesagt. Aber nicht einmal das hatte man ihm zugebilligt. Er fühlte sich, als habe man auch ihm einen Arm oder ein Bein abgetrennt.

    „Vergib mir", flüsterte er und erschrak über die Lautstärke seines Raunens. Notgedrungen griff er nach dem Beil, erhob sich und starrte geradeaus über die schwarzen Hügel, welche seine Kameraden markierten, verstreut über das gesamte Feld. Wie er diesen Flecken Erde hasste! Eine Leichenhalle unter freiem Himmel. Unsagbare Angst kroch in ihm hoch, lähmte ihn für Momente.

    Seine Geistesgegenwart auf den Leichnam vor ihn richtend schwang er die Axt über den Kopf. „Es tut nicht weh. Das bist nicht mehr du, sagte er leise. „Ich muss es tun, Zachary, aber ich wünschte, es wäre anders gekommen. Warum hast du nicht mit mir geredet? Armer kleiner Narr. Ich hätte dich nicht gehasst. 

    Kapitel 1

    Einundzwanzig verdammte Stufen, er hatte mitgezählt. Eine für jedes Lebensjahr, und trotzdem keuchte er wie ein alter Mann. Mit Gewalt schob jede einzelne heimtückisch seine schmächtige Gestalt der von Wind und Wetter schwarzpatinierten Eichenholztür entgegen. Vermutlich geriet er deshalb derart außer Puste. Er wehrte sich gegen seine Schritte und musste doch dort hinauf, wohin ihn seine Füße trugen. Die gesamte untere Etage war offenbar zu eine Art Heuschober und Vorratsraum umgestaltet oder vollkommen leer; ebenerdig gab es eine Tür, die sich nicht hatte öffnen lassen. Was für eine Verschwendung!

    Es war heiß in Großbritannien, der heißeste Sommer, den er bislang erlebt hatte. Gewiss genauso unerträglich wie in Südafrika, da konnten Irving und Galen noch so oft mit demonstrativer Abgeklärtheit betonen, dass die hiesige Hitzewelle im Vergleich zu den Temperaturen in Pretoria ein Klacks sei.

    Allerdings war Sherborne ohnehin der letzte Ort, an dem er sich aufzuhalten gedachte. Nicht dass er etwas gegen das Nest im Besonderen hatte – seine Burgen und schroffen Landstriche mochten ja inspirierend sein - er fühlte sich in der Stadt einfach wohler. In London herrschte jahreszeitenbedingt eine Flaute am Theater, und so hatten Irvings Kollegen gemeinsam eine Sommerfrische in Sherborne ausgetüftelt, wobei sie das Dorf nicht ganz zufällig ausgewählt hatten. Seine unschlagbare Eloquenz bis zur Neige ausschöpfend hatte Irving sogar Hanancourt von Dorset als Urlaubsparadies überzeugt, indem er die Anekdote von Sir Walter Raleigh zum Besten gab, der von Queen Elisabeth I. dort eine Ruine verehrt bekam und sie verschmähte, stattdessen aber ein komfortables Herrenhaus einige Meilen entfernt errichten ließ. Wer diesen wesentlichen Teil englischer Historie und die Burg noch nicht besichtigt hatte, könne kein ernstzunehmender Bühnenkünstler sein.

    Abgesehen davon, dass Dashiell dieses Renommee nie beansprucht hatte (den jugendlichen Liebhaber hätte man ihm bei seiner Tolpatschigkeit allemal nicht abgekauft), traf ihn Irvings Stichelei an einem empfindlichen Punkt, und er erklärte sich maulend einverstanden, an die Südwestküste zu reisen statt wie jedes Jahr die Ferien bei seiner reichen Tante in Dorking zu verbringen. Rein menschlich gesehen hätte Irving gern auf ihn verzichtet, doch eben jene Tante hatte ihm zu seinem dreißigsten Geburtstag letztes Jahr ein nagelneues Daimlermobil geschenkt, eine cremefarbene, Eindruck schindende Luxuskarosse, mit der sie unabhängiger wären als mit dem Zug. Dass man ihn materiell bis zur Schamlosigkeit ausnutzte, wäre dem phlegmatischen Dashiell nie in den Sinn gekommen. Glücklich, in Irvings Nähe und in den Kreis der Auserkorenen integriert zu sein, teilte er fast alles mit ihnen ohne Gegenleistungen zu erheben, auf die er zweifelsohne ein Recht gehabt hätte. Den harten Kern bildeten Irving und Galen, die anderen wurden aufgenommen und Härtetests unterzogen. Auch der Sohn des Mannes, den er aufsuchte, hatte die Feuerprobe seinerzeit bestanden.

    Mit seinen zweiundzwanzig Jahren war ihm Zachary Blake am nächsten gewesen, ein scheuer, aber netter, fast konventioneller Junge. Sie hatten nicht viel miteinander zu bereden gehabt, aber weil er Irving besser kannte als sonst jemand, hatte Zachary Anschluss bei ihm gesucht. Eigentlich hatte er nicht richtig zu ihrem verrückten Haufen gepasst; es war sozusagen Schicksal, dass er nicht lange dabei gewesen war. Seine Normalität hatte Galen mehrmals Anlass zu seiner notorischen Spitzzüngigkeit gegeben; wahrscheinlich hatte er deswegen stets bei Irving Schutz gesucht, was wiederum ihm als Bruder sauer aufgestoßen war. Als prädestiniertes hilfloses Bübchen, das er markierte, nahm er die anderen umgehend für sich ein; nur mit Galen war er sonderbarerweise nie warm geworden.

    Gewissermaßen war Zacharys Tod sein eigener Fehler; er hatte sich schon vor dem Krieg abgezeichnet. Irving schätzte zwar Gehorsam, doch keine übertriebene Anhänglichkeit, ebensowenig wie seine Jünger, denen es im Traum nicht eingefallen wäre, ihr Ego zugunsten Schwächerer in den Hintergrund zu stellen.

    Zachary war mit Irving und Galen in den Burenkrieg am Zipfel des schwarzen Kontinents gezogen. Irving zuliebe, davon war er überzeugt, denn es war nicht unbedingt erforderlich, sich dort seine Lorbeeren zu verdienen; in Pretoria und Transvaal gab es britische Soldaten genug. Ein Kämpfer wie sein älterer Bruder und dessen Kompagnon war Zachary nie gewesen. Dass er nicht zurückkehrte, verwunderte weder ihn noch die freiwillig Daheimgebliebenen. Um ehrlich zu sein, trauerte er nicht einmal um ihn, dafür hatte ihm Irving zu sehr gefehlt. Während dessen Abwesenheit hatte er bei Dashiell in Chelsea gewohnt. Jetzt logierte er bei Galen im ärmlichen Blackheath. Anders als die Kameraden hatte Galen es nie für nötig befunden, in ein behagliches Apartment der noblen Londoner Bezirke überzusiedeln, er war sogar stolz auf seine Wurzeln und die enervierende Begabung, astreines Cockney zu parlieren.

    Die beiden Ältesten genossen die Privilegien der frischgebackenen Kriegshelden, so dass der Direktor des Theatre Royal Drury Lane ihnen eine ‚unbefristete Erholungsphase‘ ohne Zaudern gewährte. Christopher Graysmark und Dashiell Hanancourt hatten zwar nicht für Ihre Majestät gedient, momentan aber kein Engagement, das sie an der Bühne hielt, worüber sie im übrigen nicht allzu unglücklich waren, weil auf diese Weise das vierblättrige Kleeblatt komplett die Reise aufs Land antreten konnte. Die Saison begann ohnehin erst wieder im Herbst.

    Obwohl er sich stets als fünftes Rad am Wagen betrachtete, weil er sechs Jahre weniger als der Jüngste der Truppe, Graysmark, zählte, ketteten Orest brüderliche Bande und seine Krankheit an Irving. Neuerdings auch an den wilden Galen, doch hier zog ebenfalls Irving die Fäden. Im Grunde scherte es ihn nicht, gewann er dem Umgang mit ihm nichts ab, wenngleich er dadurch wohl der einzige war, der ihn von einer Perspektive kennenlernte, die er vor anderen verbarg.

    Insgeheim fürchteten sich die übrigen vor seinem Jähzorn, der plötzlich und scheinbar völlig ungerechtfertigt über sie hereinbrach. Einzig er wusste, dass Galen auch liebenswerte Qualitäten besaß. Sobald er sich von seiner Umwelt unbeobachtet glaubte (was nicht oft geschah, da er eine Art Verfolgungswahn wie eine sympathische Schrulle pflegte), war es, als kippe ein Schalter in seinem gestörten Hirn um, und er gab sich charmant und freundlich, wobei die Affektiertheit, die Schauspielern im Privatleben häufig unbeabsichtigt zur zweiten Natur wurde, vollständig verpuffte. Er trug die Nase nicht so hoch wie Dashiell und Christopher, die Orest hänselten, weil er es nicht auf die Bretter geschafft hatte. Hin und wieder hegte er den Verdacht, dass Galen hinter der Fassade normaler war als sie alle und sich dafür schämte. Um sich hervorzutun, hatte er diese anstrengende Manie etabliert.

    Im Lauf der Jahre perfektionierte er das Spiel: Leicht zu durchschauen war er keineswegs. Hinter vorgehaltener Hand tuschelten Dashiell und Christopher - innerhalb der Clique kurz ‚die Dandys‘ genannt - von einer irreparablen Spaltung seiner Persönlichkeit, die ein Pulk Ärzte – angeblich nur geschickt, um die Bevölkerung südlich des Flusses im Rahmen einer Vorsorgeuntersuchung auf Herz und Nieren zu überprüfen - bereits einmütig in der Kindheit attestiert hatten und die ihn ungehemmt der Exzentrik hatte anheimfallen lassen, sowie Galen davon erfuhr.

    Gerissen schon im Kindesalter, missbrauchte er die Diagnose als Freibrief für seine Tollheiten und strapazierte sie derart, dass seine Mutter ihn in die Themse schleuderte, um ihn wie eine Katze zu ertränken. Schließlich kam es bei sechs Blagen auf eins mehr oder weniger nicht an. Galen hatte das Pech, der Letztgeborene zu sein; seine schwachsinnige Mutter hatte keine besondere Affinität zu ihm entwickelt. Der Vater war Alkoholiker gewesen und ausschließlich an seinen Whiskyflaschen interessiert.

    Nur seinem eisernen Überlebenswillen hatte es Galen Asquith zu verdanken, dass er den Fluten entkam. Wie ihm dieser Coup allerdings geglückt war, mit dem Mühlstein um den Hals, noch dazu ständig kränkelnd, darüber schwiegen sich die Gentlemen genüsslich aus.

    Orest selbst tat die Geschichte als Humbug ab. Andererseits würde ihn bei Galen rein gar nicht mehr erstaunen.

    Der zweite Teil hingegen war von Irving verbürgt, so dass es sich in der Tat folgendermaßen abenteuerlich zugetragen haben könnte. Etliche Jahre nach seiner spektakulären Selbstrettungsaktion aus der Themse gewann Galen das Herz einer auf Urlaub weilenden italienischen Gräfin, die ihn in die betuchte Londoner Gesellschaft einführte und ihrem Alter durch eine Romanze mit ihm ein Schnippchen schlug. Was freilich für einen handfesten Skandal sorgte, da sie mit dreißig ihre Vitalität bereits verwirkt haben sollte, wie es die englische Etikette vorschrieb. Galen war berühmt, ehe er auch nur einen Handstreich aus Akteur getan hatte, denn die Gazetten rissen sich um Details aus dem lasterhaften Leben der Comtessa.

    Auf einer der zahlreichen Dinerpartys lernte Galen dann Irving kennen; die Gräfin umgab sich bevorzugt mit dem Flair der Schauspieler und Künstlern jeglicher Art. Ohne Schwierigkeiten wechselte Galen binnen kurzem zu Irving über, auf den die Comtessa schon seit längerem ein Auge geworfen und stets einen Korb kassiert hatte. In Anspielung auf seine Reserviertheit bedachte man Irving in Künstlerkreisen schon als die Auster. Doch auf einen Hansdampf wie Galen schien er buchstäblich gelauert zu haben. Wenn er gutgelaunt war, erzählte er Orest, wie verheerend es zwischen ihnen geknistert hatte. Als stünde die Luft in Flammen.

    Von für britische Verhältnisse atypisch südländischem Temperament ergänzte Galen den stillen, introvertierten Irving mustergültig, was jeder bestätigte, der sie zusammen sah.

    Die Gräfin wurde zum Spott der Gesellschaft; man tuschelte hinter ihrem Rücken als die gehörnte Gespielin. Aufs Unsäglichste erniedrigt reiste sie ab und schrieb nach einem Jahr einen Brief aus Florenz, in dem sie ihm kühl mitteilte, er sei Papa eines strammen Jungen namens Giovanni Galen Mondini. Ein weiterer Liebhaber käme nicht in Betracht, weil sie ihm absolut treu ergeben war und nach ihrer Trennung gegen ihre Gewohnheit aus Trauer keusch wie eine Nonne gelebt hatte, bis sie die Wölbung ihres Bauches nicht mehr zu verhehlen imstande war. Ihre Eltern hatten sie in einer überstürzten Zeremonie mit einem vertrockneten Fürsten vermählt, der das Kuckuckskind nach einigen Wochen Zwietracht wie sein eigenes akzeptierte.

    Den Brief hatte er seinerzeit Irving vorgelesen, demzufolge musste diese peinliche Affäre zutreffen. Nach Italien zu reisen und den Bastard zu sehen, verbot ihm die Mutter, was Galen sehr bekümmerte. Er liebte Kinder und sehnte sich tief im Inneren nach einer Familie, um die Fehler seiner eigenen Kindheit zu widerrufen, für deren Verlauf er sich selbst die Schuld gab. Vielleicht kompensierte er das angebliche Defizit der Vaterschaft mit zuweilen bizarren Anwandlungen liebevoller Verantwortung für ihn, - Orest - die er in der Öffentlichkeit niemandem enthüllte. Es gab Nächte, da hörte er ihn auf der anderen Seite des Bettes weinen. Ob allerdings der Wechselbalg der Grund dafür war, bezweifelte er trotz Galens Hang zur Theatralik.

    Da sie ihre riskanten Treffen nachts arrangierten und Irving als damaliger, hingebungsvoller Medizinstudent es verstand, seinem kleinen Bruder wohlschmeckende Schlafcocktails zu mixen, auf deren Genuss und traumsüßen Folgen dieser sich den ganzen Tag freute, erfuhr er keine Silbe von Galen Asquith. Mit den Tantiemen, welche die Gelegenheitsschauspielerei abwarf, finanzierte Irving damals sein Studium. Die Leidenschaft zu Galen änderte seinen Berufswunsch; er entschloss sich, voll ins Metier der schönen Künste einzusteigen, in dem er nicht nur aufgrund seines blendenden Aussehens und seiner Fähigkeit, völlig in die Charaktere zu schlüpfen, als Publikumsliebling hoch kursierte. Dennoch stand die Liebelei mit Galen unter einem ungünstigen Stern; zu intensiv und feurig, um von Dauer zu sein, erlosch sie ein Jahr darauf. Engagiert in einem Wandertheater, verließ Galen schon bald die Stadt.

    Erst als der Zufall es wollte, dass sie sieben Jahre später im selben Ensemble spielten, frischten sie die Freundschaft auf und blieben fortan zusammen. Genau wie ihn fesselte Irving den Jüngeren an sich. Ohne böswillige Absicht sicherlich, doch er machte jeden, der ihm gefiel, von sich abhängig. Man konnte ihm dieses Verhalten nicht vorwerfen, denn in seinem speziellen Fall, der zudem noch verwandtschaftliche Bindungen beinhaltete, wäre Orest als Bruder verloren gewesen. Er war nicht so unverfroren und keck wie Galen, der sich bis dahin mehr schlecht als recht auf eigene Faust durchs Leben schlug, aber dennoch unverwüstlich war. Irvings Fürsorge lehnte Galen trotzdem nicht ab. Er wäre ein Narr, hätte er es getan. Denn Irving liebte Galen nicht nur abgöttisch, sondern ermöglichte es ihm, fest am Theater aktiv zu sein, indem er drohte, dem Old Drury den Rücken zu drehen, falls der Direktor es wagen sollte, Mr. Asquith zu feuern. Vor dem Hintergrund dieser Drohung nahm sich Galen allerhand Freiheiten heraus, die man einem durchschnittlichen Talent niemals zugestanden hätte. Anlässe gäbe es für den Rest des Ensembles dazu mehr als genug; um seine Launen und Sperenzchen zu ertragen, brauchte man eine Haut wie ein Elefant. Aber Irving war der Garant für ein volles Haus, so dass der Direktor seinen Wünschen eilfertig entsprach und alles tat, Galen respektive Irving nicht zu vergraulen.

    Seine Jugend – falls Galens Geschichte denn der Wahrheit entsprach – wies Parallelen mit Orests auf, und allein die Vorstellung, er hätte so kauzig geendet wie er, wenn er Irving nicht gehabt hätte, machte ihn schaudern. An wirklich üblen Tagen wusste Galen nicht einmal um seine Identität. Je nachdem, welches Stück gerade geprobt wurde, verbarg er sich in der Haut von Figuren aus Shakespeares blutrünstigen Dramen und mutierte dadurch zur Bedrohung für die ihn Umgebenden.

    Dass er und Irving Freunde waren, verstand er bis heute nicht recht, denn der verkörperte von Geburt an all das, was Galen abhanden ging: Niveau, Berechnung und natürlich disziplinierte Zurückhaltung.

    Alles, was sein Bruder Irving anfasste, war ungeschriebenes Gesetz, darin waren sie sich einig. Als der Sprachgewandteste hielt er die Position eines Kommandeurs inne; niemand widersprach seinen Entscheidungen. Wer es dennoch wagte, wurde aus den heiligen Gefilden des Kreises verbannt, daher bestand er nie aus mehr als sechs oder sieben Personen. Kompromisslose Charaktere wie Galen fanden sich nicht ohne weiteres damit ab, doch seltsamerweise war er der Einzige, der Irving ungestraft Paroli bieten durfte. Er tat es gern und manchmal in der Funktion eines Sprachrohrs der anderen, für die er sich kriegerisch mit Irving anlegte und die er nach einer verlorenen Schlacht hinterrücks als Lämmer verunglimpfte.

    Man war entweder seiner oder Irvings Ansicht, die eigene wurde nicht akzeptiert. Galen hatte den Vorteil, emotionaler zu argumentieren als der vernunftbegabte Irving; es gelang ihm schnell, Leute für sich und seine Ideale zu begeistern, und seien sie noch so verquer. Trotzdem steckte er gegen Irving vorwiegend Niederlagen ein, der ihn früher oder später mit seiner brillanten Logik übertrumpfte.

    Ein dumpfes Bellen ertönte hinter der Tür und ließ Orest in seinen Überlegungen zusammenschrecken. Er hasste Tiere im Allgemeinen und Hunde in der Hauptsache. Auch aus diesem Grund gewann er dem Landleben nichts ab. Auf dem Land wimmelte es von bissigen Viechern. An jeder Ecke stieß man auf sie.

    Verschämt, da er ohnehin schon bemerkt worden war, klopfte er an, indem er gedämpft den schmiedeeisernen Türring schlug.

    Mit Ausnahme der prunkvollen Treppe mutete das alte Backsteinhaus bäuerlich an wie die Mehrzahl der dörflichen Wohnsitze, seiner bescheidenen Meinung nach handelte es sich um einen ordentlich bewirtschafteten Hof; das über der Landschaft schwebende, aber unaufdringliche Aroma von Dung und Heu kitzelte seine Nase. In dem Moment, als ihm die Tür geöffnet wurde, entlud sich der Reiz in einem explosionsartigen Niesen. Mit einem vagen Gefühl der Irritation vermisste er ein nachsichtiges ‚Gesundheit‘ und hob diesbezüglich schmollend den Blick.

    Auf den durchgetretenen Bohlen der Diele vor ihm geiferte ein Kalb von einem Köter; er hatte keine Ahnung von Hunderassen, doch diese Bestie war bei weitem das größte Exemplar, das ihm je untergekommen war, zotteliges, graues Fell und Zähne wie Feilen neben raubtierhaften Hauern, welche sie feindselig und dummdreist, aber effektiv bleckte. Mechanisch wich er einen Schritt zurück, was ihm den Blick auf den Herrn ermöglichte, der den Eingang mit seiner hochgewachsenen Gestalt versperrte. Einen Augenblick lang verschlug es ihm die Sprache, und er schnappte nach Luft. Das sollte Zacharys Vater sein, Zachary, welcher der Durchschnittlichkeit zum Opfer gefallen war? Der Alte war jedenfalls weit davon entfernt. Allein durch seine Hünengestalt fiel er in der Menge sofort auf. Dabei wirkte er jedoch überhaupt nicht klobig oder lächerlich wie die Riesen, die man immer wieder im Varieté zu sehen bekam, sondern sportlich und sehr schlank. Auch nicht weich wie Zachary, dessen gefällige Physiognomie ihm nie besonders zugesagt hatte.

    Asketisch bis zur Schmerzgrenze, signalisierte seine Magerkeit eine subtile Gefahr, die ihn auf der Hut sein ließ. Er bemühte sich, Ähnlichkeiten zu entschlüsseln, kapitulierte aber nach wenigen Sekunden. Die langgezogenen Glieder waren in einen schwarzen, nach Tabak duftenden Anzug gehüllt, zeigten aber darunter eine Sehnigkeit, die er von Irving her kannte. Auch er selbst verfügte über einen Teil dieser Gene, die für seine Geschmeidigkeit verantwortlich zeichneten, doch neben Irving sah er mit seinen gerade mal hundertundsiebzig Zentimeter und dem glatten Jungengesicht wie ein Halbwüchsiger aus. Sein einziger Trost war der nicht viel größere Galen. Als habe der liebe Gott es ausnehmend gut mit Irving und weniger barmherzig mit dem späten Nachzügler gemeint, war sein strähniges Haar von einem fahldunklen Allerweltsblond, derweil Irving sich eines schwarzen Schopfes rühmen konnte wie der Mann vor ihm.

    Er hatte das scheußliche Gefühl, einem Gespenst gegenübergetreten zu sein wie Hamlet, der die bittere Wahrheit über das Ableben seines Vaters von selbigem auf dem Friedhof auskundschaftete.

    Absurderweise fuhr er fort, Vergleiche zwischen Blake und Irving anzustellen, der einzige, der bei vergleichbarer Größe eine derartig elegische Ausstrahlung besaß. Doch Irving war sein Bruder, vertraut von Anfang an, während ihm die Konfrontation mit dem Fremden eine Gänsehaut über die Arme sandte. Dessen imponierendes Äußere verteilte sich auf über sechs Fuß, er stieß sich den Kopf beinahe am niedrigen Türsturz, knickte aber – der Macht der Gewohnheit nachgebend – etwas in der Hüfte ein, was ihn mit einem deplatzierten Hauch von Nonchalance umgab. In einem hageren Gesicht dominierten tiefbraune, traurige Augen, die von dunklen, wie eingebrannten Ringen umrahmt wurden. Die Nase war lang und, wie Irving gesagt hätte, klassisch geformt, das prägnante Kinn von einem Bartschatten noch schärfer wirkend.

    Elektrisiert vor Verwunderung nahm er auf der linken Gesichtshälfte des Mannes zwei Muttermale wahr, das eine fast an derselben Stelle, an der er eines hatte, nahe der Schläfe. Sie verliehen ihm unter der herben Anziehungskraft etwas Sensibles, Weibliches, das in starkem Maß zu seiner Virilität kontrastierte. Als Bruder eines Schauspielers, welcher überdies als gnadenloser Ästhet berüchtigt war, durfte er es sich erlauben, das Aussehen anderer zu sezieren; er verstand etwas vom äußeren Eindruck. Der Hüne war nicht schön im herkömmlichen Sinn, doch von extremer Attraktivität, sogar verlockend für seinesgleichen, wie er bestürzt feststellte. Galen mit seinem Gespür für das Außergewöhnliche würde aufs Ganze gehen, doch er war nicht Galen. Sicher würde er vor Aufregung keine Begrüßung, geschweige denn sein groteskes Gesuch herausbringen. Innerlich schmähte er sein Künstlerpech mit den wüstesten Flüchen, die ihm auf die Schnelle einfielen. Irving, die Dandys und er hatten zuvor gelost, und natürlich war das kürzeste Zündholz an ihn gefallen. Dass Galen nicht mitgemischt hatte, war ihnen ein bisschen merkwürdig erschienen; Irving hatte ihn nicht eingeweiht und wurde ärgerlich, als Dashiell nach der Teilnahme seines ansonsten allgegenwärtigen Liebhabers fragte. 

    Als die ausdrucksvollen Augen ihn registrierten, strich sich der Athlet das dunkle, dichte Haar zurück. Doch er schwieg weiterhin und gebot nicht einmal dem Köter Einhalt, der sträubenden Pelzes vor sich hinknurrte.

    „Mr. Raphael Blake?" Orest stieß die Worte atemlos in die heiß zirkulierende Atmosphäre und beglückwünschte sich innerlich, den ersten Schritt gewagt zu haben. Nun stand es dem Mann frei, ja oder nein sagen. Verneinte er, würde er schnurstracks das Weite suchen.

    Eine sonore Stimme warf ihn abermals aus dem seelischen Gleichgewicht. Er konnte nicht umhin, zusammenzuzucken, als der andere sprach. Dieses Organ, momentan angenehm und ruhig, war es gewohnt, zu befehlen.

    „Kennen wir uns?"

    Der Hund brummte mit hochgezogenen Lefzen. Er sah aus wie eine Kreatur aus tiefster Hölle.

    „N-nein, Sir... das heißt, nicht direkt, aber..." Er hielt sich schwankend am Türrahmen fest; Mr. Blake billigte seine Geste, begriff aber nicht, was ihn derart durcheinanderbrachte. Wie sollte er auch? Am Rande der Verzweiflung griff er zu einer halben Notlüge.

    „Der Hund..." 

    Wortlos schob Mr. Blake den Hund hinter sich, der auf einmal wie besessen die Hand seines Herrn leckte. Angewidert verzog Orest das Gesicht. „Woher kennen Sie mich?" fragte Mr. Blake noch einmal höflich; er meinte, vergehen zu müssen. Jetzt würde die Frage kommen, die er verabscheute: Die nach seinem Namen. Aber der Mann insistierte nicht weiter; da er nicht unverzüglich eine Antwort erhielt und sich wohl zum Narren gehalten fühlte, schickte er sich an, die Tür zu schließen. Um eine Schlappe zu verhindern, setzte Orest entschlossen den Fuß zwischen Tür und Angel.

    „Warten Sie, Sir!" 

    „Was gibt es?" Ein ungeduldiger Unterton schlich sich in die Erkundigung.

    Seinen ganzen Mut zusammenraffend rückte er mit seinem erlernten Text heraus: „Ich kannte Ihren Sohn Zachary. Wir haben eine Vereinbarung getroffen, die ich mich verpflichtet fühle, einzuhalten."

    Die Nennung dieses Namens löste endlich eine Reaktion des Mannes aus; er schluckte hart und öffnete weit die Tür. Sofort wollte der Hund attackieren, aber der Mann fasste nach seinem Halsband und riss ihn grob zurück. „Der Hund ist jung, erklärte er. „Aber er tut Ihnen nichts. Bitte kommen Sie herein.

    Zaudernd, das Tier unentwegt im Auge behaltend, kam er der Aufforderung nach. Im Korridor roch es nach altem Holz und Tabak, es war angenehm kühl. Irgendetwas im Haus erinnerte ihn mit einem Anflug von Wehmut an seine frühe Kindheit, er konnte nicht sagen, was. Mr. Blake ging ihm voraus zu einer Tür auf der linken Seite, hielt sie ihm auf und bat ihn mit einer sparsamen Geste herein.

    Den Hund schickte er in ein anderes Zimmer, dessen mit einer Milchglasscheibe verkleidete Tür er schloss. Drinnen hörte man selbst vom Wohnzimmer aus ein gieriges Schlabbern; er hatte den Hund in die Küche gesperrt, wofür Orest ihm äußerst dankbar war.

    Bevor er Zeit fand, sich in dem kärglich möblierten Raum umzusehen, gesellte sich Mr. Blake zu ihm. Überall herrschte schummriges Tageslicht, sofern es durch die dicken Brokatvorhänge drang; die Wände waren vom Pfeifenrauch verrußt und mit düsteren Tapeten versehen. Zu allem Überfluss setzte sich das Mobiliar in der Hauptsache aus dunklem Nussbaum und Mahagoni zusammen. Dank Galen kannte er sich in Sachen Holz recht gut aus; vor seiner Laufbahn als Shakespearedarsteller hatte der das bodenständige Handwerk eines Tischlers erlernt, das auch Orest faszinierte. Zwischen der Saison betätigte sich Galen zuweilen noch als solcher. Es gab immer Arbeit für einen demütigen Knecht, behauptete er, und die Tatsache, dass er sich außerhalb der Saison nicht von Müßiggang bestimmen lassen musste wie die anderen, gab ihm recht. In den zwei Monaten, die er bei Galen wohnte, hatte er des Öfteren bei den zahlreichen Bekannten Galens assistiert und entdeckt, wieviel Befriedigung man daraus zog, etwas mit den eigenen Händen zu gestalten. Zudem kam es nicht auf Schnelligkeit oder Merkvermögen an; man war frei, in Ruhe zu arbeiten und sein privates Tempo zu bestimmen.

    Hier hätte Galen ein Paradies gefunden. Zwar sah die Wohnung nicht gerade vernachlässigt aus, aber die Möbel hätten eine gründliche Restauration und anschließende Politur gewiss gut vertragen.

    Die Pendeluhr war abgestellt, als könne man durch diese Maßnahme die Zeit anhalten. Wenn das Wohnzimmer der gemütlichste Teil und dem Besucher am zuträglichsten sein sollte, tat ihm dieser Mann leid. Halt! Gefühle waren nicht gut. Irving hatte ihm diesen Satz eingebleut.

    Denk‘ dran, was der Kerl angestellt hat, wenn er dein Mitgefühl weckt.

    Ärgerlich dabei war nur, dass er nicht genau wusste, was Mr. Blake denn überhaupt verbrochen hatte. Schurken stellte er sich eigentlich anders vor.

    Ein knapper Zuruf wie bei der Armee durchschnitt die Stille im Raum.     

    „Erzählen Sie mir von sich. Wie heißen Sie?" 

    Er müsste sich ein Pseudonym zulegen wie Irving und die meisten aus der Branche, streng genommen zählte er aber nicht dazu. Außerdem glaubte die Mehrzahl, denen er seinen Namen unter dem Siegel der Verschwiegenheit verriet, ohnehin an einen Künstlernamen. Er wäre erleichtert, wenn es einer wäre.

    „Mein Name ist Orest Van Sander", gab er widerstrebend Auskunft, sich für weitere geistreiche Fragen rüstend, wie zum Beispiel der unvermeidlichen, ob er denn seine Mutter getötet hatte wie der gleichnamige griechische Heißsporn. Er hätte sie umgebracht für diesen einfältigen Namen, wenn man ihm die Gelegenheit gegeben hätte und sie nicht ohnehin schon begraben wäre. Auch das war wieder eine der Launen seiner Mutter: Ihren Liebling Irving benannte sie nach einem der größten Schauspieler aller Zeiten, während er mit einem der absurdesten Namen herumlaufen musste, weil sie ihre Zuneigung auf den Erstgeborenen begrenzt hatte. Sie hatte ihn dafür bestraft, dass er sich zwischen sie und Irving geschoben hatte. Raffinierter hätte sie nicht sein können, denn er würde bis zu seinem seligen Ende daran erinnert werden.

    Aber der Mann fragte nichts, und sah ihn nur interessiert an, während er seine Pfeife stopfte. Einen Platz hatte er ihm nicht angeboten, und von alleine überwand er sich nicht, einen der geflickten Ledersessel zu nutzen. Alles wirkte so porös, als würde es im nächsten Moment den Geist aufgeben und zu Schutt und Asche zerbröseln. Wenigstens ein Glas Wasser – das Mindeste, was er einem Gast hätte anbieten können - hätte er nicht abgelehnt; seine Kehle war wie ausgedörrt. Allerdings schien Mr. Blake nicht viele Besucher zu empfangen und hatte den Umgang und die Höflichkeit mit ihnen vergessen.

    „Van Sander, wiederholte Mr. Blake nachdenklich. „Das ist niederländisch.

    „Meine Familie lebt seit Generationen im England", beteuerte er schnell; er hatte das Gefühl, es gefiele Mr. Blake nicht, einen vermeintlichen Ausländer zu beherbergen, obendrein ein verfeindeter Holländer, und sei es auch nur für ein paar Minuten. Sein Gefühl trügte, offenbar war Mr. Blake ein Exemplar der seltenen rabiaten Kriegsgegner.

    „Es wäre nichts, wofür Sie sich schämen müssten. Wir haben den Krieg begonnen, nicht die Buren."

    „Ja, natürlich, pflichtete er bei. „Trotzdem...

    Unvermutet hitzig unterbrach ihn sein Gegenüber. „Hören Sie auf. Sie sind bestimmt nicht gekommen, um mit mir über das Für und Wider von Kriegen zu debattieren."

    „N-nein", stammelte Orest eingeschüchtert, die Lehne vor ihm umfassend. Weiße Blitze schränkten sein Sichtfeld ein, und er wehrte blinzelnd sich dagegen. Üblicherweise kündigten sich auf diese Art die Anfälle an. Zu seiner Beruhigung verschwanden sie jedoch nach mehrmaligem Zwinkern.

    Mr. Blakes Ton wurde etwas freundlicher. Die markante Stimme übte einen einlullenden Effekt auf ihn aus; allmählich verebbte Orests Nervosität.

    „Warum also sind Sie hier? Sie kannten meinen Sohn, das ist schön, aber was wollen Sie? Für Beileidsbezeugungen ist es ein wenig zu spät, finden Sie nicht? Zudem kann ich mich nicht entsinnen, dass Zachary in seinen Briefen Ihren Namen je erwähnte. Er wäre mir mit Sicherheit aufgefallen."

    Also war Irving unter dem Namen Chambers ins Heer eingetreten. Er hatte schon geglaubt, sich verplappert zu haben. Innerlich atmete er auf und rieb die Hände am Hosenboden ab.

    Auf einem Sekretär erspähte er eine Photographie von Zacharys Truppeneinheit. Unter den jungen Rekruten waren auch Irving und Galen; die Köpfe eingekreist, offenbar um sie dem Vater als enge Freunde ersichtlich zu machen. Beide waren ihrem Naturell gemäß in den Augenblick eingefroren: Irving feierlich ernst in der letzten Reihe unter den Größten, ein lachender, Mütze schwenkender Galen von drei unisono grinsenden, untereinander austauschbaren Kameraden horizontal in die Höhe gestemmt.

    „Wir dienten nicht in derselben Einheit. Vielleicht schrieb er darum nichts von mir. Aber wir waren sehr gut befreundet, das dürfen Sie mir glauben. Wir haben uns gegenseitig das Versprechen abgenommen, uns jeweils um die Hinterbliebenen zu kümmern, wenn einer von uns im Kampf fiele. Nun ist es unseligerweise so gekommen. - Ich möchte Zacharys letzten Wunsch erfüllen, Sir", fügte er mit einem Blick auf die skeptische Miene des Mannes hinzu. Er war erstaunt, wie leicht ihm die Lüge über die Lippen schlüpfte; am Krieg hatte er nicht teilgenommen. In der Absicht, so zu tun, als schwelge er in Denkwürdigkeiten betreffs unvergesslicher Erlebnisse mit Zachary und seinen eigenen Worten, nahm er das Bild vom Bord des Sekretärs und untersuchte es eingehend.

    „Welcher der Jungen ist Zachary?"

    Lautlos hatte sich Mr. Blake in seinen Rücken positioniert; er erschrak über den leisen Atemstoß in seinem Haar und der intimen Entfernung, die ihn von Raphael Blake trennte. Außerstande, seine starke physische Präsenz zu verkraften, drehte Orest sich zur Seite, um ihm weniger Angriffsfläche zu bieten. So fühlte er sich sicherer.

    Der Umgang mit Galen färbte langsam auf ihn ab; er wurde paranoid. Vermutlich wollte Blake ihn lediglich testen, nachsehen, ob er nicht auf die eingekreisten Personen hereinfiel. Besonders Irving hatte mehr Ähnlichkeit mit Mr. Blake als dessen eigener Sohn. Wenn er wüsste, dass er sein Bruder war! Ein einziges Mal war es kein Nachteil, die Verwandtschaft optisch nicht auf den ersten Blick zu erkennen.

    Mit dem Finger tippte er auf den Burschen rechts hinter Galen. Natürlich kannte er Zachary, der ihm genauso einfältig entgegengrinste wie der Rest der Kompanie. Nur Galen schien authentisch zu sein und sich unter dem Haufen bunt zusammengewürfelter Neulinge wohlzufühlen.

    „Da. Ein durch und durch braver und mutiger Kamerad. Wir alle waren begeistert von ihm. Als er fiel, wollte es keiner so recht wahrhaben. Gerade darum bin ich es ihm schuldig, Sie nach besten Kräften zu unterstützen."

    Die Lobeshymne, die sogar ihm falsch und hochgestochen in den Ohren klang, beeindruckte Mr. Blake nicht, jedoch nickte er beifällig, als Orest den Sohn unter den Uniformierten ohne Probleme herausgepickt hatte.

    Sein breiter, an einen tragischen Clown gemahnender Mund bog sich ein wenig nach oben, zu wenig, um ein echtes Lächeln erkennen zu lassen.

    „Weshalb und wie sollten Sie mich unterstützen? Sie sind nicht älter als Zachary, wahrscheinlich jünger. Und - verzeihen Sie, dass ich Sie beleidige – auch nicht besonders kräftig. Ich brauche starke Männer, wenn überhaupt. Im Prinzip bin ich es gewohnt, allein zu arbeiten. Es macht mir nichts aus. Gehen Sie nach Hause, Mr. Van Sander. Sie sind ein netter Junge und meinen es bestimmt gut, aber ich kann Ihre Hilfe nicht annehmen."

    Der in der Küche eingeschlossene Köter jaulte herzzerreißend. Als Blake ihn befreite, wedelte er heftig mit dem Schwanz und sprang an ihm hoch.

    „Ich kann Ihren Hund ausführen, offerierte Orest hastig, das Kribbeln in seinem Bauch verstärkte sich. „Dann werden Sie sehen, dass ein bisschen Hilfe nicht schadet. Ich kann das übernehmen, was früher Ihr Sohn erledigt hat. Was meinen Körperbau angeht, so lassen Sie sich davon nicht täuschen. Ich habe viele Fähigkeiten, aber wenn Sie mir keine Chance geben... Ich nehme nichts, Sir, mein Ehrenwort! Es ist nicht so, dass ich Geld bräuchte.

    Es war ein kluger Schachzug von Irving, ihm anzuraten, auf die finanzielle Unabhängigkeit und Zacharys frühere Aufgaben anzuspielen, falls der Alte sich uneinsichtig zeigte. Der Hund, das wusste er, gehörte eigentlich dem Sohn.

    Blakes Blick milderte sich.  „Und wie lange soll das gehen?"

    „Solange Sie mich brauchen."

    „Einen merkwürdigen Pakt habt ihr geschlossen. Ich weiß nicht, was das bedeuten soll, aber wenn es Ihr Gewissen entlastet, dann hätte ich eine sinnvollere Beschäftigung für Sie. Sofern Sie die zu meiner Zufriedenheit absolvieren, sehen wir weiter."

    „Vielen Dank, Sir. Ich gebe mir Mühe."

    Er grinste, wobei sich seine Gesichtszüge vor Panik maskenhaft starr anfühlten. Was kam jetzt? Warum sprang er jedesmal als Erster ins kalte Wasser, sobald sein Bruder es verlangte? Letztlich erwartete Irving keine Entschädigung; was er für Orest tat, tat er freiwillig und aus geschwisterlicher Liebe zu ihm, das hatte er mehr als einmal versichert. Nichtsdestoweniger ließ sich das Gefühl der Bürde, als die er sich für seinen Bruder oft empfand, nicht verdrängen. Seinetwegen hatte Irving nicht geheiratet, wenngleich die Verehrerinnen ihm längst vor seiner vollkommenen Darstellung des grüblerischen Dänenprinzen reihenweise zu Füßen gelegen hatten.

    Mit ausgreifenden Schritten führte ihn Mr. Blake über den rückwärtigen Hof zum Stall, der Hund folgte ihnen hechelnd auf den Fersen. Direkt neben der Scheune und dem großzügig angelegten Gemüsebeet grenzte ein Zaun, hinter dem ein barocker Friesenwallach wie gehetzt das von der Hitze vertrocknete Gras zupfte. Ein Bach plätscherte durch die Koppel.

    „Das ist Phaidin. Sobald Sie seinen Stall ausgemistet haben, bringen Sie ihn hinein. Tränken brauchen Sie ihn nicht, normalerweise bedient er sich am Fluss. Im Stall können Sie ihn striegeln. Seien Sie vorsichtig, er ist ein bisschen kitzlig. Aber sicher kennen Sie sich mit Pferden aus."

    Bevor er den Mund zu einem Protest öffnen konnte, rauschte Mr. Blake mitsamt dem Hund von dannen. Orest war sich selbst und dem wütend schweifschlagenden Gaul überlassen. Gottseidank konnte der ihm vorläufig gleichgültig sein; zielstrebig ging Orest in die Scheune, wo es sich trotz geöffneter Tore als nicht sehr viel kühler als draußen entpuppte und nach dem Ammoniakgeruch des Pferdeurins roch. Getarnt unter einer Schicht pappigen Heus und einem Geschwader Schmeißfliegen türmten sich die Äpfel des Monstrums; bei der gigantischen Höhe des Rappen musste natürlich entsprechend Ballast hinten herauskommen.

    Zornig auf Irving und seinen eigenen Kadavergehorsam fühlte er sich ungerecht behandelt. Die ‚sinnvolle Beschäftigung‘ roch stark nach einer Schikane. Als hätte der Alte nur auf einen dummen Sklaven wie mich gewartet, dachte er voll Ingrimm.

    Er brauchte geschlagene fünf Minuten, ehe er sich klargemacht hatte, dass zum Misten Gabel und Schubkarren die Arbeit um etliches erleichtern würden.

    Das ausgediente Stroh schaufelte er in Rekordzeit in die Karre. Er bekam vier Fuhren voll und war überrascht, wie viel Mist ein einzelnes Tier fabrizierte. Im Akkord raste er mit der Karre die auf dem Haufen parallel zueinander liegenden Bretter hinauf und flitzte noch einmal so schnell rückwärts wieder hinunter.

    Nachdem er fertig war, klebte sein Hemd an Rücken und Brust, und er fror plötzlich inmitten der Hitze. Dabei hatte er das Schlimmste noch nicht einmal hinter sich, der Transport des Gauls von A nach B.

    Langsam näherte er sich der Koppel und schnalzte mit der Zunge. Erfahrene Reiter benutzten diesen Laut als Lockmittel, das wenigstens war ihm nicht fremd. Dem Gaul offenbar indessen schon; er spielte nur kurz mit den Ohren, um dann mit demonstrativer Verachtung die verbrannten Hälmchen abzusäbeln. Wie dumm diese Kreatur doch war. Brütete in der Sonne, während im Stall ein schattiges weiches Bett und Wasser winkten. Waghalsig stieß er das Gatter auf und schmeichelte dem Schwarzen mit dessen lächerlich gälischen Namen. Müsste man den nicht verwenden, hätte ihn Mr. Blake doch gar nicht mitgeteilt. Zweite Fehlanzeige. Auf der Suche nach saftigerem Grünzeug, das er auf der Weide vergeblich suchte, entfernte sich der Wallach gelangweilt von ihm.

    Bevor er Phaidins ansichtig geworden war, hätte er nie geglaubt, wie breit die Palette der Ausdrücke eines Tieres sein konnte. Orests ohnehin spärliche Geduld erschöpfte sich; bewaffnet mit dem Strick in der Hand stapfte er über die Wiese. Das Tier warf den Kopf hoch und blähte die Nüstern. Argwöhnisch äugte es zu ihm hinüber. Orest hatte keine Lust mehr auf Tricks und Lobhudelei; entschlossen stelzte er zum massigen Schädel des Wallachs. Nur noch eine Handbreit Distanz zwischen ihnen, und er wäre fähig, den Strick am Halfter des Viehs zu befestigen und es in den Stall zerren. Doch als er die Hand ausstreckte und sich bereits als Sieger wähnte, stieg das Pferd wiehernd auf die Hinterhand. Entsetzt schützte er sein Gesicht mit beiden Armen; aus den Augenwinkeln sah er den Wallach staubaufwirbelnd in der Luft abdrehen und davonpreschen. Mühsam rappelte er sich auf, der feine Sand brannte in seinen Augen. „Hinterhältiges Biest! kreischte er, jetzt wirklich erbost. „Dir werde ich zeigen, wer hier das Sagen hat!

    Den Strick wie eine Peitsche handhabend und vereinzelt Hühner aufscheuchend, die sich hier und dort tummelten, rannte er über den Platz und delegierte den Koloss in die Ecke. Der mochte groß und stark sein, aber Orest war schlauer. Mehrmals drosch er mit aller Kraft auf die Flanke des Wallachs ein, der die Flucht suchte, sich mal links und mal rechts von ihm vorbeizumogeln versuchte. Befriedigt stellte Orest fest, dass ihm bald der Atem ausging und er in Schweiß gebadet war, das schwarze Haarkleid glänzte feucht, der Schädel war gesenkt, und an Bauch und Beinen spannten sich die Venen.

    „Ich habe dich, frohlockte er, seine Stimme vibrierte triumphierend. „Ich habe dich, du Mistvieh. Flugs klickte er den Karabiner ins Halfter, doch der Wallach ließ sich keinen Deut vorwärtsbewegen. Orest versuchte es zunächst mit Strenge, indem er ihm einen energischen Klaps auf das Hinterteil versetzte, doch da die Methode nicht fruchtete, griff er zum Kehlriemen und zog. Schlagartig buckelte das Pferd, stob ein paar Sätze davon und schleifte ihn mit sich. Obwohl er erschrak wie noch nie in seinem Leben, klammerte er sich als letzte Instanz an das Halfter. Er würde nicht aufgeben, nicht vor so einem albernen Rassepferd. Etwas Hartes

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