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Elektra: Ein Ostfriesland-Krimi mit Onno Frerichs
Elektra: Ein Ostfriesland-Krimi mit Onno Frerichs
Elektra: Ein Ostfriesland-Krimi mit Onno Frerichs
eBook399 Seiten5 Stunden

Elektra: Ein Ostfriesland-Krimi mit Onno Frerichs

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Über dieses E-Book

Onno Frerichs ist Briefträger aus Leidenschaft. In Ölbenfehn besucht er auf seiner täglichen Tour am liebsten die ältere Dame Hilde Meents. Doch an diesem Morgen scheint etwas anders zu sein. Onno dringt daher in das Haus ein und macht einen grausamen Fund. Die alte Frau liegt tot in ihrer Dusche. Was er anfangs für einen Unfall hält, entpuppt sich schnell als eiskalter Mord.

Onno fängt an zu recherchieren. Noch immer nagt an ihm, dass vor 30 Jahren der grausame Mord an seinem Freund nicht aufgeklärt wurde, das soll sich nicht wiederholen.

Zusammen mit seiner Schwester Anna und seinem Onkel ermittelt er in dieser Mordsache. Ihr Gegner ist nicht nur der Täter selbst, sondern auch die Polizei …
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum15. Juli 2020
ISBN9783946734345
Elektra: Ein Ostfriesland-Krimi mit Onno Frerichs

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    Buchvorschau

    Elektra - Theo Brohmer

    Inhalt

    Disclaimer

    Vorwort

    Teil 1

    Teil 2

    Danksagung

    Disclaimer

    Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen wäre rein zufällig und ist nicht beabsichtigt.

    Dieser Disclaimer ist sehr wichtig, da mir erst nach Veröffentlichung von Elektra im Jahr 2018 auffiel, dass es einen Biele­felder Arzt namens Onno Frerichs gibt!

    Vorwort

    Liebe Leserin, liebe Leser, erlauben Sie mir vorab noch ein paar Worte.

    Seit sehr langer Zeit bin ich ein Fan von Stephen King. Besonders seine Vorworte haben mich immer begeistert.

    Ich muss schmunzeln, wenn ich daran zurückdenke, wie ich mit Mr Sokrates auf Tour war. Man sieht es den Menschen meistens nicht an, was sie im Schilde oder in ihren Taschen mit sich führen. Ich trug an einem Wochenende im Juni 2018 Sokrates spazieren. Und ich bin heilfroh, dass man mir das nicht ansah.

    Es war schon eigenartig mit dem Schädel im Rucksack durch den Wald zu wandern. Ich würde zum Täter werden, wenn die Rahmenbedingungen dies zuließen. Mein Ziel war es, ein paar ansprechende Fotos für den Buchumschlag zu schießen. Den Totenschädel, den Sie auf dem Cover sehen, ist ein Konterfei von Mr Sokrates.

    Plötzlich verstand ich, wie sich ein Mörder fühlen mag, der einen Ablegeplatz für die Leiche sucht. Die ständige Angst vor Entdeckung im Nacken ist unangenehm und stresst!

    Vermutlich werden aus diesem Grund die meisten Leichen nachts abgelegt. Eine gute, aber auch gruselige Zeit für Vorhaben dieser Art. Zwar hat man den Wald für sich. Doch mit schwerem Gepäck versinkt man doch leicht in der lockeren Laubstreu. Wehe man stolpert …

    Teil 1

    Prolog

    April 1985

    An diesem warmen und sonnigen Nachmittag Ende April fühlte sich das Leben wie eine Verheißung völliger Freiheit an; denn die Osterferien waren gerade einmal eine halbe Stunde alt.

    Fünf Jungen und drei Mädchen im Alter von zwölf bis vierzehn Jahren spielten ihr Spiel: hide and go kill im Roten Fehn. Doch Dead Wood klang viel gruseliger. Sie schlichen durch die ursprüngliche Moorlandschaft, schlugen sich durch undurchdringliche Vegetation und kämpften alle gegen alle.

    Onno Frerichs war vor ein paar Tagen zwölf Jahre alt geworden. Damit besaß er heute endlich das Privileg, die Gruppe anzuführen. Das machte ihn irre stolz. Er peilte den großen Moorsee an.

    Während er auf den Wald zu rannte, zählte er im Stillen. Die Regeln verboten ihm, sich umzudrehen oder nach den anderen zu sehen. Bei einem Verstoß riskierte er, als Strafe an den Marterpfahl gebunden zu werden. Das war kein Vergnügen, wusste Onno aus leidvoller Erfahrung. Einen vollen Tag lang war er jeglicher Art Getier schutzlos ausgeliefert gewesen. Der Schweiß war ihm den Körper heruntergeflossen. Sein Gesicht hatte fürchterlich gejuckt. Doch mit gebundenen Händen hatte er sich nicht kratzen und somit nicht erleichtern können. Ohne Wasser und Essen hatte er ausgeharrt und sich nichts sehnlicher als den Sonnenuntergang herbeigewünscht! Denn damit endete seine Marter!

    Er verscheuchte die quälende Erinnerung und konzentrierte sich aufs Zählen. Bis 250 musste gezählt werden.

    Onno Frerichs lief nach der geforderten Mindestzahl an Schritten weiter bis in die Schlucht hinein. Jetzt hieß es wachsam sein, denn im Wald konnte er jederzeit auf die Feinde treffen.

    Geduckt schlich er durch die Talsohle und erklomm auf der anderen Seite den Berg bis zu einer Gruppe eng stehender Buchen.

    Das Unterholz bot hier schon ausreichend Schutz. Die jungen Blätter der Buchen waren teils noch weich und mit zartem Flaum bedeckt.

    Frerichs mochte es, den Nachmittag mit seinen Freunden im Wald zu verbringen. Mit seinem Taschenmesser schnitt er ein halbes Dutzend frischer Äste zurecht, die er sich in den Gürtel steckte. Er wollte eins werden mit dem Wald. Wenn es ihm gelänge, mit seiner Umgebung zu verschmelzen, würde er als Sieger vom Platz ziehen. Die Vögel im Geäst zwitscherten nur für ihn.

    Von Ferne hörte Frerichs Glockengeläut. Er lauschte – Drei Schläge – drei Uhr. Eine Welle der Glückseligkeit schwappte über ihn hinweg. Noch drei Stunden Freiheit, ehe sie zum Abendessen nach Hause mussten.

    Das Läuten war eben verklungen, da vernahm er plötzlich leise Schritte. Jemand näherte sich! Frerichs duckte sich tiefer in die Laubstreu. Aus welcher Richtung näherte sich der Feind?

    Er hob den Kopf, bis er die Schlucht überblicken konnte. Doch zu seiner Überraschung war dort niemand. Wollte ihn sein Gegner von der Flanke her angreifen oder sich gar von hinten an ihn heranpirschen?

    Fokko, du Teufelskerl! Das war nur ihm zuzutrauen. Keiner der Anderen war so kaltschnäuzig!

    Während er die Gegend im Auge behielt, tastete er nach seiner Zwille und fingerte ein neues Projektil aus dem Magazin. Diese hatten sie wie Bonbons in Frischhaltefolie eingewickelt. Wurde ein Gegner von so einem solchen Geschoss getroffen, platzte die dünne Folienhaut auf und der Lehm ergoss sich über die Kleidung. Damit war der Getroffene gekennzeichnet. Anschließend wurde der Abschuss per Walkie-Talkie gemeldet.

    Alle Versuche zu ergründen, aus welcher Richtung man ihm auflauerte, scheiterten. Als plötzlich die Waldvögel verstummten und sich Totenstille auf den Wald herabsenkte, kroch ihm blanke Angst in die Glieder.

    Die Schritte waren längst verklungen. Strategisch völlig einleuchtend. Der Feind lauerte. Frerichs nahm das Lehmbällchen und die Zwille in eine Hand und rollte sich auf den Rücken. Er sah angestrengt in die Baumkronen hinauf. In seiner unmittelbaren Nähe war nichts zu entdecken. Doch glaubte er, links von sich einen roten Flecken aus dem Blattwerk durchschimmern zu sehen. Als sich dieser auch noch bewegte, schwanden alle Zweifel.

    Onno rollte sich zurück auf den Bauch und begann auf den roten Fleck zuzurobben. Die Langsamkeit, mit der er vorwärtskam, war schier zum Verzweifeln, doch das musste er aushalten.

    Als er endlich in Schussweite herangekommen war – er hatte die Zwille schon geladen und auf das Ziel angelegt – erkannte er seinen Fehler. Die Jacke bauschte sich zwar, aber es war nur der Wind, der das bewirkte. Es steckte kein Mensch darin. Eines der Mädchen, vermutlich Freya oder Thea hatte ihre Jacke in den Baum gehängt. Seine Schwester Anna konnte es nicht gewesen sein, sie trug heute eine grüne Jacke, wie er selbst.

    Frerichs fluchte still vor sich hin. Am liebsten hätte er sich selbst einen Tritt verpasst. Wenn bekannt würde, dass er blind in diese simple Falle getappt war, dann wäre er für alle Zeit erledigt.

    Onno Frerichs, ein Anführer? Machst du Witze? Ist das der Frerichs, den man mit dem Jackentrick täuschen kann? Der Gedanke war beschämend!

    Als am Stamm neben ihm ein Lehmbällchen zerplatzte, wusste Frerichs, dass er entdeckt worden war. Der Schütze musste rechts vor ihm im Unterholz liegen. Eine andere Flugbahn erlaubte das Gelände nicht. So schnell es eben ging, zog er sich rückwärts kriechend zurück. Er vermutete den Schützen auf dem Kamm. Im Grunde gab es nur eine Richtung für ihn: Nach oben, hinauf in die Bäume. Frerichs blickte sich suchend nach einem Baum um, der günstig stand und zu erklettern war.

    Die Kiefer zu seiner Linken bot eindeutig den besten Schutz. Doch das wusste auch sein Häscher. Der Baum konnte eine Zuflucht, aber genauso gut auch eine Falle bedeuten. Frerichs entschied sich gegen den Baum. Stattdessen kroch er ein Stück weit in die Schlucht hinunter und näherte sich dem vermeintlichen Schützen von der Flanke her.

    Er hatte eben die Anhöhe auf der anderen Seite erklommen, als er leise Schritte neben sich vernahm. Es gelang ihm noch, sich auf den Rücken zu rollen und einen Schuss auf den Schatten abzufeuern, als unvermittelt ein lautes Krachen aus dem Walkie-Talkie drang.

    In die Kakofonie aus Knacklauten und atmosphärischem Rauschen mischten sich asthmatisches Keuchen und ein paar unverständliche Worte. Dann erklang ein grauenerregender Schrei. Kalte Schauer rannen ihm den Rücken runter. Frerichs wusste instinktiv, dass der Schrei von einem seiner Freunde stammen musste.

    Thea schien von den Ereignissen völlig unbeeindruckt. Mit mitleidlosem Blick musterte sie Frerichs. Sie lud ihre Zwille, legte auf ihn an und schoss das Lehmbällchen ab. Es traf seine Brust, zerplatzte und schon im nächsten Augenblick spürte er wie ihm das Wasser kalt am Bauch hinabrann. Ungelenk kam er auf die Beine. Thea warf ihm einen triumphierenden Blick zu.

    »Ich hab dich, Onno Frerichs!« Sie lachte ihm ins Gesicht.

    »Hast du das nicht gehört?«, entgegnete er zornig. »Es hat einen von uns erwischt! In echt!«

    Widerwillig ließ sie von ihm ab. Doch mit triumphierendem Geschrei meldete sie der Gruppe ihren Abschuss. Sie machte große Augen, als er ihr erklärte, dass die Jagd vorüber war.

    »An alle!«, rief Onno aufgeregt. Das Sprechgerät drückte er sich dicht an den Mund.

    Thea hielt ihn zurück. »Gib zu, dass ich dich erwischt habe, ja?«

    Frerichs schüttelte angewidert den Kopf über so viel Hochmut. Dann betätigte er wieder die Sprechtaste. »Okay, Leute, wer war das eben? Wer hat geschrien?« Niemand meldete sich. Er wechselte einen Blick mit seiner Begleiterin. Thea runzelte die Stirn. »Meldet euch. Wir müssen uns sammeln! Das Spiel ist unterbrochen. Ich wiederhole: Time-out, bis wir wissen, was passiert ist!« Frerichs ließ die Sprechtaste los, lauschte auf das Rauschen im Gerät.

    Er sah zu Thea hinüber. Sie machte ein saures Gesicht. Offenbar war sie anderer Meinung.

    Unvermittelt erklang das wütende Geschrei, das Frerichs mit Mühe seiner Schwester Anna zuordnete.

    »Soll das ein Witz sein?« Sie war außer sich. »Ich habe so ein tolles Versteck. Ihr findet mich niemals!«

    »Anna!« Onno Frerichs beschwor sie. »Das Spiel ist erst einmal aus! Geh uns in Richtung Tote Eiche entgegen, over and out!«

    Er wusste, dass er hart bleiben musste, sogar bei seiner großen Schwester. Er war heute der Spielleiter und seine Freunde hatten zu gehorchen.

    »Roger. Haben verstanden!«, antworteten die Brüder Ubbo und Jibbe gleichzeitig. Gleich darauf meldete sich auch Freya und versprach unverzüglich loszulaufen. Frerichs wechselte mit Thea einen Blick. »Jetzt fehlen noch Coob und Fokko«, kommentierte sie mit leiser unsicherer Stimme. Onno erwiderte ein stummes Nicken.

    Sein Mund war mit einem Mal staubtrocken. Es fühlte sich plötzlich nicht mehr gut an, im Wald zu sein. Der Ort, der immer seine Kathedrale gewesen war. Seine Oase, der Raum stiller Andacht, und treuer Ratgeber für die scheinbar unlösbaren Probleme eines Jungen. Wenn ihn etwas plagte, ging Frerichs in den Wald. Noch Jahre später bedeutete ein Waldspaziergang seine Art der Stressbewältigung. Nach zwei Stunden allein mit sich im Wald war sein Kopf leer und die Lösung des Problems lag auf dem sprichwörtlichen Silbertablett.

    Angst beschlich ihn. Was ging hier vor? Er schluckte schwer. »Fokko? Coob? Meldet euch, sofort!« In seine Stimme hatte sich etwas Unduldsames gemischt.

    Wieder folgte nur statisches Rauschen. Diese Ungewissheit war nicht auszuhalten. »Los, Leute! Das ist nicht witzig! Gebt mir ein Lebenszeichen. Drückt die Sprech-Taste, wenn ihr nicht reden könnt.

    »Ah, Onno!«, rief eine dunkle Stimme. »Du Blödmann, wieso weckst du mich?«

    Fokko! Ein Schwall der Erleichterung erfasste Onno »Komm zur Toten Eiche!«, befahl er barsch. »Lass deine Spielchen und setz deinen Arsch in Bewegung.«

    »Roger. Bin auf dem Weg«, antwortete sein Freund ohne Murren. Fokko schien plötzlich genauso besorgt zu sein, wie er selbst.

    »Es ist Coob!«, stellte Thea mit tonloser Stimme fest.

    »Ja. Lass uns einen Zahn zulegen!« Im Laufen drückte Frerichs das Sprechfunkgerät wieder an den Mund. »Bitte melden, Coob! Coob, hörst du mich? Drück die Sprechtaste, wenn du mich hörst!«

    Frerichs ließ das Funkgerät sinken. Sein Freund meldete sich nicht. Schweiß brach Onno aus allen Poren. Sein Herz klopfte schmerzhaft in seiner Brust.

    »Weiß jemand von euch, wohin Coob gelaufen ist? Heute gibt’s keine Bestrafung!«

    Der Reihe nach meldeten sie sich. Doch niemand hatte etwas von Coob gesehen oder gehört.

    »Wir treffen uns an der Toten Eiche. Macht euch sofort auf den Weg, over and out!«

    Das Fehn teilte seine Besorgnis um Coob. Das fröhliche Gezwitscher der Vögel war verstummt, die Sonne hinter Wolken verschwunden. Die einzigen Laute stammten von ihm selbst. Onno keuchte, das Laufen strengte an. Thea an seiner Seite schien das Laufen weniger auszumachen. Sie erduldete sein Tempo stumm.

    Plötzlich gellte ein weiterer Schrei. Obwohl in diesem Geräusch nichts Menschliches mitschwang, wusste er sofort, dass es nur von Coob stammen konnte, stammen musste!

    Grenzenlose Angst, Schmerzen und Grauen glaubte Frerichs herauszuhören. Sein Körper reagierte augenblicklich und heftig: Die Haut prickelte, als sich die Härchen auf seinen Armen aufrichteten. Der Laut schickte Schauer seinen Rücken herab.

    Der Schreck spornte ihn zu noch höherer Geschwindigkeit an. Er verfiel in schnellen Laufschritt. So gut es eben ging, setzte er über Wurzeln und Äste hinweg. Die Schmerzen von zahllosen Verletzungen durch Zweige oder Dornengebüsch nahm er nicht wahr. Frerichs hatte nur noch Augen für die zwei Meter Weg vor sich. Immer weiter dem Ziel entgegen.

    Erst gegen Abend, wenn die Hatz beendet und die Welt um einen Schrecken reicher sein würde, sollte er das volle Ausmaß allen Schmerzes spüren. In diesem Augenblick jedoch galt seine volle Aufmerksamkeit seinem Freund Coob.

    Bilder füllten seinen Kopf: Coob, der verwundet an einem Baum lehnte. Coob, der sich das Bein hielt, das schrecklich verdreht, von ihm abstand. Coob, der ein blutgetränktes Taschentuch an die Stirn presste, weil er gegen einen Baumstamm gelaufen war.

    Seine Gedanken kamen zum Stillstand, als wieder atmosphärisches Krachen und Worte durch den Wald hallten. Niemals zuvor hatte Coob verzweifelter geklungen. Nicht als seine Schwester Elfi vom Walnussbaum fiel, weil eines der Bretter des Baumhauses morsch war. Sie brach sich damals das Schlüsselbein. Nicht als sein Bonanza-Fahrrad auseinanderbrach, weil der Rahmen schlecht verschweißt war. Und nicht als sein Hund Robbie vor seinen Augen von einem Lastzug überrollt wurde.

    »Nein!« Ein lang gestreckter Laut des Entsetzens. »Oh, Gott! NEIN, NEIN, NEIN!« Seine Stimme brach. Zum Schluss übertrug das Sprechgerät noch einige Sekunden atemloses Keuchen. Dann brach die Verbindung ab.

    Er ist tot, schoss es Frerichs durch den Kopf. Doch konnte das sein? Viel wahrscheinlicher war, dass Coob das Walkie-Talkie fallengelassen hatte. Im Gegensatz zu einem Telefon musste man die Sprechtaste gedrückt halten, wollte man senden.

    Frerichs stürzte unvermittelt über etwas und krachte der Länge nach hin. Mühsam kam er wieder auf die Beine. Thea an seiner Seite, blickte ihn mit schreckensweiten Augen an. Auch in ihren Augenwinkeln schimmerte es feucht. Sie half ihm, wieder auf die Beine zu kommen. Anschließend fasste er Thea am Arm und zog sie mit sich. Bis zur Toten Eiche war es nicht mehr weit. Gemeinsam legten sie den letzten halben Kilometer zurück.

    Aus der Ferne machte Frerichs zwei bunte Flecken an der Toten Eiche aus. Noch waren sie zu weit entfernt, um sie eindeutig erkennen zu können. Doch Onno glaubte, seine Schwester Anna zu sehen. Die Gestalt hob gerade in diesem Augenblick den Kopf und er wusste, dass er richtig gelegen hatte.

    Der zweite Schemen entpuppte sich als Jibbe. Vornübergebeugt, stützte er die Hände auf den Knien ab, um zu verschnaufen. Frerichs erkannte ihn an seinem Parka. Doch wo steckte Ubbo, Jibbes Bruder? Jibbe und er waren zusammen unterwegs gewesen! Der Schreck über seinen Verbleib verpuffte schnell, als Ubbo hinter einem der grauen Buchenstämme hervortrat. Er zog noch den Reißverschluss seiner Jeans hoch. Eine Hand zum Gruß erhoben, fummelte er mit der anderen etwas aus seiner Tasche. Bestimmt einen Schokoriegel, dachte Frerichs. Ubbo konnte in jeder Situation essen.

    Als Thea und er zu den anderen stießen, erkannte Frerichs in den Gesichtern seiner Freunde, denselben Schrecken, der auch ihn erfüllte. Etwas Grauenhaftes war geschehen! Daran bestand kein Zweifel. Keiner von ihnen glaubte an einen üblen Scherz, den sich Coob erlaubt haben könnte. Das hier war echt!

    »Fehlen noch Freya und Fokko«, stellte er fest. »Freya! Kommen. Wo steckst du?«, bellte Frerichs heiser ins Funkgerät. Die Antwort kam zu seiner Überraschung nicht über den Äther.

    »Hier!«

    Frerichs wandte sich um. »Schön dich zu sehen«, antwortete er und meinte es genauso. Seiner Meinung nach war sie das schönste Mädchen, von seiner Schwester Anna einmal abgesehen. Aber jetzt hatte er nicht den Kopf dafür. Der Schrecken über Coobs Verschwinden steckte wie ein Stachel in seinem Fleisch.

    »Hast du Fokko gesehen?«

    Freya schüttelte den Kopf. »Nee. Der trödelt bestimmt wieder. Aber vorhin habe ich so einen Typen mit einem komischen Hut gesehen. Und wisst ihr, was der dabei hatte?«

    Die Freunde schüttelten die Köpfe. Keiner hatte Lust auf ein Quiz. Freya genoss die Aufmerksamkeit, bis Frerichs ihr mit einer ungeduldigen Geste zu verstehen gab, dass sie mit der Sprache herausrücken solle.

    »Der schleppte eine dieser weiß-blauen Kühlkisten mit sich herum. Ist doch seltsam, oder? Was kann er damit gewollt haben? Ich meine, im Wald!«

    »Na, ja«, mischte sich Jibbe ein. »Bei einem Picknick kann man die Getränke darin transportieren, damit sie nicht warm werden. Vielleicht war er auf dem Weg zum Moorschlösschen?«

    Frerichs hielt die Diskussion um die ominöse Kühlkiste für unwichtig. Er widmete sich wieder seinem Sprechfunkgerät. Der Letzte im Bunde fehlte noch. Sein bester Kumpel, Fokko, glänzte mal wieder durch Abwesenheit.

    »Fokko. Kommen. Alle warten nur auf dich. Wo bleibst du, Mann?« Frerichs lauschte auf eine Antwort. Doch sein Freund enttäuschte ihn zunächst. Onno versuchte es noch einmal. Statt einer Antwort hörte er wieder nur Knistern und Knacken.

    Doch dann drang die Stimme Fokkos aus dem Walkie-Talkie.

    »Ich hab was gefunden!«

    Die Worte elektrisierten Onno. »Wo bist du?«

    Fokko klang ungewohnt ernst. »Am Marterpfahl! Beeilt euch. Ich habe Blut gefunden!«

    Die Freunde setzten sich in Bewegung. Niemand sprach ein Wort. Das war auch nicht nötig. Sie dachten alle dasselbe.

    Der Marterpfahl bestand aus dem geschwärzten Stamm einer riesenhaften Birke. Ein Blitz hatte sie vor langer Zeit gespalten und in Brand gesetzt.

    Fokko stand nicht weit davon entfernt und erwartete sie schon ungeduldig. An einem der knorrigen Äste hing etwas. Auf den ersten Blick glaubte Frerichs, einen Teil einer Fahne vor sich zu haben. Doch bei genauerer Betrachtung entpuppte es sich als ein Stück eines T-Shirts, das zerrissen und blutverschmiert war.

    Das gehört Coob! Ein Blick in die Gesichter seiner Freunde verriet ihm, dass sie ganz Ähnliches dachten. Alle standen wie angewachsen da.

    Seine Schwester Anna war die Erste, die zu sich kam. »Wir müssen ihn suchen gehen. Bestimmt ist es nicht so schlimm, wie es den Anschein hat.«

    Sie nahm den Fetzen vom Ast und hielt ihn unschlüssig in der Hand. Mit einem Mal gaben ihre Knie nach. Sie taumelte gegen den Marterpfahl, sank wie eine Kleiderpuppe in sich zusammen und blieb wie betäubt sitzen. Sofort war Onno an ihrer Seite.

    »Anna, was ist denn?« Er war besorgt. »Wieso nimmst du auch den blutigen Stoff in die Hand? Das ist ekelhaft!«

    Doch Anna überraschte ihn. »Ich weiß, wo er hin ist. Wir haben nicht viel Zeit. Er ist in der Senke; da, wo der Regen die Wurzeln unterspült hat. Dort will er sich verstecken! Kommt, schnell!«

    Und zur Verwunderung aller war es so. In der Senke fanden sie Coob. Er hatte noch versucht, in die Höhle zu kriechen, musste dabei aber gestellt worden sein. Er lag auf dem Rücken. Seine viel gerühmten grünen Augen starrten blicklos zu den Wipfeln hinauf. Doch alles Leben, alles was ihren Freund Coob ausgemacht hatte, war verschwunden. Sein Gesicht war zu einer Fratze des Entsetzens erstarrt. Welche unbeschreiblichen Gräuel musste er mitangesehen, welchen Schrecken erlebt, welche Schmerzen ertragen haben.

    Noch lange sollte Frerichs mit diesem schrecklichen Anblick aus seinen Albträumen erwachen. Coobs Bauchhöhle war aufgeschlitzt worden. Ringsum fand sich feucht glänzendes Blut und Gedärm.

    Später bei der Autopsie sollte sich zeigen, dass sein Herz, die Leber und beide Nieren fehlten.

    Onno Frerichs

    Dienstag, 06. Oktober 2015

    Die kritische Masse der Sendungen an diesem Tag war größer als Null. Für diese Feststellung genügte Onno Frerichs ein Blick. Aus der schneeweißen Gleichförmigkeit hoben sich nur wenige Schmutzig-graue ab. Unisono Behördenpost: Arbeitslosengeld- und Steuerbescheide, langweiliger Kram.

    Nichts wofür es sich zu sterben lohnte. Allesamt unkritisch, denn Einkommensmillionäre gab es in Ölbenfehn keinen einzigen. Arbeitsscheue jede Menge und Arbeitslose auch, doch die waren in der Unterzahl.

    Ein einziger Umschlag stach aus der Masse hervor. Die kräftige Signalfarbe, ein extravagantes Gelb, erregte Aufmerksamkeit. Es handelte sich um eine Zustellungsurkunde, deren Übergabe quittiert werden musste! Der bloße Anblick schickte einen Stromstoß durch seinen Körper. Der Adrenalinschub war stark genug, seine depressive Gemütsverfassung wegzuspülen. An trüben Herbsttagen wie heute ging seine Stimmung regelmäßig in den Keller.

    Als Frerichs den Namen des Adressaten las, beschleunigte sich sein Puls. Im selben Tempo pochten die Schmerzimpulse in seinem Hals und Nacken.

    Frerichs verspürte das dringende Bedürfnis nach einem Shiitake-Bier oder in Ermangelung dessen nach einem Pilz-Omelett. Leider hatte der Arbeitstag gerade erst begonnen und so begnügte er sich mit einem Briefchen. Frerichs faltete das Stück Papier vorsichtig auseinander. Zum Vorschein kam eine Kleinstmenge braunen Pulvers. Routiniert leckte er es auf.

    Danach drückte er die erste Ibuprofen 600 des Tages aus dem Blister. Er warf die Schmerztablette ein, zerkaute sie angewidert und schluckte sie trocken herunter. Aus schmerzhafter Erfahrung wusste er, dass die Linderung in etwa fünfzehn Minuten einsetzen und seine üble Laune halbieren würde. Die andere Hälfte würde er bis spätestens mittags Hinnerk Oldewurtel auf die Schultern geladen haben.

    Die Aussicht heute volle Erlösung zu finden, beflügelte Frerichs. Ein boshaftes Grinsen machte sich auf seinem hohlwangigen, wettergegerbten Gesicht breit.

    Frerichs war kein missgünstiger Mensch. Doch alle Regeln waren außer Kraft gesetzt, wenn es sich um Hinnerk Oldewurtel handelte. Die beiden Männer verband eine lange und tiefe Feindschaft. Oldewurtel war Schwarzbrenner. An sich hatte Frerichs nichts gegen Schwarzgebrannten. Er trank gerne und brannte sich auch seinen eigenen Schnaps. Doch Oldewurtel musste er stoppen. Der Mann stellte gefährlichen Stoff her.

    Zwei Nachbarn waren an dem Fusel schon krepiert.

    Und heute würde er in offizieller Mission an Oldewurtel herantreten müssen. Das gelbe Kuvert wies Oldewurtel als Empfänger aus. Oldewurtel, seines Zeichens Trucker war ein guter Konsument, doch ein lausiger Zahler. Unter Garantie handelte es sich bei dem gerichtlichen Schreiben um einen Mahnbescheid.

    Nichts ahnend von der nahenden Gefahr, in der er schwebte, blickte Frerichs zum Firmament hinauf. Er gab einen Stoßseufzer von sich.

    Und als sei das nicht genug, kam noch dieser trübe Tag hinzu. Frerichs stöhnte gequält auf, denn dieses Wetter reichte ihm. Einzig die Aussicht auf ein kühles Feierabendbier oder ein heißer Gewürzmet linderte seinen Ärger.

    Über ihm türmten sich graue Wolkenberge. Dramatisches bahnte sich an. Es sah ganz danach aus, als wolle der Himmel heute noch seine Schleusen öffnen. Und lange würde das Spektakel sicher nicht mehr auf sich warten lassen.

    Dem Wetterbericht hatte er keinen Glauben geschenkt. Zu oft irrten sich für seinen Geschmack die Wetterfrösche in letzter Zeit. Nun, für heute standen ihre Chancen gut, dass sie mit ihren Unkenrufen Recht behalten könnten, dachte er grimmig.

    Er zog seine Baseballkappe tiefer in die Stirn und schlug den Kragen seiner dünnen gelb-blauen Jacke hoch. Ärger wallte in ihm auf, den er jedoch rasch niedermachte. Er dachte an das Bier in seiner Garage und an ein großes Pilz-Omelett, das er heute Abend vertilgen würde.

    Vor seinem geistigen Auge entstand das Bild einer frischen Kiste Jever im Dämmerlicht seiner Garage. Sie stand dort inmitten von Gartenstühlen, einem halb verrosteten Grill und allerhand Kleinigkeiten, die entweder noch auf ihre Reparatur warteten oder deren letzte Bestimmung noch nicht geklärt war. Doch es war immer dasselbe: Der passende Moment zur Instandsetzung wollte sich einfach nicht ergeben! Irgendetwas kam halt immer dazwischen! Wenn er mal Zeit und Muße fand, ereignete sich immer irgendeine Katastrophe und es war an ihm, die Kastanien aus dem Feuer zu holen, meistens für einen der Klookschieter aus der Gemeindeverwaltung in Wittmund.

    Der heutige Abend versprach tollen Fußball. Das Erste übertrug die Begegnung St. Pauli gegen den HSV. Eine gute Gelegenheit, ein paar Fläschchen zu kippen, freute sich Frerichs. Der Gedanke an einen ordentlichen Rausch beflügelte und hob seine Laune noch einmal um ein paar Grad.

    Onno Frerichs startete seine gelbe BMW C1. Das Gewicht der Seitentaschen ausbalancierend, löste er mit dem Fuß den Ständer und gab Gas.

    Trotz der frühen Tageszeit und der Mühsal, die ihm das Aufstehen jeden Morgen bereitete, liebte er diese Landschaft. Er schaute über die Straße hinweg. Sein Blick fing sich in tausenden winzigen Reflexionen. Die Wasseroberfläche des Fehnkanals glitzerte voller Magie und Schönheit.

    Ringsum war alles ruhig. Frerichs setzte den Blinker rechts und lenkte seine Maschine vom Posthof auf das breite Band der Bundesstraße.

    Wie aus dem Nichts war das Geschoss herangekommen. Es näherte sich mit halsbrecherischem Tempo von links. Genau auf ihn zu! Alle Gedanken zerplatzten wie Seifenblasen.

    Es war ihm schon fürchterlich nah, ein Zusammenprall schien unausweichlich. Seine eigene Geschwindigkeit war längst nicht hoch genug, um ihn sicher aus der Gefahrenzone herauszubringen.

    Seine rechte Hand reagierte im Bruchteil einer Sekunde. Eine Drehung des Handgelenks und der Motor der Maschine heulte auf. Die C1 scheute, wie es ein Mustang tut, wenn er eine Schlange zu seinen Füßen erblickt. Einen Augenblick lang stand das Postmotorrad wie eingefroren auf dem Hinterrad.

    Ein Blick seitwärts. Anfangs ein verwischter rubinroter Fleck. Nach und nach fügten sich die Formen zu einem Ganzen und Frerichs erkannte den Fahrzeugtyp. Es handelte sich um einen SUV edler Abstammung. Ein seltenes Modell aus dem Silicon Valley. Im Dorf hatte bestimmt noch niemand einen solchen Schlitten gesehen. Geschweige denn gewusst, dass sie die Existenz ihrer geliebten Smartphones einem genialen Erfinder, gleichen Namens verdankten.

    Bei dem Fahrzeug handelte es sich um einen Tesla, ein X-Modell. Das Tückische an diesen Fahrzeugen war ihr Sound. Es gab praktisch keinen, von dem Abrollgeräusch der Reifen auf dem Asphalt einmal abgesehen, denn der Motor wurde elektrisch betrieben.

    Frerichs erschrak wegen der Situation und der Position, in der er und seine Maschine sich befanden. »Wheelies« vermied er seit Langem. Denn er war den Zwanzigern längst entwachsen, musste sich und den Ladies nichts mehr beweisen. Bei dem Anblick des Vorderrades, das auf gleicher Höhe war, wie sein Kopf, wurde ihm mulmig zumute. So geschah, was geschehen musste: Er verlor das Gleichgewicht und kippte mit seiner Maschine auf die Seite.

    Hart krachte er auf den Asphalt. Seine BMW begrub ihn unter sich. Aus einem Reflex heraus, versuchte Onno, sich noch mit den Händen abzufangen. Doch das misslang gründlich. Er zog sich Abschürfungen an der Hüfte und den Händen zu.

    Wenn er Handschuhe getragen hätte, wäre er sicherlich mit weniger Verletzungen davongekommen.

    Dank des Adrenalins in seinem Körper nahm Frerichs die Schmerzen kaum wahr. Nur am Rande seines Bewusstseins registrierte er das rohe Fleisch seiner Handballen.

    Ein nervenzerfetzendes Jaulen zerriss die Stille. Niemals zuvor hatte Frerichs dergleichen gehört. Das Geräusch entstand, als die Bremsklötze mit plötzlicher und unerwarteter Heftigkeit in die Keramik-Bremsscheiben bissen und so den Sportwagen in ein Geschoss verwandelten.

    Der Tesla vollführte ein eigentümliches Ballett. Nach rechts und links swingend, tanzte er über die Straße. Dabei malte er schwarze Schlangenlinien auf den Asphalt, die Onno an Mirò denken ließen. Wie durch ein Wunder verfehlte der Wagen das Post-Motorrad.

    Frerichs stemmte seine C1 hoch und kroch darunter hervor. Er robbte zum Straßenrand, musste erst einmal verschnaufen.

    Sein Schmerzzentrum feuerte wild. Den Hilfeschrei sandte sein blankes Fleisch aus. Rollsplitt und Dreck hatten sich hineingefressen, ließen es glühen. Doch nicht einmal die Hälfte der Impulse erreichte ihn. Gott Ibu sei Dank!

    Frerichs brüllte wütend: »Di sall de Kuckuck halen!«

    Der Tesla entfernte sich weiter und weiter. Nicht mehr lange und er würde verschwinden.

    Verdoomt noch mal! Frerichs verfluchte die Schwerfälligkeit seines Körpers. He denkt wat langsaam, murmelte er vor sich hin.

    Gefühlt mochten Minuten vergangen sein. In Wahrheit waren es sicherlich nur Bruchteile von Sekunden. Mühsam zog

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