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Die Midgard-Saga - Muspelheim
Die Midgard-Saga - Muspelheim
Die Midgard-Saga - Muspelheim
eBook431 Seiten5 Stunden

Die Midgard-Saga - Muspelheim

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Über dieses E-Book

Als ein Diener Hels in Asgard auftaucht und davon berichtet, dass Loki die Toten auf Naglfar sammelt, weiß Odin, dass nur noch eine Möglichkeit existiert, um Ragnarök zu verhindern: Er will Surtalogi vernichten, das Flammenschwert, mit dem der Feuerriese Surtr den Weltenbrand auslösen wird.

Alles scheint nach Plan zu verlaufen, doch dann wird ein alter Feind auf Odin und seine Begleiter aufmerksam und sinnt auf Rache …
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum1. Juni 2019
ISBN9783748592594
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    Buchvorschau

    Die Midgard-Saga - Muspelheim - Alexandra Bauer

    Prolog

    Ein energisches Poltern an der Tür ließ Jordis von ihrer Arbeit aufschauen. Seit Wochen hüllten Schnee und Eis die Welt in eine frostige Decke. Abgeschieden hockte die Frau in ihrer Hütte, denn bei den klirrenden Temperaturen wagten sich die Menschen nicht weit in den Wald. Als sich die verriegelte Tür nach einem zweiten Klopfen wie von Geisterhand öffnete und eine hochaufragende Gestalt in einem blauen Mantel auf die Schwelle trat, runzelte Jordis die Stirn. Mit dem Fremden wirbelten Schneeflocken in den Raum. Der Wind brachte das Feuer unter dem Kochtopf zum Flackern und tauchte den Ankömmling in ein Spiel aus Licht und Schatten. Zwei Raben krächzten protestierend auf seiner Schulter und verabschiedeten sich kreischend in den Wald. Voller Argwohn kniff Jordis die Lider zusammen. Das Antlitz des Bemantelten wurde von einem breiten Schlapphut verdeckt, ein langer weißer Bart floss über seine Brust. Er verharrte einen Moment auf seinen Speer gestützt. Als er endlich das Kinn hob, gab er den Blick auf sein gefurchtes Gesicht frei. Obwohl der Mann ausdrucklos zu Jordis sah, wirkte er grimmig, was daran liegen mochte, dass eines seiner Augen unter einer schwarzen Klappe verborgen lag. Den Kopf zum Gruß neigend, bat er um Einlass.

    Mürrisch winkte Jordis ihn näher. „Ehe du das letzte bisschen Wärme aus meiner Hütte treibst, tritt ein. Ich habe Suppe auf dem Feuer. Bediene dich!"

    Dankbar brummend lehnte der Mann seinen Speer an die Wand und schloss die Tür. Wortlos holte er eine Schüssel aus dem Regal und schöpfte sich von der Suppe ein, ehe er auf dem Stuhl gegenüber Jordis Platz nahm. Unter dem wachsamen Blick der Frau schlürfte er die Speise.

    „Du bist nicht von hier", stellte sie fest.

    Der Fremde hielt inne und nickte.

    „Eine schlechte Jahreszeit zum Reisen, denkst du nicht?"

    „Für mich keinesfalls", erwiderte er.

    Jordis beäugte den Mann genauer. „Wohin möchtest du? Hier wirst du nichts finden außer Einsamkeit."

    „Ich habe dich gesucht", erklärte er einsilbig.

    „Es muss wichtig sein, wenn du dafür bei diesem Wetter auf Reisen gehst. Woher kommst du?"

    „Von weit her. Aus der Welt, die alle Wesen als Asgard kennen."

    Überrascht holte Jordis Luft, doch sie blieb gefasst. „So war meine Vermutung richtig. Der Allvater persönlich hat mein Heim betreten. Was ist es also, das dich zu mir treibt, Odin, oberster aller Götter?"

    „Es ist das Wissen um mein Schicksal, nach dem ich strebe."

    Jordis runzelte die Stirn. „Niemand sollte seine Zukunft kennen, brummte sie. „Nicht einmal du.

    Odin legte den Löffel zur Seite, setzte die Schüssel an den Mund und leerte sie mit einem Zug. Als er das Gefäß wieder abstellte, fixierte er Jordis mit seinem Blick. „Die Welt soll untergehen. Ich muss im Bilde sein, wie es geschieht."

    „Ihr Ende wurde mit ihrem Anfang bestimmt", raunte die Alte.

    „Und doch weiß ich nicht, wie das alles eintritt. Du bist eine Völva, du kannst es mir erzählen!"

    „Es wird mir kaum möglich sein, meinem obersten Gott einen Wunsch zu verwehren. Aber sei gewarnt: Jenes Wissen wird dir keine Freude bereiten."

    „Fang an!", beharrte Odin.

    Jordis nickte bedächtig. Sie erhob sich, kramte aus einer Nische des Raums ein Gefäß und einen Stab hervor und kehrte an ihren Platz zurück. Summend öffnete sie das Töpfchen und breitete einen Halbkreis aus Kräutern auf dem Tisch aus. Dann stieg sie über den Stuhl hinauf und kniete vor den getrockneten Blättern nieder. Einen Singsang anstimmend, nahm sie den Stab in beide Hände. Behäbig bewegte sie die Arme auf und ab. Als die Schleier der Zukunft ihren Geist umfingen, sah sie das Schicksal des obersten Gottes in allen Details. Trauer überkam sie, denn das Ende der Welt würde grausam und unabwendbar über jedes Lebewesen hereinbrechen.

    Nur langsam klärte sich Jordis‘ Blick und gab die Sicht zurück in ihre Hütte und den einäugigen Gott frei. Sein Gesicht spiegelte Besorgnis wieder.

    „Was hast du gesehen?", fragte er.

    „Den Zusammenbruch von allem, was wir kennen. Willst du wirklich, dass ich dir davon berichte?"

    „Tu es!", befahl Odin.

    Mit einem Seufzen schloss Jordis die Lider. „Es beginnt in der Menschenwelt. Kriege erschüttern Midgard und tränken die Erde mit Blut. Die Mächte des Chaos haben die Herzen der Menschen vergiftet. Asen und Wanen können der Zerstörung nur tatenlos zusehen. Sie öffnete die Augen und sah Odin traurig an. „Der eigene Bruder wird den Bruder töten. Die Überlebenden werden von einem dreijährigen Winter geplagt. Er lässt nur wenige Menschen und Tiere in Midgard zurück. Sie sah Odin lange an. „Alsdann holt Angrbodas Brut Sonne und Mond ein. Sie verschlingen beide, die Sterne verschwinden, die Welt wird in Finsternis gehüllt. Nidhöggr durchtrennt die Wurzel der Weltenesche, der Baum fällt."

    „Yggdrasil?", stöhnte Odin fassungslos.

    Jordis senkte den Blick. „Willst du es wirklich wissen?"

    Odin nickte und Jordis fuhr fort: „Nachdem der Weltenbaum fällt, bläst Heimdall in sein Horn und ruft die Götter zur letzten Schlacht. Aber auch die Riesen vernehmen das Zeichen. Sie versammeln sich. Gierig und hungrig zu töten, ziehen sie zum Ort der Entscheidung. Die Midgardschlange weiß, dass ihre Zeit gekommen ist. Begierig wälzt sie ihren Körper über das Land. Nur wenige Menschen haben den Winter überlebt. Die Sturmfluten Jörmungands reißen die Überlebenden an den Küsten in den Tod. Jordis warf Odin einen prüfenden Blick zu. Als der Gott sie drängelte, weiterzusprechen, seufzte sie. „Auch Naglfar reißt sich los. Loki steuert das Heer der Toten gegen die Götter. In seiner Begleitung ist der Fenriswolf, der alles verschlingt, was ihm in den Weg kommt.

    „Loki!, ächzte Odin. „Er ist mein Blutsbruder. Wieso sollte er das tun?

    „Die Fesselung und die vielen Jahre der Pein wird er nicht vergeben. Er ist ein stolzer und verletzter Freund. Einst half er den Asen aus Schwierigkeiten, nun trachtet er nach deren Tod."

    Alle Farbe wich aus dem Gesicht des Göttervaters. „Fesselung? Aber wir sind stark! Auch wir haben mächtige Kämpfer."

    „Und ihr werdet euch mutig euren Gegnern entgegenstellen. Doch die Last alter Schuld wird euch zum Verhängnis werden. Da ist Freyr, Freyas Bruder. Er gab sein Schwert vor langer Zeit seinem Diener, um die Riesin Gerda zu gewinnen. Nur mit einem Geweih bewaffnet stellt er sich gegen den mächtigen Surtr. Er bezahlt es mit dem Leben. Jordis legte eine Pause ein. „Du solltest gehen. Das Wissen um die Geschehnisse wird dein Herz nur schwer machen. Noch ist Ragnarök nicht gekommen.

    „Was ist mit Thor? Er ist der Machtvollste unter uns allen. Er wird die Riesen in die Flucht schlagen!"

    „Thor kämpft gegen die Midgardschlange. Du hast recht, er ist stark, sein Herz rein und voller Mut. Er wird den Wurm besiegen, doch er läuft nur neun Schritte und fällt vergiftet zu Boden."

    Odin ächzte. „Auch Tyr versteht zu kämpfen. Was ist mit ihm?"

    „Tyr trifft auf Garm. Er zahlt genauso für die Schuld, die er einst beging, wie es Freyr tut. Das Schwert in der linken Hand führend ist er nicht fähig, Hels Hund niederzuringen. Sie töten sich gegenseitig. Ebenso ergeht es Heimdall, der seinem alten Feind Loki begegnet. Beide sterben vom Schwert des anderen getroffen."

    „Ich will nicht glauben, dass Loki gegen uns kämpfen wird. Er ist mein Blutsbruder!"

    „Und doch wird es geschehen."

    „Was ist mit mir?"

    Jordis seufzte. „Der Fenriswolf wird dein Ende sein. Lokis Sohn wird vollenden, was der Vater nicht schaffte."

    „Fenrir? Er lebt unter uns in Asgard!", protestierte Odin.

    „Vidar rächt dich. Er tötet den Wolf und wird Ragnarök überleben, doch gegen das Flammenschwert des Surtr wird auch er nichts ausrichten. Der Feuerriese schwingt seine todbringende Waffe in alle Richtungen und steckt die Welt in Brand. Das Feuer vernichtet Riesen, Zwerge, Einherjer ... und die letzten Asen ..."

    „Surtr wird es also sein, der die Welt zugrunde richtet. Odin legte die Stirn in zornige Falten. „Er schwor, den Frieden zu wahren!

    „In jedem Ende liegt auch ein Neubeginn, versuchte Jordis ihn zu besänftigen. „Zwei Menschen überleben. Fimbultyr wird ihnen eine neue Welt formen. Balder und Hödur kehren aus Hel zurück. Balder wird diese Welt lenken und eine Zeit nie gekannten Friedens einläuten.

    „Balder und Hödur kommen aus Hel zurück? Warum sind sie in Hel?", staunte Odin.

    „Sie werden dort sein, wenn Ragnarök über die Asen kommt." Freydis schlug die Augen nieder.

    „Wann wird es geschehen?", fragte Odin gefasst.

    „Noch viele Winter werden kommen und gehen, Generationen von Menschen die Welt bevölkern. Du wirst ein sehr, sehr langes Leben führen, Allvater."

    Odin holte Luft. Dann lehnte er sich vor. „Erzähle mir mehr, forderte er. „Ich muss alles wissen, bis ins kleinste Detail.

    Jordis nickte. „Wie du wünschst, Odin."

    1. Kapitel

    Gedankenversunken saß Thea am Rande Asgards und blickte auf Midgard hinab. Guten Mutes, die dunklen Ereignisse aus Hel irgendwie hinter sich zu lassen, hatte sie in den letzten Tagen viele Stunden hier verbracht, doch es trieb die Geschehnisse nicht aus ihrem Kopf. In der Totenwelt war sie Menschen eines vergangenen Lebens begegnet, die zu einem unwiderruflichen Teil ihres jetzigen Selbst geworden waren. Sie vermisste jeden Einzelnen von ihnen, vor allem Geirunn. Schlimmer als die Sehnsucht war die Gewissheit, dass sie die Gefährtin ihres früheren Ichs niemals wiedersehen würde. Beim Versuch die Totengöttin zu hintergehen und Balder aus ihrem Reich zu befreien, hatte Thea Hel verärgert, worauf diese ihr jede Aussicht irgendwann ins Totenreich zurückzukehren, verwehrte. Das war die Strafe für ihren Verrat und Theas anschließende Flucht. Wie eine stete Mahnung lag die Fylgja neben ihr. Seit ihrem Abenteuer in Hel zeigte sich ihr der Folgegeist. Jeder Mensch befand sich in Begleitung eines solchen Schutzwesens – sie offenbarten sich ihm aber erst kurz vor dessen Tod. Laut Hel war Thea im Slidr, einem Fluss, in dem Schwerter und Messer treiben, gestorben. Da in Hel alle Wunden heilen, hatte niemand davon Notiz genommen. Die Fylgja allerdings schon. Das seltsame Gefühl weder zu den Lebenden, noch zu den Toten zu gehören, begleitete Thea. Auch wenn sie sich dagegen wehrte, die Ereignisse in Hel hatten tiefe Spuren in ihrer Seele hinterlassen. Tom war ihr kaum von der Seite gewichen, seit sie wieder in Asgard angekommen waren und auch die junge Baba Jaga und Juli taten ihr Bestes, um Thea aufzumuntern, doch selbst Wal-Freya war es nicht gelungen, die finsteren Wolken aus Theas Geist zu vertreiben. Sie zog die Einsamkeit den gemeinsamen Momenten vor und ihre Freunde akzeptierten es, wenn auch nur schweren Herzens.

    „Hallo Grüblerin!" Wie aus dem Nichts tauchte Djarfur hinter Thea auf. Sanft stieß das Walkürenpferd sie mit der Schnauze an. „Du solltest damit aufhören, Tag für Tag hier zu hocken und nach Midgard zu starren."

    „Es lenkt mich ab", erwiderte Thea.

    Djarfur wieherte amüsiert. „Tut es nicht. Das weißt du."

    „Was treibt dich zu mir?", entgegnete sie mit einem Schmunzeln und leitete das Gespräch geschickt in eine andere Richtung.

    „Odin und Frigg haben aufgehört zu streiten."

    Thea drehte sich ruckartig um. „Was? Kein Flax?"

    Djarfur nickte. „Wal-Freya sagte, ich soll dich holen. Die Asen wollen über das weitere Vorgehen beraten."

    Sie stand auf. „Warum sagst du das nicht gleich? Wo sind sie? In Gladsheim?"

    Ein Kichern begleitete Djarfurs Wiehern. „Wo sonst? Meinst du, Wal-Freya würde mich schicken, wenn sie sich am Thingplatz träfen? Dahin könntest du von hier aus schon selbst laufen."

    „Das stimmt wohl", brummte Thea. Sie klopfte sich die Hose ab und umfasste Djarfurs Hals, um sich mit einem Sprung auf seinen Rücken zu schwingen.

    Der Rappe schüttelte den Kopf. „Ich liebe es, wenn wir zusammen reiten, meine Heldin." Er galoppierte los und hob sich nur wenige Schritte danach in die Luft. Thea waren Höhen noch immer nicht geheuer, aber langsam gewöhnte sie sich daran. Das unangenehme Ziehen, das stets durch ihren Magen fuhr, wenn sie in die Tiefe blickte, machte sich auf Djarfurs Rücken kaum noch bemerkbar. Sie vertraute dem Tier und fühlte sich in seiner Begleitung sicher. Er hatte sie in den letzten Tagen oft aufgesucht und zu einem Ritt um Asgards Götterburg eingeladen. In diesen Momenten rückte ihre Schwermut für einen Augenblick in weite Ferne. Rasch überquerte er die Wiese, auf der sich Yggdrasils Wurzel erstreckte und fegte über die Wohnungen der anderen Asen hinweg, die den Weg zu Odins Palast säumten. Die Fylgja sprang neben ihnen durch die Luft, gerade so, als begrüße sie die Abwechslung. Auf der großen Terrasse Gladsheims setzte Djarfur seine Reiterin ab. Er verabschiedete sich von Thea und kehrte nach Folkwang zurück.

    Sie lief auf den Eingang der Halle zu, die sich weithin sichtbar über Asgard erhob. Schon bevor Thea eintrat, empfing sie der Duft von gebratenem Huhn, vermischt mit dem Geruch gebackener Pfannkuchen. Ihr Blick fiel auf die schwere Tafel, die vor dem erhöhten Sitz des Allvaters stand. Sie war mit den gewohnt köstlichen Speisen Asgards angerichtet. Guter Dinge hockten die Götter beisammen, aßen und tranken. Mit Theas Erscheinen erstarben die Gespräche. Freudig begrüßten sie den Neuankömmling und warteten, bis sich Thea auf dem freien Platz neben Wal-Freya eingefunden hatte. Die Walküre legte ihr zur Begrüßung die Hand auf die Schulter, steckte aber sofort wieder den Kopf mit Freyr zusammen. Ebenso führten alle anderen Götter ihre Unterhaltungen fort. Juli zwinkerte Thea zu, lud ihren Teller voll und folgte den Gesprächen ihrer Tischnachbarn. Zu ihrer Rechten saß Tom, der erfreut lächelte, als ihn Theas Blick traf. Sie wich ihm ertappt aus. Auch ihr Freund war ein Grund dafür, dass sie sich in den letzten Tagen zurückgezogen hatte. Bestärkt durch Wal-Freyas Ermutigungen, hatte er Thea seine Zuneigung gestanden. Sie hatte diese längst gekannt und den Moment herbeigefürchtet, da er es offen aussprach. Sie mochte Tom, vielleicht mehr, als sie sich selbst eingestehen wollte, doch neben dem schlechten Gewissen, das sie Juli gegenüber empfand, die noch immer für Tom schwärmte, war da noch Geirunn. Treu und unermüdlich wartete ihre einstige Gefährtin auf sie in der Totenwelt. Wie sollte Thea jemals etwas für einen anderen Menschen empfinden? Mit abgewendetem Blick zog sie sich eine Schale mit Krapfen heran. Die Fylgja rollte sich hinter dem Stuhl ihres Schützlings zusammen und schloss die Augen, während sich Thea an den Speisen bediente. Odin thronte auf seinem erhöhten Sitz und überblickte die Versammlung mit versteinerter Miene. Die Wölfe Geri und Freki lagen zu seinen Füßen und schliefen. Hugin und Munin fehlten. Offensichtlich befanden sich die beiden Raben auf ihrem Flug durch die Welt. Thea lauschte hier und da den Unterhaltungen und wartete gebannt, dass der Allvater sich äußerte, doch er ließ darauf warten. Viel später rückte er sich räuspernd in seinem Sitz zurecht. Alle verstummten und blickten auf. Thea äugte unwillkürlich zu Odins Frau, die zur Rechten ihres Gemahls an der Tafel hockte. Als ihre Blicke sich trafen, überlegte Thea, ob die Göttin Traurigkeit oder Wut empfand. Es hatte sich herausgestellt, dass der Allvater am Tod ihres gemeinsamen Sohnes beteiligt gewesen war. Zusammen mit Loki, Gefjon und Balder hatte er beschlossen, der Weissagung der Völva zu entsprechen und Friggs Versuch ihren Sohn unsterblich zu machen mit einem tödlichen Ritual entgegengewirkt, das alle für ein Spiel gehalten hatten. Würde Frigg ihrem Mann jemals verzeihen können? Würde ihm überhaupt jemand der Anwesenden vergeben?

    „Was ich tat, tat ich, um den Fortbestand dessen zu sichern, das wir einst erschufen, verkündete Odin. „Ich werde mich nicht dafür entschuldigen oder rechtfertigen. Wir haben gemeinsam darüber entschieden und waren uns einig, dass es geschehen muss.

    „Mit gemeinsam meinst du dich, Gefjon, Balder und Loki, grunzte Vidar mit offenem Vorwurf. „Den Rest von uns hast du bei deiner Entscheidung außer Acht gelassen.

    Odins Blick verdunkelte sich. „Euch über die Zukunft zu unterrichten, wäre falsch gewesen. Gefjon hingegen wusste ebenso wie ich um die Dinge, die eintreten würden. Balder hatte ein Recht darauf, sein Schicksal zu erfahren. Um dieses zu erfüllen, brauchte ich Lokis Hilfe, nur deshalb weihten wir ihn ein."

    Heimdall schnaufte. „Natürlich hast du ihn gewählt. Nur Loki konnte so niederträchtig sein, Hödur, einen Blinden, ins Verderben zu stoßen! Du hast deinen eigenen Sohn verraten – zwei von ihnen!"

    „Es ist vorausgesagt, dass Hödur und Balder am Ende der Welt aus dem Totenreich zurückkehren und ein neues Midgard anführen. Es war notwendig."

    „Also hast du nur ihre Bestimmung erfüllt", brummte Tyr sarkastisch.

    Odin betrachtete den Kriegsgott mit eisigem Blick. „So ist es."

    Thor warf das Hühnerbein, an dem er kaute, erzürnt auf seinen Teller. „Wie konntest du nur? Du hast Balders Tod herbeigeführt und du hast zugelassen, dass Unschuldige dafür bezahlen!"

    Wal-Freya nickte beipflichtend. Sie blickte zu Gefjon. „Was hat dich dazu bewegt, dabei mitzumachen? Als wäre das nicht schlimm genug, hast du dich all die Jahre in Schweigen darüber gehüllt!"

    „Wir dachten, es sei das Richtige", rechtfertigte sich Gefjon.

    Thea betrachtete den obersten der Götter. Wie so oft fühlte sie sich klein und unbehaglich in seiner Nähe. Er hatte viele Dinge getan, die ihr Angst machten. Die Asen schoben Loki oft die Schuld für allerlei Dinge in die Schuhe, aber ihrer Meinung nach war der Allvater genauso unberechenbar wie der Feuergott selbst. Seinen Sohn Wali hatte er mit der Riesin Rind gegen deren Willen gezeugt, da es vorhergesagt war, dass nur sie ihm das Kind gebären würde, das Balders Tod rächte. Odins Beteiligung am Tod des Lichtgotts setzte Lokis Bestreben nach einem anderen Schicksal in ein völlig neues Licht. Er hatte nur getan, was Odin von ihm verlangte und bitter für seine Treue bezahlt. Der Zorn, den ihm die anderen entgegenbrachten, war nicht gerechtfertigt. Seit dem Beginn ihrer Reise war es das Ziel der Asen gewesen, die Dinge wieder ins rechte Lot zu bringen. Doch nicht Loki hatte zuerst in das Gefüge der Welt eingegriffen und die Zukunft verändert, es war Odin gewesen! Thea hatte ihren Verdacht schon einmal geäußert, nun zeigte es sich immer deutlicher.

    Mithilfe der Gedankensprache nahm sie Kontakt zur Walküre auf: „Er hat alles gestanden. Ich habe es dir in Jötunheim gesagt: Odin hat damit angefangen, alles durcheinanderzubringen. Wenn er sich nicht die Zukunft hätte voraussagen lassen, wäre all das nicht geschehen. Er hätte Fenrir nicht gefesselt und er hätte nicht gewusst, dass Balder sterben würde. Vielleicht wäre alles ganz anders gekommen. Womöglich würde Balder noch leben!"

    „Die Nornen legen unser aller Schicksal mit unserer Geburt fest, Thea. Wann begreifst du das endlich?", erwiderte Wal-Freya.

    „Du versuchst doch auch in das Schicksal einzugreifen. Zuletzt mit unserem Vorhaben Balder aus Hel zu holen", erinnerte Thea.

    „Ich wollte die Dinge nur in Ordnung bringen, indem wir die Weissagungen wieder wahrmachen. Nur weil wir Loki keinen Einhalt gebieten können, habe ich mich auf die Sache in Hel eingelassen, aus keinem anderen Grund."

    „Verstehst du nicht? Odin hat lange vor alledem hier versucht Ragnarök zu verhindern. Damit hat er es selbst vorangetrieben."

    Die Wanin nickte. „Da es vorausgesagt war, ist alles gekommen, wie es kommen sollte. Loki hingegen ist nicht an seinem Platz. Er wandelt frei durch die Welten und schmiedet Pläne gegen uns. Ich will, dass sich mein Schicksal erfüllt, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Loki hat die Ordnung durcheinandergebracht. Ich weigere mich, das zu akzeptieren!"

    Mutig erhob sich Thea. „Odin, Frigg, ihr alle, bitte hört mich an! Vielleicht kann ich das große Gefüge der Welt nicht verstehen. Ich bin nur ein Mensch. Ich begreife nicht, warum ein Vater seinen Sohn opfert, um dessen Schicksal zu erfüllen, obwohl er damit all das auslöst, was wir jetzt verhindern wollen. Ihr habt mich vor langer Zeit aufgesucht, damit ich Kyndill für euch finde und dafür sorge, dass Loki Ragnarök nicht schneller über die Welt bringt, als es vorherbestimmt ist. Euer Ziel war es stets, ihn wieder an seinen Platz zu bringen. Dann kam Fenrir frei. Wir haben ihn vergebens versucht zu fangen. Als letzten Ausweg sind wir nach Hel aufgebrochen, um Balder zu befreien – wir sind gescheitert. Wir haben alles getan, um Ragnarök zu verhindern und die Fehler der Vergangenheit zu revidieren. Doch es scheint unmöglich. Loki ist uns stets einen Schritt voraus. Aber nicht er hat Ragnarök heraufbeschworen, du warst es, Odin. Durch deine Handlungen ist es so weit gekommen. Indem du den Wolf gefesselt hast, brachtest du ihn gegen dich auf. Da du Balders Tod zugelassen hast, wurde Ragnarök eingeläutet. Wäre all das nicht geschehen, würde Loki wahrscheinlich noch immer an eurer Tafel sitzen und Scherze mit euch treiben. Alle Versuche, das wieder gerade zu biegen, sind gescheitert. Vielleicht ist es an der Zeit, die Dinge einfach geschehen zu lassen, sie sind doch ohnehin von den Nornen bestimmt ..."

    Bei ihren letzten Worten schnappten alle Anwesenden gleichzeitig nach Luft. Tyr sprang auf, ebenso Thor, Gefjon und Saga. Der Tisch war mit einem Mal erfüllt von aufgebrachten Stimmengewirr. Sif packte ihren Mann und zog ihn zurück auf seinen Stuhl. Während Juli Thea entgeistert anblickte, traf Wal-Freyas Blick sie kalt und unerbittlich.

    „Was erlaubst du dir, Thea?", knirschte Wal-Freya.

    Es war Frigg, die nachdrücklich Gehör forderte und die Versammelten zum Schweigen brachte. Gebannt richteten sich alle Augen auf sie, auch die von Thea.

    „Bevor ihr das Mädchen verurteilt, solltet ihr wissen, dass ich ihrer Meinung bin. Sie hob energisch die Hand, als erneut Stimmen laut wurden. „Odin hat die Dinge vorangetrieben. Es war ein schrecklicher Fehler zu glauben, mit der Erfüllung von Balders Schicksal würde er helfen das Fortbestehen seiner Schöpfung zu sichern. Statt all dies in Gang zu setzen, hätte er mich nur bei dem Versuch Balder unsterblich zu machen, aufhalten müssen. Er hat es nicht getan. Ihr Blick traf auf Gefjon. Verbitterung war aus ihm zu lesen. „Auch ich habe vorausgesehen, dass es Balder nicht helfen wird. Doch das Wissen um die Zukunft zu gebrauchen, ist falsch. Auf diese Weise geschehen Dinge schneller, oder sie tragen dazu bei, dass man das Schicksal herausfordert und es aus den Fugen gerät. Ihr werft all dies Loki vor und habt doch genauso gehandelt. Unsere Bestimmung wurde verändert, weil die Sehenden ihr Wissen nicht für sich behielten. Sie ließ den Blick über jeden Einzelnen schweifen. „Doch die Dinge sind geschehen und es führt zu nichts, wenn wir nun nach einem Schuldigen suchen ... Ihre Augen blieben auf Thea haften. „Oder wir aufgeben, die Ordnung wieder herzustellen."

    Beschämt senkte Thea den Kopf.

    Frigg sah zu Odin. „Alles was du getan hast, war vorherbestimmt. Ragnarök lag fern, doch seit Loki in sein Schicksal eingriff, rückt es unaufhaltbar näher. Ich spüre die wachsende Feindschaft zwischen den Menschen. Noch versuchen sie, sich dagegen zu wehren, aber das Chaos wabert langsam aus den Tiefen der Erde und umschmeichelt sie, so wie Jörmungand arglistig ihre Bahnen um Midgard zieht. Die Schlange lauert, sie spürt ihre Zeit, ebenso wie die Jöten. Das Totenschiff liegt nicht mehr still, seichte Wellen schlagen an seinen Bug und bringen es kaum merklich zum Schaukeln. Wir haben Hel verärgert. Ihr werdet gleich verstehen, wie sehr ..."

    Thea lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Frigg war in der Lage, in die Zukunft zu sehen, aber niemals machte sie von ihrem Wissen Gebrauch. Nun schwieg sie nicht länger. Die Göttin malte eine Zeit, die bis vor wenigen Minuten noch weit entfernt für Thea lag. Sie hob den Kopf und suchte Friggs Blick, doch Odins Frau hatte ihn in Richtung des Eingangs gerichtet, in dem zeitgleich Heimdall erschien. In seiner Begleitung befand sich ein Wikinger. Die Haut des Mannes schien ungewöhnlich blass. Mit dem Erscheinen des Kriegers sprang die Fylgja fauchend auf. Ein Schwert steckte in seinem Gürtel, an der gleichen Seite hielt er einen Schild. Der Blick hinter seinem Brillenhelm wirkte leer, obwohl er diesen zielgerichtet über die Anwesenden schweifen ließ. Auf dem Allvater blieb er ruhen. Rasch legte Wal-Freya eine Hand auf die von Thea. Diese ahnte Übles, doch sie wagte den Gedanken nicht auszuführen.

    Stirnrunzelnd betrachtete Odin den Fremden.

    „Hel schickt mich", sprach der Fremde mit fester Stimme und bestätigte Theas Verdacht, dass es sich bei ihm um einen von Hels Wardonen handelte.

    Mit dem Gesandten der Totengöttin wehte jäh die Kälte der Unterwelt in die Halle. Thea fröstelte. Ebenso wie ihr schien es Juli zu ergehen, denn ihre Freundin schlug mit einem unheilvollen Blick zu Thea die Arme um den Körper.

    „Ich soll euch ausrichten, dass Hel euren Verrat nicht verzeiht. Lange hat sie dem Wunsch ihres Vaters widersprochen, nun gibt sie seiner Bitte nach. Loki sammelt Getreue auf Naglfar. Einst starben wir tapfer auf dem Schlachtfeld, doch die Walküren haben uns nicht ausersehen, ihnen nach Walhall zu folgen. Es wird die Zeit kommen, an dem sie ihre Wahl bereuen. Der Tag der Abrechnung rückt näher."

    Es war Odin, der aufsprang und Thors Arm ergriff, in dessen Hand bereits Mjölnir lag, um der Respektlosigkeit des Wardonen ein Ende zu setzen.

    „Halte ein, Junge! Asgard ist eine heilige Stätte!"

    Die Adern unter der Haut des Donnergottes schwollen an, als er gegen seinen Zorn und den Griff seines Vaters ankämpfte. Mit einem Poltern, das im dichten Umkreis Teller und Speisen zur Seite fegte, schlug er Mjölnir auf den Tisch.

    Odin wandte sich an den Nachrichtenüberbringer. „Hel sollte ihren Entschluss noch einmal überdenken."

    „Ihre Wut ist endlos. Ihr Asen habt versucht, sie zu hintergehen und ihr habt sie aus der Totenwelt geführt." Er deutete auf Thea, der sofort der Atem stockte.

    „Das sollte Hel nicht allzu sehr grämen, brummte Odin. Er machte eine einladende Geste. „Möchtest du dich stärken, ehe du zurück zu deiner Herrin kehrst?

    Thor knurrte widerstrebend und wieder war es Sif, die ihren Gatten sanft, aber bestimmt auf seinen Platz zog.

    „Wir verwehren niemandem das Gastrecht", erinnerte sie.

    Der Wardone blickte in die Runde, dann setzte er sich. Thea konnte über das Verhalten der Asen nur staunen. Tom rückte unwohl in seinem Stuhl zurück, als sich der Krieger auf den freien Platz zu seiner Rechten niederließ. Er leerte einen Becher und bediente sich an den Speisen, während er die Anwesenden schweigend betrachtete.

    „Richte deiner Herrin aus, dass es auch für sie ein schlechtes Ende nehmen wird, wenn sie ihren Entschluss nicht überdenkt", sprach Odin nach einer Weile.

    „Das Totenreich wird es immer geben, erwiderte der Wardone, leerte einen zweiten Becher und erhob sich. „Aber ich werde ihr deine Worte überbringen. Sein Blick fiel auf Thea. „Vielleicht ließe sie sich besänftigen, wenn ihr ..."

    Nun sprang Wal-Freya auf. „Vergiss es! Hel irrt, wenn sie glaubt, dass sie einen Anspruch auf Thea hat."

    Ein dünnes Grinsen huschte um den gestutzten Bart des Kriegers. „Ist es das Schwert, das ihr fürchtet zu verlieren oder den Menschen?"

    „Beides, antwortete Odin für Wal-Freya. „Thea wird in Asgard bleiben. Darüber werde ich nicht verhandeln.

    Ein Blitz fuhr durch Theas Körper. In Asgard bleiben, hallte durch ihren Kopf. War es das, was Odin plante? Hatte er sie deshalb nicht nach Midgard zurückgehen lassen? Er hatte gesagt, er wäre um ihr Wohlbefinden besorgt. Natürlich stand Kyndills Sicherheit für ihn im Mittelpunkt. Das Schwert durfte nicht in falsche Hände geraten. Nur sie war in der Lage es zu führen – und Loki, wie alle seit ihrem Abenteuer in Hel wussten. Noch immer waren Thea die Auswirkungen der Ereignisse in Hel auf ihr Dasein nicht ersichtlich. Von einem auf den anderen Tag wusste sie nicht mehr, wohin sie gehörte. Nach Hel? Nach Midgard?

    „Mach dir keine Sorgen", drang Wal-Freyas Stimme in ihren Geist. „Wir werden die Dinge richten und du wirst bald wieder bei deiner Familie sein."

    „Es klang so endgültig", erklärte sich Thea.

    „Hier in Asgard hat Hel keine Macht über dich. Deswegen bist du hier. Wir wollen weder dich, noch Kyndill an die Totenwelt verlieren."

    Der Wardone verneigte sich leicht. „Habt Dank für eure Gastfreundschaft. Es wird nicht viel Zeit verstreichen, bis wir uns wiedersehen."

    Das Tafelgeschirr erzitterte, da Thor die Tischkante umklammerte und gegen die Wut kämpfte, die in ihm aufkochte. Ungeachtet dessen machte der Wardone kehrt und verließ in Heimdalls Begleitung die Halle.

    Odin überblickte die Anwesenden, dann ließ er sich auf seinen Sitz nieder.

    „Loki scharrt also eine Armee von Toten um sich", knirschte Tyr.

    „Die Weissagung nimmt Gestalt an", fügte Saga hinzu.

    Odins Auge richtete sich auf seine Frau. „War es das, wovon du sprachst?"

    „Ragnarök war uns nie so nah wie in diesem Augenblick", antwortete Frigg unheilvoll.

    „Das ist doch viel zu früh, oder nicht?", japste Tom.

    Frigg nickte stumm.

    „Das müssen wir verhindern!", rief Juli.

    „Ich will nicht, dass meiner Familie etwas passiert, stimmte Thea zu. „Egal was zu tun ist, ich werde es wagen. Der Wardone sagte, Loki sammelt die Toten. Er ist also noch in Hel. Wir gehen zurück und legen ihm endgültig das Handwerk!

    Odin seufzte. „Das wird nicht gelingen."

    „Klingt, als willst

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