Gretchen und das unaufhaltsame Leben
Von Petra Jaenicke
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Über dieses E-Book
So unterschiedlich diese Erzählungen auch ausfallen, spürt man bei allen Protagonisten den Mut zur Hoffnung und ihre Verneigung vor der Liebe, vor dem Leben und vor Menschen mit Zivilcourage. Die Themen Flucht und Exil sind heute immer noch aktuell, genauso wie ihre Geschichten über den Mut zum individuellen Widerstand gegen faschistisches Gedankengut und Handeln.
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Rezensionen für Gretchen und das unaufhaltsame Leben
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Buchvorschau
Gretchen und das unaufhaltsame Leben - Petra Jaenicke
„So lass uns Abschied nehmen wie zwei Sterne,
durch jedes Übermaß von Nacht getrennt,
das eine Nähe ist, die sich an Ferne
erprobt und an dem Fernsten sich erkennt"
Rainer Maria Rilke
Für meine Großeltern … „see you in heaven"
ELSA
Verwurzelung, Sex, Ausreden und die Unfähigkeit zur Balance
Die Kälte haucht mich an, kriecht mir bis tief in die Knochen, unaufhaltsam und zielstrebig. Von den Füßen aufwärts breitet sie sich aus, bis sie an den Ohren und der Stirn angelangt ist. Mit viel Kraft stoße ich den Spaten immer und immer wieder in das gefrorene Erdreich, so kann ich meinen Körper spüren und die Kälte vergessen. Zentimeterweise vordringend werde ich nicht aufgeben, bis das Loch groß genug ist. Zwar ist die Menge an Erde neben mir inzwischen beachtlich, aber noch reicht die Vertiefung nicht aus. Schwer atmend stütze ich mich einen Moment auf den Spaten. Langsam steigen nun doch Bedenken in mir hoch, ich könnte nicht schaffen, was ich mir vorgenommen habe. Schnell kratze ich den Rest meines Selbstbewusstsein zusammen, verscheuche alle destruktiven Gedanken und schimpfe in mich hinein: „Selbst Schuld, warum bin ich auch so dickköpfig und muss ausgerechnet heute dieses Loch graben! Aber nach der letzten zähen Nacht, mit ihren graudiffusen Traumattacken, brauche ich dringend etwas Handfestes. Meine Träume sind oft geprägt von einer unbestimmten Ängstlichkeit, und beim Frühstück hatte ich es bitter nötig, mir selbst jede Menge Mut zuzusprechen: „Wer Bäume pflanzen darf, braucht sich vor der Welt nicht mehr zu fürchten!
, ging es mir durch den Kopf. Ein Satz, den meine Großmutter oft liebevoll tröstend zu meinem Großvater gesagt hat, wenn er mutlos war. Den kleinen Apfelbaum, der schon seit dem vergangenen Herbst, in Erde eingeschlagen, im Garten auf das Frühjahr wartet, werde ich heute pflanzen, hatte ich mir daraufhin fest vorgenommen. Der Frühling ist zwar erst zu ahnen und der Boden noch nicht offen, trotzdem, heute ist für mich genau der richtige Tag! In der Kindheit haben meine Großeltern mir gezeigt, was es heißt, einen Garten zu bepflanzen, Obst und Gemüse anzubauen und wachsen zu sehen. Von ihnen habe ich erfahren wie wichtig es ist, die Natur und die Veränderungen in den Jahreszeiten zu beachten, und mit ihnen zu leben. Nach dem langen, kalten Winter warte ich nun ungeduldig auf den Frühling, die Jahreszeit des Wachsens und der Neuanfänge. Ich kann in Begeisterung verfallen, wenn die ersten Blätter und Blüten auf ihrem Weg ans Licht durch die Erde stoßen. Ich begrüße jedes Blatt, kenne alle meine Pflanzen im Garten und beobachte ihre täglichen Wachstumsfortschritte. All das fasziniert mich. In Gedanken versunken arbeite ich weiter und weiter. Beim nächsten erschöpften Innehalten stelle ich fest, es könnte jetzt groß genug sein, das Loch für den kleinen Baum. Ich nehme ihn mit einer Hand, halte das Bäumchen vor mir in die Luft, schaue es mir genau an, drehe die kahlen, dünnen Äste seiner Krone in verschiedene Richtungen, und versuche mir vorzustellen, wie sie später hoch in den Himmel ragen, eine dichte Krone bilden, und wie der großgewordene Baum sich in die Gartenlandschaft einpasst, solange, bis ich zufrieden bin. Vor meinem inneren Auge noch einen grünen Sommergarten sehend, drängt sich die Kälte um mich wieder in mein Bewusstsein. Bevor ich die Wurzel endgültig in das Erdreich hinabsenke, versuche ich, mit energisch wiederholtem Aufstampfen, meine eisigen Füße wiederzubeleben. Ein erfolgloser Versuch. „Nur noch ein wenig Geduld, bald kommt ihr ins Warme, rede ich ihnen gut zu. Egal wie kalt mir ist, zuerst muss meine Arbeit fertig werden. Der Baum steht nun an seinem Platz, jetzt kann das Loch mit Erde aufgefüllt werden. Mehrmals schlämme ich das Erdreich mit viel Wasser rund um den Wurzelstock ein und trete die nasse Erde vorsichtig fest, ohne die zarten Wurzeln zu beschädigen. Die zwei großen Gießkannen mit warmen Wasser habe ich vorhin mühsam vom Haus bis hier herunter geschleppt, den ganzen Weg quer über die Wiese, bis ans Ende meines Grundstücks, und durch das vor Frost unter meinen Schuhen knirschende Gras. Immer noch dampft der Wasserstrahl beim Ausgießen. Zum Schluss den kleinen Stamm an den Pfahl binden, den ich in das Loch gestellt und mit dem schweren Hammer ein ganzes Stück tiefer in die Erde geschlagen habe. Ihn braucht der Baum, damit der Wind ihn nicht lockern kann, solange er noch nicht fest mit dem Erdreich verwurzelt ist. „Gut verwurzelt zu sein
, das verlangt Zuwendung und viel Zeit, nie schien mir das anschaulicher und logischer, denn dieses Gefühl der Verwurzelung habe ich selbst gerade bitter nötig. Ich trete zurück, betrachte kritisch mein Werk und bin mit allem zufrieden. Genau wie mein Großvater brauche ich manchmal die Arbeit in der Natur wie eine Therapie, denn meine Lage ist gerade schwierig, viel schwieriger, als ich es mir vorgestellt habe. Zwischen zwei Männern balancierend, wechsele ich vom linken auf das rechte Bein und zurück. Auf dem linken Bein fehlt mir schon seit längerer Zeit die Fähigkeit, in Balance zu bleiben, auf dem rechten Bein weiß ich noch nicht so recht ob es mir jemals gelingen wird, sie zu halten. Von einem Augenblick auf den anderen können beide Beziehungen vorbei sein, da werde ich ganz schön ins Straucheln kommen, vielleicht sogar hart auf die Schnauze fallen, da bin ich mir sicher. Das Leben steckt in einer Krise, wenn sich so etwas ereignet. Mit einem neuen Mann etwas anzufangen und nicht zu wissen, ob das nur so ist, weil man sich gerade einsam und traurig fühlt, weil die alte Liebe langsam stirbt, ist halt ein ganz schön gefährliches Unterfangen. Mit diesen trüben Überlegungen beschäftigt, steige ich langsam die Wiese hoch, schleppe mich und mein Gartenwerkzeug zurück. Bevor ich das Haus betrete schaue ich noch einmal in Richtung Garten, über ihm brechen gerade die Wolken auf, die Sonne kommt heraus und beginnt die Erde zu wärmen. Die schmutzigen Stiefel lasse ich vor der Tür auf der Terrasse stehen, um die ich mit Sträuchern eine schützende Hecke gepflanzt habe. Drinnen schenke ich mir wärmesuchend eine Tasse heißen Tee aus der Thermoskanne ein, setze mich in den Sessel und drücke meine kalten Füße fest an die warme Wand des Kachelofens. Als ich sie langsam wieder spüre und der Tee mich auch innerlich wärmt, überlasse ich mich ganz diesem wohltuenden Gefühl und meinen Erinnerungen.
Am Anfang ging es mir einfach um ein wenig emotionalen Abstand von Gregor. Ein kleines Abenteuer, eine Ablenkung von meiner tendenziell unguten Beziehungsrealität, vielleicht auch ein bisschen Rache, warum, verdammt, sollte ich mir das eigentlich versagen? War ich Gregor nicht schon lange egal? Immer wieder verletzt er meine Gefühle, ohne jede Rücksicht. Da kam die Bestätigung, begehrenswert und attraktiv zu sein, gerade recht. Zu glauben, wir könnten einfach nur Spaß am Sex haben, war eben ein wenig naiv. Das war mir von Beginn an irgendwie klar, aber ich habe mich gehen lassen, wollte es nicht wahrhaben, und habe mich kopfüber in ein dummes Abenteuer gestürzt, bei dem die Vernunft mal eben auf der Strecke geblieben ist. Die Gefühle aus so einer Geschichte heraushalten zu wollen ist viel, viel schwieriger, als sich für eine neue Frisur zu entscheiden, habe ich bald festgestellt. Inzwischen warte ich sehnsüchtig darauf, dass Kai mich besucht oder wenigstens anruft. Und ich fühle mich unendlich einsam, wenn er wieder geht. Gleichzeitig bewege ich mich innerlich immer weiter weg von Gregor. Seine Geschichten langweilen mich, seine Nähe, seinen Anblick ertrage ich nicht mehr, werde richtiggehend aggressiv, wenn er etwas von mir will, und verfalle immer häufiger in ein abweisendes Schweigen. Meine Gefühle für ihn sind so abgekühlt, dass in seiner Nähe scheinbar sogar meine Körpertemperatur sinkt. Etwas emotionaler Abstand, ja, das war schon Sinn der Sache, nur, so hatte ich mir das Ganze nicht vorgestellt. Seit einiger Zeit gerate ich zunehmend in einen Zustand großer Verlorenheit, habe manchmal das Gefühl, auf der Oberfläche eines fernen Mondes umherzuirren, oder die Realität um mich herum nur noch wie durch eine trübe Glasscheibe wahrzunehmen. Es läuft gerade gar nicht gut!
Begonnen hat alles letztes Jahr. Er und ich arbeiteten in zwei verschiedenen Teams, für den gleichen Konzern. Fotografiert wurde in einem Landstrich in Spanien, in dem schon früh im Jahr gutes Wetter und schönes Licht zu finden sind. Als Artdirektorin habe ich mir inzwischen einen guten Ruf erworben und werde von großen Firmen und Agenturen gebucht. Der Job war eine Herausforderung, wie immer, aber ich liebe das Reisen und weiß, dass ich gut bin. Der große deutsche Konzern, für den wir beide dort arbeiteten, hatte alles bereitgestellt, wir mussten uns nur absprechen. Das erste Team, mit ihm als Fotograf, war schon eine Woche vor mir angereist. Am Abend meines Eintreffens wurde ich von meinem örtlichen Produktionsleiter vom Flughafen abgeholt und nach dem Einchecken ins Hotel in das Lokal mitgenommen, in dem die andere Crew sich schon zum Abendessen versammelt hatte. Ich war schnell umgezogen, hatte die praktische Reisekleidung aus Jeans und Pulli gegen Rock, Bluse und Jackett getauscht, die langen Haare hochgesteckt und Lippenstift aufgelegt. Ein schneller Blick in den Spiegel zeigte mir, wie gut ich aussah. Diesbezüglich bin ich selbstbewusst, lege immer Wert auf ein gepflegtes Auftreten. Schon bei der gegenseitigen Vorstellung im Lokal hat Kai mich von oben bis unten angeschaut, nicht frech, sondern erstaunt und mit einem bewundernden Blick. Ich habe es bemerkt und mich geschmeichelt gefühlt. Manchmal ereignen sich solche Momente, in denen sofort eine gegenseitige Anziehungskraft, jenseits aller Worte da ist, man sich merkwürdig vertraut vorkommt. Er, offensichtlich nett und auch noch attraktiv, warum sollte ich mich nicht auf einen Flirt einlassen? Zwei Tage später verabredeten wir uns nach dem Abendessen mit dem Team noch zu einem kleinen Spaziergang am nahen Strand. Bald gingen wir Hand in Hand, in einem unausgesprochenen Einverständnis nach mehr Nähe suchend. Als ich irgendwann stehenblieb, um das Spiegelbild des Mondes auf dem dunklen Wasser zu betrachten, und um uns Gelegenheit zu mehr Nähe zu verschaffen, stellte er sich ganz nah hinter mich. Zuerst bewunderten wir Wange an Wange den Mond, dann ließ er seine Fingerspitzen langsam links und rechts von meinem Hals bis auf die Schultern hinunter gleiten, küsste mich sanft in den Nacken, nahm mich an den Schultern