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Seelenfresserin: The Hidden Folks
Seelenfresserin: The Hidden Folks
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eBook359 Seiten4 Stunden

Seelenfresserin: The Hidden Folks

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Über dieses E-Book

Seit Selina Serra denken kann, verbirgt sie ihre besondere Gabe. Doch dann tauchen im Waisenhaus unheimliche Frauen auf und sie muss um ihr Leben fürchten. Ausgerechnet ein Vampir verhilft ihr zur Flucht und führt sie in eine Welt ein, in der es nicht nur Hexen und Vampire gibt. Selina begibt sich auf die Suche nach den Ursprüngen ihrer Gabe und erfährt, dass nicht nur Hexen allen Grund haben, Selinas Magie zu fürchten.
Die Fantasy-Buchreihe "The Hidden Folks" spielt in der heutigen Zeit, in der neben den Menschen auch andere Völker existieren. Diese versuchen mit allen Mitteln ihre Existenz geheim zu halten und leben nach unerbittlichen Regeln. Doch dann werden in den USA einige ihrer Kinder entführt und es kommt zu brutalen Todesfällen. Das Geheimnis der "Hidden Folks" droht aufzufliegen und es beginnt die verzweifelte Suche nach den Verrätern und deren Verbündeten.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum13. Apr. 2020
ISBN9783750232433
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    Buchvorschau

    Seelenfresserin - Ana Marna

    Sonntag, 1. April 1990

    Stuttgart, Deutschland

    Langsam tastete sich das Bein vor. Das zweite folgte, dann das dritte, vierte, bis alle acht Gliederbeine sich vorsichtig über die weiche Haut schoben.

    Sie war warm, so angenehm warm und attraktiv. Der Geruch war unwiderstehlich und lud sie geradezu ein, weiter zu klettern. Natürlich war sie nicht allein. Noch mehr Beine schoben sich heran. Ungewohnte Nähe von verwandten Seelen, doch das war nicht wichtig. Immer mehr Beine, immer mehr Körper scharrten sich um sie herum und erkundeten den warmen, weichen Leib, der sich in einem sanften Rhythmus hob und senkte.

    Ein lautes Glucksen brachte ihre Haare zum Schwingen und ließ sie kurz verharren. Die Schallwellen waren stark, doch es ließ sich aushalten. Die Wärme war anziehender und der Duft immer noch unwiderstehlich.

    Doch dann wurde es ungemütlich. Ein gellender Schrei zerriss die Luft und dann verrieten heftige Druckwellen drohende Gefahr.

    Flucht! Und zwar schnellstens!

    Alle stoben davon, in jede Himmelsrichtung, doch für manche war es zu spät. Grobe und brutale riesige Füße stampften auf zarte Körper und filigrane Gliederbeine und brachten Tod und Verderben.

    Corinna Serra schrie und trampelte panisch auf den fliehenden kleinen Schatten herum. Der Anblick, der sich ihr bot, als sie das Kinderzimmer betreten hatte, trieb sie an den Rand eines Herzinfarkts.

    In dem Kinderbett lag glücklich glucksend ihre kleine Tochter und streckte ihr fröhlich die zarten Babyarme entgegen. Dabei purzelten unzählige kleine Körper von ihr – Spinnen!

    Zahllose Spinnen jeglicher Größe wimmelten über das Kinderbett und über den Babyleib, bedeckten jeden Zentimeter der zarten Haut. Das Gesicht war kaum zu sehen.

    Corinna Serra schrie, wie sie noch nie in ihrem Leben geschrien hatte. Sie packte das nächstbeste Kleidungsstück und begann panisch, auf das Grauen einzuschlagen. Als die Spinnen flohen, trampelte sie wie besessen auf den widerlichen Kreaturen herum.

    Aus dem fröhlichen Glucksen der Kleinen wurde erst ein Weinen und dann ein schrilles Schreien.

    Corinna eilte besorgt näher. Zu ihrer Erleichterung schien ihre Tochter unverletzt. Keine Bissspuren waren zu sehen und mittlerweile auch keine Spinne mehr.

    „Alles ist gut, meine Kleine! Sie streckte die Arme aus, um ihr Kind aus dem Bett zu heben. „Selina, Kleines, alles ist jetzt wieder gut!

    Das Gebrüll schwoll an und ließ sie zögern. Irritiert betrachtete sie das Babygesicht. Das war kein Angst- oder Schmerzgeschrei mehr. Das war blanker Zorn. Die Babyaugen funkelten sie wütend an.

    „Selina, flüsterte sie erschrocken. „Was ist denn, Liebes? Diese kleinen Monster sind doch alle weg. Sie können dir nichts mehr tun!

    Doch Selina Serra brüllte weiter und ließ sich nicht beruhigen.

    Erst Stunden später schlief sie aus lauter Erschöpfung ein.

    Corinna Serra sah ihre Tochter nie wieder lächeln.

    Montag, 16. Juni 1997

    Stylianos-Stift, Stuttgart

    „Soso, du bist also Selina Serra."

    Mathilde Löw, Heimleiterin des Stylianos-Stifts, betrachtete das kleine Mädchen, welches mit niedergeschlagenen Augen vor ihrem Tisch stand. Die schwarzen Haare hingen in dichten Locken bis zu den Hüften hinunter. Die Haut wies einen zarten Braunton auf, der auf eine südliche Abstammung hindeutete.

    Selina war für eine Siebenjährige eher klein und zartgliedrig. Sie wirkte auf die Heimleiterin wie ein Püppchen, das beim nächsten Windhauch fortgeweht werden würde.

    Mathilde Löw seufzte innerlich. Dieses Kind war dafür prädestiniert, ein beliebtes Opfer für so manchen Heimbewohner zu sein, da war sie sich bereits sicher.

    „Selina, fuhr sie mit sanfter Stimme fort. „Ich weiß, dass es schwer für dich ist. Die Mutter zu verlieren ist furchtbar und in einem Waisenheim zu landen macht es sicherlich nicht besser. Doch glaube mir, dass wir uns nach allen Kräften bemühen werden, dass es dir bald wieder besser geht. Zumindest wirst du nicht alleine sein und wir werden sehr gut für dich sorgen. Ich bin mir sicher, dass du hier schon bald nette Freundinnen finden wirst. Vorerst wirst du mit Lisa und Janina das Zimmer teilen. Sie werden dir alles zeigen und die Regeln unseres Hauses erklären. Hast du noch Fragen?

    Das Mädchen hob den Kopf und seine schwarzen Augen blickten die Heimleiterin ruhig an.

    „Wann kann ich wieder gehen?"

    Mathilde Löw holte tief Luft. Mit dieser direkten Frage hatte sie nicht gerechnet.

    „Also – das wird wohl noch einige Zeit dauern, Selina. Zunächst wirst du die Schule hinter dich bringen müssen. Du gehst doch gerne zur Schule, oder?"

    „Nein. Schule ist langweilig."

    Wieder war die Heimleiterin überrascht. So viel Ehrlichkeit bekam sie selten zu hören.

    „Nun, ab morgen wirst du auf eine andere Schule kommen. Vielleicht ist diese ja nicht so langweilig, wie deine alte", lächelte sie. Das Lächeln wurde nicht erwidert. Selina Serras Gesicht zeigte weder Zweifel noch Zustimmung oder sonst irgendeine Regung. Sie schien einfach nur abzuwarten.

    „Also gut, dann solltest du dir jetzt dein neues Zimmer ansehen."

    Mathilde Löw erhob sich. Bislang konnte sie dieses Kind überhaupt nicht einschätzen.

    *

    Selina sah sich stumm in ihrem zukünftigen Zimmer um. Es war klein und beinhaltete drei Betten, einen Tisch mit drei Stühlen und einen dreiteiligen Kleiderschrank. Zu jedem Bett gehörte ein kleines Schränkchen. Über zweien der Betten hingen Poster aus billigen Zeitschriften und die Bettwäsche wirkte benutzt. Das Dritte war frischbezogen und kalt.

    Ihr Blick fiel auf die zwei Mädchen, die stumm auf den Stühlen hockten und sie anstarrten. Eines war etwa so alt wie sie und lächelte ihr zaghaft zu, die Heimleiterin nannte es Lisa. Das andere war etwa zwei Jahre älter und sein Blick wirkte ablehnend. Janina würde versuchen, ihr das Leben schwer zu machen, das erkannte Selina mit sicherem Gespür.

    Kaum hatte die Heimleiterin das Zimmer verlassen, da ging es auch schon los.

    Janina baute sich mit verschränkten Armen vor ihr auf.

    „Selina ist ein dämlicher Name. Ich werde dich Nana nennen."

    „Ist gut, Jaja."

    Janinas Gesicht verfinsterte sich sofort und ihre Arme sanken mit geballten Fäusten nach unten.

    „Wie war das?"

    „Du kannst mich gerne Nana nennen. Dafür werde ich dich Jaja rufen. Das ist nur fair."

    Janinas Faust schoss vor. Aber Selina glitt zur Seite, so dass der Schlag ins Leere ging und das Mädchen nach vorne taumelte. Selina trat einfach einen weiteren Schritt von ihr weg und wartete ab. Eines hatte sie in ihrem kurzen Schulleben bereits gelernt. Konfrontationen klärte man am besten sofort. Lieber ein blaues Auge, als ständige Pöbeleien.

    Lisa hatte sich in den hinteren Teil des Zimmers zurückgezogen. Mit großen Augen verfolgte sie die Auseinandersetzung.

    Wütend ging Janina auf das schwarzhaarige Mädchen los. Diesmal wich Selina nicht aus. Sie war kleiner und offensichtlich schwächer, doch ihre Flinkheit war ein Vorteil.

    Der Kampf war kurz, aber heftig. Selina verlor ein paar Haare und erhielt einige Kratzer im Gesicht, während Janina ein blaues Auge davontrug. Zum Schluss standen die beiden sich geduckt und wachsam gegenüber.

    „Miststück", fauchte Janina. Selina hob die Schultern.

    „Lass mich einfach in Ruhe. Dann lass ich dich auch."

    Das blonde Mädchen presste wütend die Lippen zusammen und sah dann zu Lisa.

    „Los, räum hier auf!"

    Die Kleine zuckte zusammen und kam hastig angelaufen. Selina trat zu ihrem neuen Bett und warf den Rucksack darauf. Dann beobachtete sie, wie Lisa das Zimmer picobello aufräumte.

    Janina zog sich ebenfalls zurück und schoss nur ab und zu finstere Blicke zu ihr hinüber. Der Kampf war nur unterbrochen, Waffenstillstand nicht in Sicht.

    Sonntag, 21. Juni 1997

    Stylianos-Stift, Stuttgart

    Die schrillen Schreie gellten durchs Haus und ließen alle hochfahren.

    Heimleiterin Löw rannte mit einem höchst ärgerlichen Gesichtsausdruck im Bademantel über den Gang und riss die Tür auf.

    Janina sass auf ihrem Bett und schrie wie am Spieß.

    Die Heimleiterin trat auf sie zu und umfasste ihre Schultern.

    „Janina! Hör auf, was ist denn nun schon wieder?"

    „Die Spinnen! In den blauen Kinderaugen las sie die nackte Panik. „Da waren überall Spinnen!

    Mathilde Löw sah unwillkürlich aufs Bett, doch nichts war zu sehen. Nur das geblümte Muster der Bettdecke.

    „Jetzt beruhige dich, Janina. Sie schüttelte das Mädchen sanft. „Hier ist keine Spinne. Nicht eine einzige. Du hast wieder geträumt.

    „Hab ich nicht, schluchzte das Mädchen. „Sie waren hier auf meinem Bett. Ganz viele. Bitte, Frau Löw, ich möchte hier nicht mehr schlafen. Nie wieder!

    Die Heimleiterin seufzte und sah zu den anderen beiden Mädchen. Lisa hatte sich ängstlich die Decke bis unter das Kinn gezogen. Selina lag völlig ruhig in ihrem Bett und zeigte überhaupt keine Regung. Wie immer.

    Wieder sah sie zu Janina. Dies war schon die fünfte Nacht, in der das Mädchen mit ihren Schreien das gesamte Haus aufgeweckt hatte.

    „Also gut, meinte sie. „Morgen wechselst du das Zimmer. In Nummer Vier ist noch ein Bett frei.

    „Ich will hier nicht bleiben, heulte Janina. „Ich will hier sofort raus!

    Es dauerte keine zehn Minuten, dann kehrte in Zimmer Zwei wieder Ruhe ein. Janina hatte den Raum gewechselt.

    „Glaubst du, dass die Spinnen noch hier sind?", flüsterte Lisa in die Dunkelheit hinein.

    „Sie sind weg."

    „Also waren sie wirklich da?"

    „Ja."

    „Werden sie wiederkommen?"

    „Fürchtest du dich vor ihnen?"

    „Ja." Lisas Antwort war leise, kaum mehr ein Hauch.

    „Dann nicht."

    Lisa lag mit offenen Augen in ihrem Bett und überlegte, ob sie jetzt erleichtert oder besorgt sein sollte. Woher wusste dieses seltsame Mädchen, dass die Spinnen nicht wiederkehrten? Doch sie glaubte ihr. In Selinas Stimme hatte so viel Überzeugung gelegen, dass sie ihr einfach glauben musste.

    Dienstag, 15. Juni 1999

    Stylianos-Stift, Stuttgart

    Selina beobachtete aus den Augenwinkeln ihre Tischnachbarn. Vierundzwanzig Kinder, so wie vier Erwachsene hockten an zwei langen Tischen und hielten die Hände zum Tischgebet gefaltet.

    Selinas Gedanken waren nicht bei der Sache. Gebete hatten ihr noch nie gefallen. Sie erinnerte sich an die Versuche ihrer Mutter, sie abends zu einem Gutenacht-Gebet zu bringen, doch irgendwann hatte sie aufgegeben. Ihre Tochter verweigerte sich, indem sie einfach die Lippen zusammenpresste und die Hände offen auf die Bettdecke legte.

    Hier im Heim würde sie das natürlich nicht tun. Nicht auffallen war wichtig, das hatte sie in den letzten zwei Jahren gelernt. Also faltete sie die Hände und hielt still. Ihr entgingen nie die anderen Augenpaare, die desinteressiert über den Tisch blickten. Gebete waren nicht nur ihr ein Gräuel. Doch sie vermied es, Blickkontakte herzustellen.

    Es gab nur eine Person, der sie erlaubte in ihre Nähe zu kommen, und das war Lisa, ihre Zimmergenossin. Alle anderen waren unwichtig. Ein Jahr hatte es gedauert, bis die anderen Kinder dies begriffen hatten.

    Selina Serra war keine Freundin. Sie war auch keine Feindin, solange man sie in Ruhe ließ. Sie verpfiff niemanden und hetzte niemanden auf. Sie ergriff keine Partei und hielt sich aus allem heraus. Manchmal schien es, als sei sie nicht existent. Nur wenn es um Lisa ging, stand sie da. Wachsam und präsent. Selbst Janina hatte gelernt, sich ihr gegenüber zurückzuhalten.

    Die Erwachsenen waren noch einfacher zu händeln. Selina widersprach nicht. Sie redete überhaupt sehr wenig und wenn, dann nur leise und unaufgeregt. Nichts schien sie aus der Ruhe zu bringen und sie hielt sich immer am Rand der Wahrnehmung.

    Die einzige Unruhe, die durch sie entstand, war vor etwa einem Jahr passiert. Ein Ehepaar wollte ein Mädchen adoptieren, und Selina war in die nähere Auswahl gekommen.

    Stumm und mit gesenktem Kopf hatte sie vor dem großen Gesprächstisch im Büro der Heimleiterin gestanden. Das Ehepaar Danzig hatte ebenfalls dort gesessen und sie freundlich angelächelt. Sie erzählten ihr von ihrem großen Haus, dem schönen Garten, und dass sie viele Reisen unternahmen.

    Selina lauschte schweigend und betrachtete die fahrigen Hände der Frau. Sie waren langgliedrig und gepflegt, doch sie wirkten unruhig. Beinahe hektisch.

    Plötzlich schrie die Frau erschrocken auf und ihre Hände zuckten panisch zurück. Eine große Spinne lief quer über den Tisch, schnell und lautlos. Die Heimleiterin sprang erschrocken auf und der Mann griff nach einer Zeitschrift, die in der Mitte des Tisches lag.

    Selina beobachtete Frau Danzig, wie sie mit ängstlichem und angewidertem Gesicht zurückwich. Als die Zeitschrift auf den Tisch knallte, hatte die Spinne bereits den Kurs gewechselt und fiel auf Selinas Seite über die Tischkante. Die Heimleiterin kam herumgelaufen und sah suchend auf den Boden. Doch das Tier war nicht mehr zu sehen.

    „Wo ist sie hin?"

    „Weg", kam die ruhige Antwort von Selina, die sich nicht von der Stelle gerührt hatte.

    Ruhe kehrte wieder ein. Nach einigem hin und her kam dann die Frage von Frau Danzig, auf die Selina ungeduldig gewartet hatte.

    „Und Selina? Könntest du dir vorstellen, es mit uns zu versuchen?"

    „Nein!"

    Die Antwort kam ruhig und entschieden. Das Ehepaar Danzig starrte sie perplex an.

    „Aber, - warum denn nicht", fragte Frau Danzig fassungslos. Offensichtlich hatte sie nicht damit gerechnet.

    Selinas schwarze Augen trafen die ihren.

    „Ich mag Sie nicht."

    Die Frau schnappte nach Luft. Heimleiterin Löw sah sie ärgerlich an.

    „Selina! Das war nicht sehr höflich!"

    Das Mädchen blickte nun sie an.

    „Aber es ist die Wahrheit."

    Mathilde Löw stieß einen lauten Seufzer aus.

    „Mag sein, aber man kann so etwas auch netter sagen."

    Selina schwieg und wartete darauf, dass sie endlich hinausgeschickt wurde.

    Als sie irgendwann im Korridor stand, schritt sie zügig nach draußen in den kleinen Innenhof. Dort sah sie sich wachsam um und bückte sich. Aus dem Hosenbein kletterte die Spinne und erklomm ihre ausgestreckte Hand.

    Selina hob sie dicht an den Mund.

    „Danke, Wahrheitsfinderin", flüsterte sie dem Tier zu und setzte es hinter einer Mülltonne auf den Boden.

    Seit dieser Episode war sie nicht mehr gefragt worden und das war ihr nur recht. Heimleiterin Löw hatte ihr eine Standpauke in Sachen Anstand gehalten, der sie natürlich aufmerksam zuhörte. Höflichkeit und Unehrlichkeit lagen gemeinsam in einer Grauzone, hatte sie den Worten entnommen, und beschlossen, dass sie diese Grauzone nicht mochte.

    Besser, sie kam ohne sie aus.

    Nun, ein Jahr später, hatte sich ihre Meinung diesbezüglich immer noch nicht geändert. Sie fand es schwierig, Höflichkeit von Unehrlichkeit zu unterscheiden, und blieb lieber bei der Wahrheit. Da diese aber häufig zu Ärger bei den Erwachsenen führte, versuchte sie, alle Situationen zu vermeiden, die Höflichkeit erforderten. Meistens gelang es ihr.

    Doch das Tischgebet war ein unangenehmer Kompromiss. Es widerstrebte Selina, so zu tun, als wäre ihr das Gebet wichtig. Doch dieses Ritual war in den Hausregeln fest vorgeschrieben. Es anzuzweifeln, würde langwierige Diskussionen und möglicherweise auch Bestrafung nach sich führen – und viel zu viel Aufmerksamkeit auf sie lenken.

    Nach dem Mittagessen zogen sich alle auf ihre Zimmer zurück.

    Hausaufgabenzeit.

    Selina liebte die Phase der Ruhe und Konzentration. Dies war die einzige Zeit im Haus, in der es wirklich still war. Danach kamen Hausarbeit und Gartenarbeit an die Reihe, und die Lautstärke schwoll üblicherweise deutlich an.

    Selina beschwerte sich nicht. Die Aufgaben waren nicht schwer und altersgemäß verteilt. Meistens musste sie in der Küche helfen und ab und zu den Hof fegen oder ein Beet von Unkraut befreien. Die Arbeit an der frischen Luft gefiel ihr am besten, doch da sie nicht die Einzige war, kam sie nicht allzu häufig dran.

    Heute musste sie den Hof fegen und das steigerte ihre Laune etwas. Doch als sie danach wieder ihr Zimmer betrat, fand sie Lisa zusammengerollt auf ihrem Bett liegen.

    Das war ungewöhnlich.

    Sie hockte sich auf ihr eigenes Bett und sah zu ihrer Zimmergenossin.

    „Bist du krank?"

    Nur ein kaum wahrnehmbares Beben erschütterte den schmalen Körper. Selina sah genauer hin. Lisa weinte.

    Langsam stand sie auf und trat zu ihr hin. Sie legte eine Hand auf Lisas Arm.

    „Was ist los?"

    Lisa krümmte sich noch mehr in sich zusammen und ein leises Schluchzen drang aus ihrer Kehle.

    Selina setzte sich auf die Bettkante und wartete geduldig.

    Es dauerte sehr lange, bis ein leises Flüstern an ihr Ohr drang.

    „Er hat mir wehgetan."

    „Wer?"

    „Arno."

    Der Name war nur gehaucht.

    Selina runzelte die Stirn. Arno war der einzige männliche Betreuer in diesem Heim. Sie mochte ihn nicht besonders, hatte aber nur wenig mit ihm zu tun. Einmal hatte er sie lächelnd gefragt, ob sie ihm einen Gefallen tun wollte, und sie antwortete ihm mit Nein. Er war erst verdutzt, dann ärgerlich geworden, sprach sie dann aber nie mehr an.

    „Was hat er getan?"

    „Er – er hat mich angefasst. Da unten. Und mit seinem Mund. Und – und dann hat er sein Ding in mich gesteckt. Es hat so wehgetan."

    Stockend, und von vielen Schluchzern unterbrochen, erzählte Lisa, was ihr an diesem Nachmittag widerfahren war.

    In Selinas Innerem wurde es immer kälter.

    Auch mit neun Jahren wusste sie, was ihrer Freundin angetan worden war. Sexualität war ein offenes Thema unter den Heimkindern. Und dass es Erwachsene gab, die Kindern damit Gewalt antaten, war auch ihr zu Ohren gekommen. Einmal im Jahr wurde es von den Betreuerinnen thematisiert. Meistens kommentierten die Kinder diese Belehrungen mit Kichern und blöden Witzen, doch Selina hatte den Ernst, der dahinter stand, verstanden. Und jetzt, wo sie die bebenden Schultern ihrer kleinen Freundin sah, kroch Zorn in ihr hoch. Das würde sie nicht zulassen. Nicht noch einmal!

    Sanft legte sie die Hand auf Lisas Stirn.

    „Er wird es nicht wieder tun", versprach sie leise und zog sich dann zurück. Sie musste nachdenken. Wie konnte sie Arno dazu zwingen, Lisa in Ruhe zu lassen, ohne ihre Freundin in Schwierigkeit zu bringen? Wenn sie die Heimleiterin darauf ansprach, würde Lisa mit Sicherheit ausgefragt werden, und das war nicht akzeptabel. Arno war noch nie auffällig geworden, und die Gefahr, dass man sie zu einer Lügnerin abstempelte, war groß. Nein, in diesem Fall musste sie sich eingestehen, dass die Wahrheit wenig hilfreich war. Arno musste verschwinden, ohne dass ein Zusammenhang mit Lisa hergestellt wurde. Doch zunächst wollte sie sicher sein. Sicher, dass Arno wirklich eine Gefahr für Lisa und andere Mädchen war.

    Sie legte sich auf ihr Bett und schloss die Lider. Sie brauchte Informationen, und da gab es für sie nur eine Möglichkeit. Freundliche, hilfsbereite Augen.

    *

    Arno Stadtfeld seufzte genüsslich, während seine Hand über die zarten Pobacken strich, die sich vor ihm aufreckten. Langsam glitt sein Finger in die schmale rosa Spalte.

    „Gefällt dir das, meine Süße?"

    „Ja!"

    Die Antwort war leise und zittrig, und ein Beben erschütterte die schmalen Oberschenkel. Arno beugte sich vor und tauchte seine Zunge tief in das süße Nass.

    „Mir auch, seufzte er und öffnete langsam seine Hose. „Glaub mir, es wird noch viel schöner für uns beide. Und wenn du brav bist, verspreche ich dir ein riesiges Eis mit allem, was dazu gehört.

    Er schob sich über den zuckenden kleinen Körper und versenkte sich tief in ihn. Die gedämpften Schreie nahm er kaum wahr. Sie waren Lustgewinn und steigerten seine Euphorie nur noch. Wieder und wieder stieß er vor und trieb sich in eine Ekstase, die so berauschend und beglückend war. Seine Hände strichen über die glatte nackte Haut, die sich unter ihm wand und zuckte. Dies war Glückseligkeit und Droge in einem.

    Kleine aufmerksame Augen glitten die Wand entlang. Sinneshaare waren aufgestellt und registrierten jede Erschütterung, jede Schallwelle, jede Bewegung. Kleine Körper, die durch Schatten huschten und jede Deckung nutzten. Lautlos und unbemerkt. Sie erkundeten das Zimmer, und erst, als sie das tränennasse Kindergesicht registriert hatten, verschwanden sie wieder.

    Arno Stadtfeld schloss zufrieden seine Hose und tätschelte ein weiteres Mal den nackten Kinderpo.

    „Brave kleine Janina, lächelte er. „Du hast dir dein Eis wirklich verdient. Aber vergiss unsere Abmachung nicht. Kein Wort zu irgendjemand. Du weißt, was sonst passiert!

    Janina nickte hastig und griff nach ihrer Hose, doch Arno hielt ihre Hand fest.

    „Moment, meine Kleine. Lass mich noch einmal etwas Nachspeise genießen."

    Wieder beugte er sich vor und spreizte ihre Beine weit auseinander.

    Janina schloss die Augen und stellte sich vor, dass sie weit, weit weg war. Weit weg von diesem Zimmer, von diesem Mann und dieser feuchten, gierigen Zunge, die tief zwischen ihren Beinen leckte und sie auszusaugen schien.

    Nichts konnte schlimmer sein. Nicht einmal Spinnen.

    *

    Es war weit nach Mitternacht, als Arno Stadtfeld die Augen aufschlug. Irgendetwas hatte ihn aufgeweckt, doch kein Lärm war zu hören. Schläfrig lauschte er nach der Störquelle, bis er registrierte, dass es kein Geräusch war, das ihn geweckt hatte. Ein ungewohntes Kribbeln war auf seiner Haut.

    Huschende Bewegungen, die er nicht sah, nur spürte.

    Gänsehaut überzog seinen Körper und langsam tastete er nach der Nachttischlampe. Als das Licht aufglomm, fiel sein Blick auf seinen Arm und er erstarrte. Dunkle, krabbelnde Körper mit langen gliedrigen Beinen klammerten sich an ihm fest und färbten den Arm schwarz. Mit einem entsetzten Schrei fuhr er hoch und sah, dass der Albtraum noch weitaus schlimmer war. Sein Bett war dunkel von einer bewegten Masse. Kleine wimmelnde Körper bedeckten nicht nur die Bettdecke, sondern krabbelten an seinem Leib herum.

    Spinnen, erkannte er, hunderte, ja tausende von Spinnen in allen Größen kletterten an ihm hoch. Wieder stieß er einen Schrei aus, der aber sofort erstickt wurde. Nacktes Entsetzen packte ihn, als sein Mund sich füllte. Chitinige, kratzige, winzige Klauen hakten sich in der Mundschleimhaut fest und drängten sich nach innen, tief in den Rachen.

    Arno Stadtfeld röchelte in Todespanik. Ein flammender Schmerz durchfuhr seine Brust und ließ den Atem stocken. Wimmernde Laute drangen aus seinem Mund und die Hände fuhren hoch, schlugen panisch um sich. Dann senkte sich die Dunkelheit vor seine Augen und er sackte in sich zusammen.

    Die schwarze Flut an Spinnenleibern zog sich zurück und verteilte sich, drängte durch jede Ritze und jeden Spalt nach draußen. Keine Minute später war nichts mehr von ihnen zu sehen. Nur Arno Stadtfeld lag mit weit aufgerissen Augen und geöffnetem Mund zusammengesunken auf seinem Bett.

    Sie fanden ihn am frühen Vormittag, und der eilends herbeigerufene Notarzt konnte nur noch seinen Tod feststellen.

    „Verdacht auf Herzinfarkt" schrieb der Arzt in sein Formular und niemand zweifelte es an. Arno Stadtfeld war mit zweiundfünfzig Jahren zwar nicht alt, doch sein Beruf war anstrengend. Der Umgang mit Kindern und Jugendlichen forderte einem Erzieher so einiges ab, das wusste jeder. Keiner hielt es für nötig, näher hinzusehen und so fand auch niemand die chitinigen Leiber in seinem Hals, die es nicht mehr nach draußen geschafft hatten.

    Ihr Tod wurde betrauert, doch sie waren gerne gefolgt.

    Mathilde Löw und ihre Kolleginnen trauerten ihrem freundlichen Kollegen noch lange nach. Die Botschaft in den Augen einiger Mädchen entging ihnen. Diese glitzerten erleichtert, und in den nächsten Wochen wirkten sie gelöster und entspannter als sonst.

    Sonntag, 19. Mai 2002

    Bornefeld, nahe Stuttgart

    Das Insektarium der kleinen Stadt Bornefeld war groß und gut besucht. Überall standen neugierige Menschen herum, flitzten Kinder hin und her und stießen begeisterte Schreie aus. Manche Gesichter blickten fasziniert, viele eher angeekelt. Doch die wenigsten Besucher schienen uninteressiert zu sein.

    Vor einigen Glasscheiben standen kaum Leute. Andere wiederum waren belagert, und man musste schon rücksichtslos sein, um etwas sehen zu können.

    Selina blieb vor jedem Fenster stehen. Seit zwei Stunden wanderten sie und die anderen Heimkinder durch die Räume.

    Es war Sonntag und Ausflugstag.

    Normalerweise mochte Selina diese Tage nicht, doch das Insektarium gefiel ihr. Zumindest teilweise. Was sie traurig machte, waren die Glasscheiben.

    Eingesperrt zu sein für den Rest eines kurzen Lebens kam ihr unfair vor. Immerhin wusste sie inzwischen mehr über Biologie

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