Die Nymphomanin
Von Heidi Hollmann
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Buchvorschau
Die Nymphomanin - Heidi Hollmann
Ach, du dickes Ei
Zur Zeit führte Irene zur österlichen Zeit, von wegen Winterspeck und so, eine Gewichtsreduktion durch.
Sie wusste genau, wie es sich anfühlt, vor allem abends mit hungrigem Bauch im Bett zu liegen. Dabei fiel ihr regelmäßig um diese Jahreszeit ihre arme blasse Tante Grete, „Gott hab sie selig," ein.
Die Dürre war damals im Hungerjahr 1945 weit davon entfernt, abnehmen zu wollen. Im Gegenteil, sie stürzte sich auf alles, was sie für essbar hielt. Sie verschmähte sogar geschmorte Kartoffelschalen nicht, klagte jedes mal hernach über einen scharfen Geschmack im Mund und ärgerte sich, das Mistzeug überhaupt gegessen zu haben.
Es war wieder einmal Ostersamstag und Irenes Oma und deren älteste Tochter, eben jene Tante Grete, hatten sich bemüht, für Irene und ihre Cousinen Eier zu ergattern. Falls sie tatsächlich welche „hamstern" sollten, würden sie die ovalen Kostbarkeiten, wie alle Jahre vor dem unseligen Krieg, färben. Wie es sich zu Ostern, jedenfalls zu Friedenszeiten gehörte. Die Lage schien jedoch ziemlich aussichtslos.
„Morgen wird der Osterhase wahrscheinlich nicht kommen," wurde den Kindern vorsorglich mitgeteilt.
Aber oh Wunder! Am nächsten Morgen fanden sie voller nicht zu beschreibender Freude, drei dicke, schneeweiße Eier in ihren Bechern vor! Ihnen lief das Wasser im Mund zusammen. Es störte sie nicht im mindesten, dass sie ungefärbt waren. Voller Gier und unter Schnauben zerdepperten sie mit den Kaffeelöffeln in Windeseile die Spitzen, machten sich genussvoll schlürfend und schmatzend an den köstlichen Inhalt. Irene hörte die Tante in der Küche hantieren. Das Kind muss der Teufel geritten haben. Es drehte sein sorgsam ausgelöffeltes Ei um und stellte das total leergefressene Gebilde in den Becher zurück. Von allen Seiten hielt das Ei einer Überprüfung stand. Jawoll, es sah makellos, wie frisch gelegt aus.
„Tante Grete, komm doch mal bitte her!" sagte das Kind arglistig wie es war.
„Ich möchte dir was zeigen!" Die Tante kam, fragte ungehalten, weil sie sich nicht gern in der Hausarbeit unterbrechen ließ:
„Was ist es denn los? „Hier mein Ei, du kannst es haben.
Irene verzog angeekelt den Mund. Die Tante stutzte.
„Ich mag es nicht mehr!", vernahm sie ungläubig schüttelte den Kopf, wobei ihr Gesicht vor Freude fast die Röte ihres Haares annahm. Nach der Entdeckung der Missetat kehrte ihre ungesunde Blässe jedoch zurück. Sie sah ihre Nichte durchdringend mit ihren grünen Augen an, so lang, bis diese beschämt den Blick senkte. Kein Sterbenswörtchen kam über die Lippen der Gefoppten. Das traf die Frevlerin wie ein Keulenschlag. Vor allem, dass die Tante ihr lange Zeit danach kaum mehr Beachtung schenkte, ließ sie fast verzweifeln.
„Warum hat sie dir damals keine runter gehauen? quälte sie sich noch lange in all den vielen verflossenen Jahren. Eine saftige Ohrfeige hätte sie entlastet, die Sache wäre erledigt gewesen. Vor allem brauchte sie sich nach über einem halben Jahrhundert nicht mehr zwanghaft vor jedem Osterfest an ihre arme Tante, „Gott hab sie selig!
und ihre eigene einzigartige Gemeinheit erinnern.
All(tag).
Seit Egon nicht mehr erwerbstätig ist, hat sich nicht nur sein, sondern auch das Leben von Eleonore grundlegend verändert.
Bisher brauchte sie auf niemanden während der Verrichtung ihrer hausfraulichen Notwendigkeiten Rücksicht nehmen, konnte vor allem Krach machen, so viel sie wollte. Sei es, dass sie ihre unsachgemäß aufgeschichteten Töpfe samt den Deckeln mit atemberaubendem Getöse auf den gefliesten Küchenboden fallen ließ. Oder auch das Radio in voller Lautstärke aufdrehte. Sie braucht sich vor nichts und niemandem verantworten, bisher jedenfalls nicht. All zu oft bekommt sie von dem Pensionär gesagt, wenn er beim Zeitungslesen wieder einmal wie von der Tarantel gestochen hochfährt:
„Ich befinde mich im Ruhestand, denke bitte daran. Du trägst in kürzester Zeit noch dazu bei, dass ich einen zweiten Hörsturz kriege."
Einzig und allein um den zu verhindern, hat Egon verfrüht das Erwerbsleben eingestellt. Sei’s drum. Er ist immer noch wendig und hat Abhilfe geschaffen, wenigstens, was die Töpfe angeht. Nein, nein, keine Sorge, er hat Eleonore nicht so weit in den Griff gekriegt, dass sie diese verfluchten Dinger, wie sich das seiner Meinung nach gehört, klassisch ineinander schachtelt. Weit gefehlt, er hat aber einen Ausweg gefunden und ihr einen Satz neuer Kochtöpfe gekauft. Solche mit Glasdeckeln. Ganz schön listig! Seine Frau kann es nicht mehr riskieren, sie zu Fall zu bringen. Sie stapelt weiter wie gehabt, hat aber den Lageplan genauestens im Kopf. Durch vorsichtiges Öffnen der Schranktür, wobei sie wie ein Panzerknacker ihr Ohr lauschend an die Schranktür presst, fällt ihr kein einziger Deckel mehr entgegen. Aber ihrem ordentlichen Mann, der seit kurzem, und wie konnte sie das ahnen, seine Vorliebe für’s Kochen entdeckt hat. Vor seiner Pensionierung war er Handballtorwart in der Altherrenmannschaft. „Gelernt ist gelernt," denkt sie bei sich und kann beruhigt davon ausgehen, dass er die Deckel mit Links sozusagen und im freien Fall, falls nötig, auffangen wird.
Für sie ist es eine große Umstellung, ihren Mann Restlebens im Haus zu haben. Zudem weiß sie gar nicht, wie sie all die Dinge in grauer Vorzeit ohne ihn geschafft hat.
Wieso war sie früher bloß ohne seine weisen Ratschläge in der Lage, z. B. Kartoffeln zu schälen? Er hat ihr erst neulich beigebracht, wie man sie vorschriftsmäßig von der Schale befreit. Die Schale muss, wie sie andächtig lauschend vernahm, auf jeden Fall hinterher transparent sein, damit die Vitamine, die ja bekanntlich unter ihr sitzen, diesem wertvollen Lebensmittel erhalten bleiben. Die Saucen sollten sämig sein, was immer er darunter versteht. Sie eignen sich durch ihre Dünnflüssigkeit vorzüglich zum Beplempern seiner Schlipse. Aber zum Glück trägt er seit seiner Pensionierung kaum mehr welche. Sein mittägliches Gläschen Wein schmeckt ihm auch schon nicht mehr, wenn sie es ihm nicht von links serviert. Er ist nämlich Linkshänder. Das hat er früher nie bemerkt. Wie gut, dass ihm jetzt zum Erkennen dermaßen wichtiger Dinge, die nötige Zeit zur Verfügung steht. Auch lehnt er neuerdings den Gebrauch eines Messers ab, wobei er seiner Frau beinahe leid tut. Wie muss er sich mühen, um die von der Gabel heruntergefallenen Nudeln wieder aufzuschaufeln. Dabei muss er ja müde werden. Sehr bald zieht er sich zu einem Schlümmerchen zurück, was ihm aber nur bekommt, wenn das Radio orgelt, so wie bei kleinen Kindern die Spieluhr.
Ach, es gibt so viele Dinge unter der Sonne, die sie bisher als Ehefrau nicht erkannt hat.
„Wie gut, dass unsere Männer uns wenigstens im Alter beistehen und uns, vor allem um unserer selbst Willen, auf unsere untüchtigen Finger schauen, wirklich zu unserem eigenen Nutzen und Frommen," denkt Eleonore dankbar. Auch sonst bekommt sie die wohlwollende, obgleich indirekte Unterstützung ihres Mannes zu spüren.