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Fremde im Dorf: Roman über das Landleben der 50er Jahre
Fremde im Dorf: Roman über das Landleben der 50er Jahre
Fremde im Dorf: Roman über das Landleben der 50er Jahre
eBook398 Seiten5 Stunden

Fremde im Dorf: Roman über das Landleben der 50er Jahre

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Über dieses E-Book

1958: Lene ist gerade 15 Jahre alt, in ihrer Familie und im Heimatdorf herrscht die für die Zeit übliche Strenge. Die Großmutter regiert nicht nur den Hof, sondern auch Lenes Leben mit eiserner Hand. Doch plötzlich ist nichts mehr wie es war: Die ersten italienischen Gastarbeiter erscheinen im Ort. Während Lene nach Veränderung und neuen Eindrücken lechzt, werden die Fremden von der Dorfgemeinschaft beargwöhnt und verleumdet. Dann geschieht etwas Ungeheuerliches und Lene muss eine folgenschwere Entscheidung treffen…
SpracheDeutsch
HerausgeberLV Buch
Erscheinungsdatum1. Sept. 2013
ISBN9783784390307
Fremde im Dorf: Roman über das Landleben der 50er Jahre

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    Buchvorschau

    Fremde im Dorf - Maria Uleer

    Impressum

    1

    Die letzten Gäste verabschiedeten sich.

    „Wenn ihr Hilfe braucht, sagt Bescheid; ich komme sofort, oder ich schicke euch Emma." Mit diesen Worten klemmte sich Tante Johanna ihren kleinen schwarzen Hut mit dem Gummiband unter dem Haarknoten fest, vergewisserte sich, ob Gebetbuch und Portemonnaie in der Handtasche waren, und verließ mit ihrem Mann das Haus.

    Kalte Luft zog von draußen in die Küche. Lene schloss schnell die Tür und schob dann ein Stück Holz in den Herd, damit die Glut nicht erlosch. Müde ließ sie sich auf die Küchenbank fallen. Auf dem Tisch standen leere Kuchenbleche; im Steinwaschbecken türmte sich das Kaffeegeschirr, das die beiden Schwestern in die Küche getragen hatten, als die ersten Gäste aufbrachen. Als Lene einen Stuhl zur Seite schob, um ihre Beine ausstrecken zu können, entdeckte sie auf dem Boden einen Totenzettel, der einem Besucher aus der Manteltasche oder dem Gebetbuch gefallen sein musste.

    Zur Erinnerung an

    Katharina Bünting, geb. Drews

    geb. am 1o. November 1915 – gest. am 16. Januar 1958

    Nach kurzer, schwerer Krankheit nahm Gott sie viel zu früh zu sich.

    Herr, Dein Wille geschehe!

    Lene und Martha hatten sich gegen den letzten Satz gesträubt, aber der Vater und die Großmutter hatten darauf bestanden. Auch wenn die Mutter sich klaglos in ihr Schicksal gefügt hatte und schließlich still gestorben war, wollten die beiden Mädchen diesem ungerechten Gott nicht auch noch beipflichten, der willkürlich über Leben und Tod zu bestimmen schien.

    Aus dem Wohnzimmer drang das Klirren von Gläsern. Lene stand auf, nahm mit dem Feuerhaken zwei Ringe aus der blank geschmirgelten Herdplatte und setzte einen zweiten Kessel Wasser auf. Als Martha mit einem Tablett voller Schnaps- und Biergläser in der Tür erschien, rief Lene: „Bring mir bloß nicht noch mehr. Wir müssen erst mal hier Platz schaffen."

    Sie schüttete das heiße Wasser ins Spülbecken, mischte es mit kaltem Wasser, bis es die richtige Temperatur erreicht hatte, und begann, achtlos die Kaffeetassen abzuwaschen.

    „Sei vorsichtig, entfuhr es Martha erschrocken, „die mit dem Goldrand gehören doch Ida. Traust du dich vielleicht, ihr eine angestoßene Tasse zurückzubringen?

    „Ida, fuhr Lene auf, „die hat überhaupt keinen Grund, sich aufzuregen. Haben wir etwa alle Teller nach der Hochzeit ihres geliebten Ulrich zurückbekommen? Löffel haben auch gefehlt, aber niemand hat sich bei ihr beschwert. Gott sei Dank ist sie schon nach Hause gegangen, sonst würde sie hier immer noch herummeckern! Trotzdem stellte Lene das Geschirr jetzt vorsichtiger ab.

    Unter den Mädchen gab es eine feste Aufgabenverteilung: Lene spülte, Martha trocknete ab. Lene räumte das Geschirr ein, Martha schmirgelte den Herd. Letzteres allerdings erst, seitdem die Mutter krank geworden war. Undenkbar, dass die beiden Brüder beim Abwasch halfen, denn Mädchen gehörten in die Küche und Jungen auf den Hof. So einfach war das.

    Der Vater hatte seinen Platz im Wohnzimmer seit dem Mittagessen nicht verlassen. Auf dem Sofa hinter dem zu hohen Tisch zwischen den beiden Großtanten nahm man ihn kaum wahr. Die hatten sich Sofakissen unter den Hintern geschoben, um besser an die Schüsseln zu gelangen.

    Das Esszimmer war für die große Verwandtschaft zu klein. Außerdem konnte es nicht geheizt werden. Deshalb hatten die Älteren im Wohnzimmer Platz genommen. Das wiederum hatte dazu geführt, dass Tante Hilde, der man mit ihren 40 Jahren niedrige Temperaturen im Zimmer glaubte, zumuten zu dürfen, aus Protest während des Essens ihren Mantel nicht ausgezogen hatte. „Ich habe wegen einer Blasenentzündung eine Woche im Bett gelegen und will nicht schon wieder krank werden", rief sie angriffslustig in die schwarz gekleidete Runde.

    Die Gäste sahen verlegen auf ihre Teller, denn über solche Krankheiten sprach man nicht im Beisein von Männern, schon gar nicht vor dem Essen, wenn die Ergriffenheit, die eine Beerdigung mit sich brachte, noch nicht durch ein Gläschen Schnaps gelockert war. Aber Tante Hilde war ohnehin das schwarze Schaf der Familie. Und da ihr loses Mundwerk bekannt und gefürchtet war, zog man es am Tisch vor, sich auf die soeben servierte Suppe zu konzentrieren. Nur Paul Lübbers, Vaters Cousin, der Hilde gegenübersaß, fragte laut, ob sie nicht vorsichtshalber noch ihre Handschuhe anziehen wolle. Und mit der Suppe solle sie aufpassen; die sei auch ziemlich kalt, wie er gerade festgestellt hätte.

    Erschrecken, aber auch erwartungsvolle Neugier zeichnete sich in den Mienen der Anwesenden ab. Alle warteten gespannt auf eine Reaktion, nicht von Tante Hilde, sondern von Ida Göstemeyer, die mit der Suppenschüssel hinter Paul Lübbers stand. Als Nachbarin gehörte es zu Idas Aufgaben, auf Familienfeierlichkeiten beim Kochen und Servieren zu helfen, eine Verpflichtung, der sie nur zu gern nachkam, da sich dabei ihr Fundus an Klatsch und Tratsch zumindest verdoppelte. Nun aber fühlte sie sich in ihrer Ehre angegriffen, stellte die Schüssel vor Paul auf den Tisch, stemmte angriffslustig die Hände in die ausladenden Hüften und zischte erbost: „In diesem Hause ist es gar nicht möglich, eine Suppe warm zu halten. In der Küche kann man sich ja kaum drehen. Und der Herd ist ein Vorkriegsmodell. Ich weiß nicht, wie Kathrina es bei diesem Zustand hier aushalten konnte. Hoffentlich geht es ihr da oben besser."

    Betretene Stille trat ein.

    „Falsche Schlange, dachte Lene, ihr schossen die Tränen in die Augen. Aber sie hatte bisher nicht geweint und würde es auch jetzt nicht tun. Schon gar nicht wegen einer Bemerkung von Ida. Dieser Tag musste durchgestanden werden. Nach dem Kaffee würden die Gäste gehen; dann war es endlich vorbei. Lene stand irgendwie neben sich; so als sei sie es gar nicht selbst, die da servierte und sogar ein Lächeln zustande brachte, als die beiden Großonkel aus Rheine nach dem dritten Korn anfingen, Anekdoten zu erzählen. Was gingen sie diese Personen an, die da schwarz aufgereiht wie die Krähen nebeneinandersaßen und den Anlass ihres Kommens schon vergessen hatten? Dabei war Tante Johannas Angebot, Emma zu schicken, wenn Hilfe nötig sein sollte, sicher aufrichtig gewesen. Johanna war in den letzten Wochen regelmäßig mit dem Fahrrad vorbeigekommen, um nach dem Rechten zu sehen. Jedes Mal hatte sie ein Glas Marmelade, eingelegten Kürbis oder Reste vom Sonntagskuchen mitgebracht. „Damit du wieder zu Kräften kommst, Katharina, hatte sie gesagt. Die Mutter hatte sich leise bedankt, aber zum Schluss kaum noch den Kopf heben können. Je schwächer sie wurde, desto mehr Essbares holte Tante Johanna aus ihrer dunkelbraunen Einkaufstasche. Fast trotzig legte sie die gesunden, liebevoll zubereiteten Naschereien auf den Nachttisch, flößte der Mutter eine lauwarme Brühe ein, obwohl sie wusste, dass sie damit den Lauf der Dinge nicht ändern konnte. Die Mutter wurde stiller und stiller, rang um Atem, bis sie schließlich das Bewusstsein verlor und starb.

    Der Krebs, viel zu spät erkannt, war von Familie, Verwandtschaft und Nachbarschaft als unheimlicher Feind betrachtet worden, von dem man am besten nicht sprach, und wenn, dann nur hinter vorgehaltener Hand. Niemand hatte genaue Kenntnis über den Verlauf der Krankheit, aber alle wussten, dass nur ein Wunder Heilung bringen konnte. Ida Göstemeyer allerdings verstieg sich zu der Behauptung, dass gerade diese Krankheit häufig eine Strafe Gottes für begangenes Unrecht sei, für eine bekannte oder verheimlichte Sünde. „Womit ich aber nicht im Geringsten sagen will, dass das bei Katharina der Fall sein könnte."

    Lene und Martha begannen damit, die Stühle aus dem Wohnzimmer in den Flur zu stellen, damit die Brüder sie abends zur Nachbarin zurücktragen konnten. Bei der entstehenden Unruhe stand der Vater auf, legte noch zwei Briketts in den Ofen und verließ wortlos das Zimmer. Er zog das rechte Bein stärker nach als sonst. Sein schwarzer Anzug, der vor Ulrich Göstemeyers Hochzeit noch am Hosenbund hatte ausgelassen werden müssen, war ihm jetzt viel zu weit. Richtig verloren wirkte er darin. Noch dazu hatte ihm Kurtchen die Haare an den Seiten zu kurz geschnitten, so dass sein schmales Gesicht fast in den Schulterpolstern des Anzugs verschwand.

    Als der Vater kurz darauf in alter Manchesterhose und dunkelblauem Kittel zurückkam, schaute er Martha nur kurz an: „Du weißt, dass gleich die Kühe gemolken werden müssen; Hermann hilft dir dabei. Und du, Lene, kümmerst dich um Oma." Dann ging er in seinen groben Wollsocken vor die Küchentür, um die Holzschuhe anzuziehen.

    Beim Anblick des Vaters in seiner gewohnten Arbeitskleidung dachte Lene: „Gott sei Dank, es ist vorbei", und ging zum Schlafzimmer der Großmutter, das diese den ganzen Tag nicht verlassen hatte. Ohne anzuklopfen, trat sie ein. Da die Großmutter strikt verboten hatte, das Fenster zu öffnen, solange sie im Zimmer war, strömte Lene wie immer ein leicht modriger Geruch entgegen.

    „Ihr habt mich aber lange warten lassen, tönte es mürrisch aus einem Berg dicker Federkissen. „Hilf mir sofort aus dem Bett, und setz mich auf meinen Stuhl.

    „Ja, Oma." Lene nahm den Deckel aus dem Sitz des Holzlehnstuhls, der extra für die Großmutter vom Schreiner angefertigt und mit Rollen versehen worden war, zog den Nachttopf unter dem Bett hervor und schob ihn in den Stuhl. Dann deckte sie das klamme Oberbett auf und schaute mit Widerwillen auf die unförmige Gestalt der Großmutter. Sie wusste, wenn sie zufasste, würden ihre Hände keinen Halt finden in diesem massigen Körper. Schon streckten sich ihr zwei Arme entgegen, und Lene beugte sich vor, um die Großmutter von der Bettkante auf den Stuhl zu setzen und gleichzeitig das Leinennachthemd hochzuziehen.

    „Wenn sie wollte, könnte sie das auch allein, dachte Lene, „aber sie will einfach nicht.

    Als die Großmutter merkte, dass die Enkelin sich abwandte, so als könne sie den Anblick der nackten Oberschenkel nicht ertragen, knurrte sie: „Bis ich fertig bin, kannst du mir einen neuen Backstein aus dem Ofen holen. Der alte ist ganz kalt. Ich hole mir hier noch den Tod."

    „So schnell stirbst du nicht, Oma."

    „Das geht schneller, als du denkst, das hast du ja bei deiner Mutter gesehen."

    Darüber wollte Lene am allerwenigsten mit der Großmutter reden. Deshalb zog sie es vor, den kalten braunen Stein in der Küche mit einem anderen, gut durchwärmten auszutauschen. Vorsichtig umwickelte sie ihn mit einem Handtuch und schob ihn wortlos unter das schwere Federbett. Als sie die Kissen aufschüttelte, murmelte die Großmutter leise, aber verständlich: „Du hast von allen am meisten Ähnlichkeit mit deiner Mutter."

    „Was für ein dummes Zeug sie redet", dachte Lene. Jeder sah doch, dass sie mit ihren dunklen Haaren und dunklen Augen mehr dem Vater als der Mutter ähnelte. Und dass sie eher schweigsam als gesprächig war, hatte sie auch mit dem Vater gemeinsam. Also was wollte die Großmutter? Wahrscheinlich mochte sie die Enkelin ebenso wenig, wie sie ihre Schwiegertochter gemocht hatte.

    „Nimm endlich den Nachttopf unter meinem Stuhl weg, und hilf mir wieder ins Bett; ich hole mir ja den Tod bei dieser Kälte."

    „Das hast du eben schon mal gesagt, wollte Lene entgegnen, schwieg aber und dachte: „Ich könnte sie einfach eine Stunde in ihrem hochgezogenen Nachthemd mit ihrem wabbeligen weißen Fleisch auf dem Toilettenstuhl sitzen lassen; vielleicht behielte sie dann recht mit ihrer ewigen Drohung, bald zu sterben. Sie half der Großmutter auf die Füße, zog das steife, zerknitterte Leinennachthemd wieder nach unten und setzte sie auf die Bettkante. In diesem Augenblick klopfte es an die Tür. Lene und die Großmutter sahen sich erstaunt an, denn im Hause Bünting betrat man ein Zimmer, ohne anzuklopfen.

    „Entschuldigung. Richard sagte, ich finde dich hier. Ich dachte, du willst vielleicht etwas an die frische Luft, bevor es dunkel ist", rief eine helle sorglose Stimme. Im Türrahmen stand ein schlankes Mädchen in grasgrünem Mantel, das sich mit der hochtoupierten Frisur, an einer Seite die Haare kühn hinter das Ohr gesteckt, in diese bäuerliche Umgebung verirrt zu haben schien. Zita. Was wollte sie um Himmels willen an diesem unpassenden Tag hier? Noch dazu im Zimmer der Großmutter. Zita trat nervös von einem Fuß auf den anderen, als hätte sie keinerlei Zeit zu vergeuden.

    Die Großmutter blickte mit hochgezogenen Brauen in ihre Richtung, doch bevor sie ihren Unmut äußern konnte, sagte Lene schnell: „Ich bin gleich so weit. Ich mache nur noch Oma für die Nacht fertig, dann komme ich."

    Damit hatte sie ihrer Freundin eigentlich andeuten wollen, im Flur zu warten, aber Zita war schon auf die Großmutter zugegangen, streckte ihr die Hand entgegen und drückte ihr mit freundlicher, aber nicht übertrieben mitfühlender Stimme ihr Beileid zum Tod von Lenes Mutter aus. Die Großmutter schien Zitas Worte nicht zu hören, sondern beargwöhnte stattdessen die ausgestreckte Hand mit den lackierten Fingernägeln, für sie Werkzeuge des Bösen, vor denen man sich in Acht nehmen musste.

    Lene legte so unauffällig wie möglich den Deckel auf den Toilettenstuhl. In Zitas Gegenwart kam ihr die Großmutter noch unförmiger, der Schlafzimmergeruch noch muffiger und die Einrichtung mit den alten Ehebetten, dem riesigen Eichenschrank und der gesprungenen Waschschüssel noch schäbiger vor. Sie war in Versuchung, das abgetretene Schaffell unauffällig unter das Bett zu schieben, ließ es dann aber doch liegen.

    „Georg und Ludger warten draußen auf der Straße, zischte Zita ihr ins Ohr. Lene nickte leicht: „Ich bin gleich fertig.

    „Du willst doch nicht am Tag der Beerdigung deiner Mutter aus dem Haus, empörte sich die Großmutter, die außer dem Wort „Straße nichts verstanden hatte, aber sehr wohl spürte, dass hier etwas besprochen wurde, das sie besser verhindern sollte. „Außerdem warte ich noch auf meinen Kamillentee."

    „Den bekommst du schon", antwortete Lene, ohne auf die erste Bemerkung einzugehen.

    Im Flur band sie schnell die Schürze ab, bedeutete Zita mit einer Handbewegung, still zu sein, warf sich den von Tante Johanna geliehenen schwarzen Mantel über und zog die Haustür so leise wie möglich hinter sich zu. Draußen sog sie die klare, kalte Luft ein und knöpfte erst dann langsam den Mantel zu.

    Warum ging sie einfach mit, wenn Zita sie darum bat? Sie hatte nicht eine Sekunde lang überlegt, sondern war ihr wie selbstverständlich gefolgt. Nicht einmal den Nachttopf hatte sie geleert, weil sie sich zu sehr vor Zita genierte. Im Grunde hatte die Großmutter recht. Es war der Beerdigungstag ihrer Mutter, und es war unpassend, sich an diesem Tag mit jungen Männern auf der Straße zu treffen. Andererseits, was ging es die Großmutter an?

    Eigentlich war an Georg und Ludger nichts Besonderes. Ihr einziger Pluspunkt war der, dass sie aus dem Nachbardorf kamen, drei Jahre älter waren als Lene und Zita und im Einerlei des Dorfalltags für etwas Abwechslung sorgten.

    Lene fühlte sich unwohl in ihren schwarzen Strümpfen und dem geliehenen Mantel. „Für die paar Wochen, die es noch kalt ist, lohnt es sich nicht, einen schwarzen Wintermantel zu kaufen", hatte Tante Johanna gemeint und auch gleich noch einen schwarzen Pullover und eine grauschwarz gestreifte Schürze aus der Tasche gezogen.

    Lene zog Zita am Ärmel: „Ich bleibe aber nicht lang."

    „Und warum nicht?"

    „Weil sie mich zu Hause brauchen."

    „So ein Unsinn. Du hast doch schon den ganzen Tag gearbeitet. Jetzt werden sie wohl mal auf dich verzichten können."

    Das Gartentor quietschte – in Lenes Ohren zu laut –, als Zita es öffnete. Es durfte auf gar keinen Fall jetzt auch noch ins Schloss fallen. Im Halbdunkel standen Georg und Ludger lässig an ihre Fahrräder gelehnt, eine Zigarette in der Hand.

    „Na, Lene, wie geht’s?"

    „Danke, und euch?"

    Jetzt bloß nicht über die Beerdigung reden, das ging hier niemanden etwas an. Aber die Gefahr bestand schon nicht mehr, da Zita Georgs karierte James-Dean-Jacke geöffnet hatte und sich jammernd, wie kalt es doch sei, an ihn drückte. Wie selbstverständlich legte Georg einen Arm um sie.

    Lene schaute vorsichtig, ob sie weit genug vom Licht des Wohnzimmerfensters entfernt standen. Die Großmutter würde vielleicht nach ihrem Kamillentee rufen, würde Martha oder Richard erzählen, Lene sei mit dieser Zita weggegangen, diesem unmöglichen Mädchen mit Männerhosen und Zigeunerohrringen. Das war doch kein Umgang für Lene. Und dass Zita sich überhaupt traute, am heutigen Tag in diesem Zirkusaufzug daherzukommen. Das Mädchen war einfach dreist.

    Ein Radfahrer fuhr an ihnen vorbei und tauchte ihre Gesichter für kurze Zeit ins Licht. Musste Zita unbedingt hier auf der Straße unter Georgs Jacke kriechen und sich seinen Schal um den Hals wickeln? Es war sinnlos, darüber nachzudenken, denn Zita tat ohnehin nur das, was ihr gerade einfiel.

    „Habt ihr Lust, am Sonntag mit uns ins Theater zu gehen? Die Kolpinggruppe führt bei uns zum letzten Mal „Die drei Junggesellen auf. Alle sagen, es sei zum Totlachen, wie die Männer da zur Hochzeit überlistet werden. Georg schien sich schon beim Gedanken an die Vorstellung zu amüsieren.

    Lene schaute zuerst Georg und dann Ludger an, der bis jetzt nichts gesagt hatte, sondern sich schweigend an seiner Zigarette festhielt. Die beiden mussten doch wissen, dass für das nächste halbe Jahr jegliche öffentliche Unterhaltung für sie tabu war.

    „Ich glaube, du spinnst, hörte sie Zitas Stimme dicht unter Georgs Kopf. „Ich gehe doch nicht in so ein Bauerntheater. Da müsste ich schon selbst eine Hauptrolle spielen wie zum Beispiel die Maria Magdalena Weihnachten bei uns im Saal. Die Rolle hätte mir gefallen.

    „Also warst du doch in einem Bauerntheater."

    „Nur weil ich hier im Dorf alle Mitspieler kenne. Wenn Kurtchen den Eifersüchtigen spielt, dann biegst du dich vor Lachen, auch wenn du eigentlich weinen solltest. Aber Dorftheater woanders, nein danke."

    „War ja nur ein Vorschlag von mir, meinte Georg einlenkend. „Wir können natürlich auch was anderes unternehmen. Kino vielleicht.

    Lene schaute unruhig zum Wohnzimmerfenster. „Besprecht das mit Zita, sagte sie. „Ich muss wieder rein, sonst vermissen sie mich.

    „Tschüss, Lenchen, bis morgen", klang Zitas Stimme fröstelnd, aber nicht sonderlich betrübt aus Georgs Jacke.

    Die Haustür mit den umlaufenden Milchglasscheiben war tagsüber nie verschlossen, so dass jeder unbemerkt ins Haus kommen konnte. Aber kaum jemand benutzte diesen Eingang, denn die meisten Besucher kamen direkt durch die Küchentür am anderen Ende des Hauses, da das Leben sich tagsüber in der Küche abspielte. Lene drückte vorsichtig die Tür auf. Im Flur war es dunkel, bis auf das schwache Öllämpchen unter dem Bild der schmerzensreichen Gottesmutter, deren Antlitz im roten Dämmerlicht noch leidender aussah als tagsüber. Als Lene gerade den Mantel aufhängen wollte, hörte sie die Großmutter stöhnen: „Lene, bist du’s? So hilf mir doch; wo bleibst du denn?"

    Das war nicht der Tonfall, in dem die Großmutter normalerweise nach Aufmerksamkeit verlangte. Lene warf den Mantel über den Garderobenhaken und rannte ins Schlafzimmer, wo sie die Großmutter zusammengekrümmt, soweit ihre Körpermasse dies zuließ, auf dem Schaffell neben dem Bett fand. Das Nachthemd war hochgerutscht und zeigte ihre weißen fleischigen Schenkel. Die kleinen Füße, die wenig zu der Leibesfülle passen wollten, steckten in selbstgestrickten Bettsöckchen, ein Bild, das auf einen Außenstehenden vielleicht amüsant gewirkt hätte, Lene aber daran erinnerte, dass die Großmutter zwar die Autoritätsperson im Haus spielte, selbst aber nicht in der Lage war, die Söckchen anzuziehen.

    War die Großmutter früher vielleicht auch einmal schlank gewesen? Schnell zog Lene das Nachthemd über die nackten Beine.

    „Was ist passiert, Oma?"

    „Das siehst du doch, ich bin hingefallen. Hilf mir lieber hoch, anstatt Fragen zu stellen."

    „Warte, ich hole Martha, zu zweit ist es einfacher."

    Lene fand ihre Schwester im Kuhstall. Die Kühe, in Reih und Glied angekettet, warteten geduldig auf die Ration Futter, die Hermann ihnen gleich geben würde. Martha goss einen Eimer frisch gemolkener Milch in eine der Milchkannen. Wie warm und lebendig es hier roch, ganz anders als im Zimmer der Großmutter.

    „Martha, rief Lene, „Oma hat wohl beschlossen aufzustehen, jetzt, wo die Beerdigung vorbei ist.

    Sofort stellte Martha den Eimer ab und lief mit ihrer Schwester ins Wohnhaus zum Zimmer der Großmutter. Diese hatte es inzwischen geschafft, sich halb aufzurichten und gegen das Bett zu lehnen.

    „Ich hole mir ja den Tod. Wo wart ihr denn die ganze Zeit?" Martha warf einen fragenden Blick auf Lene. Wortlos hoben sie die Großmutter aufs Bett, dessen altersschwache Sprungfedern unter dem Gewicht bis auf das Holzbrett zusammengedrückt wurden. Bald würden Hermann oder der Vater mit anfassen müssen, ob es der Großmutter passte oder nicht.

    „Und was ist mit meinem Kamillentee und Zwieback?"

    Wie hatte es die Mutter geschafft, ohne zu jammern, mit dieser Frau auszukommen? Gedankenverloren deckte Lene den Tisch in der Küche. Hermann und Richard hatten Stühle, Geschirr und die großen Töpfe zu Göstemeyers zurückgebracht, so dass Martha Platz hatte, die Suppe vom Mittag aufzuwärmen. Sie musste sich beeilen, denn pünktlich um sieben würde sich die Familie wie jeden Tag um den Tisch versammeln, der Vater am Tischende, Hermann und Richard auf der Bank an der Wand, die Großmutter am anderen Tischende, die Mädchen – und bis vor kurzem die Mutter – vor dem Tisch, um schneller das Essen vom Herd holen oder das Geschirr abräumen zu können.

    Seit dem Tod der Mutter hatte die Großmutter das Schlafzimmer nicht mehr verlassen, so dass der Vater mit seinen Kindern an dem langen Tisch wie eine unvollständige Gruppe wirkte, die noch auf sich verspätende Personen wartete. Schließlich sprach Martha das Tischgebet: „Aller Augen warten auf dich, oh Herr, dann das „Vaterunser und zum Schluss ein „Gegrüßet seist du, Maria". Schweigend wurde die Mahlzeit eingenommen; man hörte nur das Klappern der Suppenlöffel und das Schieben der Schüssel von einem zum andern auf der Holzplatte. Was hätte man sich sagen sollen? Es gab nichts zu besprechen. Auch wenn der Tod der Mutter jeden Einzelnen am Tisch im Innersten getroffen hatte, Gefühle machte man mit sich selbst ab, man sprach nicht darüber.

    Zwischen Lene und Martha waren Worte ohnehin überflüssig, denn schließlich hatten sie bis auf wenige Ausnahmen jede Nacht im gemeinsamen Schlafzimmer verbracht. Richard hingegen lebte in einer Welt, die den Schwestern nicht zugänglich war. Er lieh sich sonntags nach der Messe einen Stapel Bücher in der Pfarrbibliothek aus und verkroch sich damit in eine ruhige Ecke des Hauses. Die Mutter hatte ihren Jüngsten stets in Schutz genommen, wenn die Großmutter ihn aufforderte, statt zu lesen doch lieber seinen Hintern zu bewegen und den Männern auf dem Hof zu helfen. „Du siehst doch, dass der Junge nicht kräftig genug ist. Was wir brauchen, ist ein Knecht, der Andreas hilft", hatte sie stets erwidert. Schon lange hatte sie ihrem Mann vorgeschlagen, einen Gehilfen auf den Hof zu holen, da er immer stärker sein rechtes Bein nachzog und die Arbeit ihm an manchen Tagen so schwerfiel, dass er sich setzen musste, nur um das schmerzende Knie zu entlasten. Aber der Vater hatte sich hartnäckig mit dem Hinweis geweigert, Hermann, der Älteste, sei ihm Hilfe genug.

    Jetzt unterbrach er plötzlich die Stille beim Essen: „Ich habe heute Nachmittag mit Paul Lübbers gesprochen. Er konnte einen Teil seines Ackers als Bauland zu einem guten Preis verkaufen und hat jetzt einen jungen Mann zu viel auf dem Hof. Und weil Hermann im März nach Warendorf auf die Landwirtschaftsschule geht, arbeitet Pauls Knecht ab dann bei uns." Die Kinder schauten ihren Vater an, als hätten sie ihn nicht recht verstanden. Schon lange hatte er nicht mehr so viel geredet. Und dann diese Neuigkeit an diesem ohnehin außergewöhnlichen Tag.

    Alle am Tisch wussten, dass die Entscheidung feststand und der Vater keine lästigen Fragen erwartete, aber dieser plötzliche Entschluss verlangte doch nach einigen Erklärungen. „Wie alt ist er? „Woher kommt er? „Wo soll er schlafen? „Können wir uns den leisten? Die letzte Frage kam von Martha, die vom Vater während der Krankheit der Mutter das nötige Geld für den Haushalt bekommen hatte. Hermann wollte wissen, wie lange der zukünftige Gehilfe schon bei Paul Lübbers arbeitete, denn er hatte noch nichts von ihm gehört, und in Lütkenstede kannte schließlich jeder jeden.

    „Er heißt Helmut, kommt aus Schapen, ist neunzehn Jahre alt und arbeitet erst seit kurzem bei Paul. Vorher hat er in einem Reitstall in Fürstenau die Pferde versorgt", antwortete der Vater in einem Ton, der klarmachte, dass damit alles Wichtige gesagt war.

    „Hoffentlich ist er dann hartes Arbeiten gewöhnt", zweifelte Hermann, denn einen Pferdenarr konnten sie nicht gebrauchen. Auf dem Hof gab es nur zwei Ackerpferde, und ein Reitpferd war Luxus für die Büntings.

    „Paul war zufrieden mit ihm", beruhigte ihn der Vater. Aber Hermann schien nicht ganz überzeugt zu sein. Dass der nur so kurz bei Lübbers gearbeitet hatte und Paul ihn schon wieder loswerden wollte, sprach nicht unbedingt für ihn. Es konnte natürlich auch an Paul liegen, denn der war nicht gerade als umgänglicher Arbeitgeber bekannt.

    „Und wo soll er schlafen?", fragte Martha. Dieses Problem schien für den Vater zweitrangig zu sein. Nach dem Krieg war das Haus viel voller gewesen, Vaters Bruder Ludwig, seine Schwester Helene, die Großeltern, dann noch Onkel Gustav, der Bruder des Großvaters und Frau Nietsche, die Flüchtlingsfrau aus Schlesien. Alle hatten sie Platz gefunden, die Kinder schliefen jeweils zu zweit in einem Bett, verteilt auf die Zimmer der Erwachsenen. Ludwigs Zimmer gehörte nach dessen Heirat endlich Hermann und Richard allein, Martha und Lene teilten sich Tante Helenes Zimmer. So blieb für den neuen Gehilfen nur das von Onkel Gustav auf dem Dachboden. Nach dessen Tod hatte Richard sein Bett bekommen, und das wollte er unter keinen Umständen wieder hergeben.

    „Dann müssen wir eben Opas Bett aus Omas Zimmer holen."

    Erschrocken sahen die Mädchen ihren Vater an. Das würde die Großmutter nie erlauben.

    „Nächste Woche baut ihr das Bett oben auf und richtet das Zimmer her." Der Vater legte die Gabel auf den Teller und versank wieder in sein abwesendes Schweigen.

    Als Lene endlich der Großmutter ihren Zwieback und den täglichen Kamillentee brachte, ritt sie plötzlich der Teufel: „Oma, im März bekommen wir einen Gehilfen."

    „Was sagst du da?"

    „Dass Papa endlich Hilfe auf dem Hof bekommt."

    „Wer hat das beschlossen? Hat deine Mutter sich noch nach ihrem Tode durchgesetzt? Wer ist es denn?"

    Lene erzählte, was sie wusste.

    „Und das jetzt, wo ihr Mädchen allein im Haus seid und ich das Zimmer bald nicht mehr verlassen kann. Darüber hat sich dein Vater wohl keine Gedanken gemacht. Und gerade heute, am Beerdigungstag deiner Mutter, kommt ihm die Idee, einen fremden Mann ins Haus zu holen. Das soll einer verstehen. Wo soll der denn schlafen?"

    „Auf dem Dachboden."

    „Da steht doch kein Bett mehr."

    „Wir nehmen Opas Bett, hat Papa gesagt."

    Lene nahm schnell das Herz-Jesu-Bild von der Wand und rieb den Fliegendreck, der sich auf dem flammenden Herz festgesetzt hatte, mit Spucke und Taschentuch weg.

    „Das war Kathrinas Idee, brauste die Großmutter auf, „sag deinem Vater, das Bett bleibt hier.

    Lene zog es vor, nichts darauf zu erwidern, sondern fragte stattdessen: „Willst du morgen früh aufstehen, oder bleibst du weiter im Bett?" Aufstehen bedeutete, den Wecker eine halbe Stunde früher stellen, die Großmutter waschen, anziehen, sie auf den schweren Stuhl mit Rädern setzen und in die Küche schieben, wo sie dann bis zum Mittagsschlaf sitzen blieb. Hoffentlich wollte sie im Bett bleiben.

    „Aufstehen. Einer muss ja die Übersicht im Haus behalten."

    2

    Lene und Richard verließen morgens gemeinsam das Haus, um zur Bushaltestelle zu gehen. Für Hermann und Martha, die beiden Ältesten, hatte es nicht zur Diskussion gestanden, dass sie eine weiterführende Schule besuchten. Ihre Hilfe wurde zu Hause gebraucht, aber bei Lene und Richard hatte die Mutter durchgesetzt, dass sie auf die Mittelschule gingen, auch wenn die Großmutter das für verschwendete Zeit hielt, waren doch bisher alle Büntings mit einem Volksschulabschluss zufrieden gewesen.

    An der schwach erleuchteten Haltestelle stach von weitem ein farbiger Punkt unter den winterlich vermummten Gestalten ins Auge. Das konnte nur Zita mit ihrem roten Schultertuch sein. Als einziges Mädchen im Dorf besaß sie enge Nietenhosen, die sie heute zum ersten Mal in die Schule ausführte. Zita war sich sehr wohl darüber im Klaren, dass sie am katholischen Mädchengymnasium nicht geduldet waren, aber sie musste es einfach ausprobieren.

    „Lenette, gut, dass du endlich da bist. Für Sonntag habe ich mit den beiden verabredet, dass wir ins Rex fahren. Zita legte ihren Arm um Lene. „Weißt du, Lenchen, ich muss endlich Sophia Loren sehen. Lene entzog sich erschreckt der Umarmung. Taschengeld wurde zu Hause als überflüssig angesehen, und nicht nur der Film, auch der Bus in die Stadt müsste bezahlt werden, denn die Wochenkarte für die Schule galt nur werktags. Dazu kam, dass niemand im Haus von diesem Ausflug erfahren durfte, da es unmöglich war, eine Woche nach dem Tod der Mutter ins Kino zu gehen. Andererseits gab es im Dorf nur einmal im Monat einen Filmabend im Saal der Gaststätte Bülter. Hier zeigte die Pfarrgemeinde für 50 Pfennig „Das Lied der Bernadette oder „Das Wunder von Fatima –, dagegen hatten natürlich weder die Eltern noch die Großmutter etwas einzuwenden.

    „Ich weiß nicht, ob ich mitkommen kann."

    „Wieso denn nicht? Mit Georg und Ludger allein macht es mir keinen Spaß."

    Lene wollte ihre Gründe nicht nennen. Bei Doktor Weyers bekam sie drei Mark, wenn sie die Kinder beaufsichtigte, und hin und wieder brachte sie Ida Göstemeyers Strümpfe nach der Schule zum Laufmaschenaufnehmen. Doch das wurde nur unregelmäßig entlohnt. Es fehlte einfach eine zuverlässige Einnahmequelle. Dankbar sah Lene dem Bus entgegen, der in diesem Augenblick über die Brücke gerattert kam und ihr die Antwort auf Zitas Frage ersparte.

    Fräulein Pieper, die Klassenlehrerin, streckte die Hand aus und sprach Lene nochmals ihr Beileid aus, obwohl sie schon eine Kondolenzkarte an die Familie geschickt hatte. Sie redete von einem Schicksalsschlag und dass man nicht den Mut verlieren dürfe. Gott sei Dank legte sie nicht tröstend den Arm um Lene, sondern begnügte sich mit einem anteilnehmenden Tonfall.

    Als der Unterricht endlich begann, schlug Lene erlöst ihr Buch auf. Sie hatte lange überlegt, was sie anziehen sollte. Ganz in schwarz wollte sie auf keinen Fall in der Klasse erscheinen, obwohl es für die Großmutter eine Selbstverständlichkeit war, dass die Kinder mindestens ein halbes Jahr lang Trauerkleidung trugen. Mindestens. Also war Lene morgens zuerst im Schwarz des Vortags in der Küche erschienen, um sich im letzten Moment den dunkelblauen Pullover und einen dunkel karierten Faltenrock anzuziehen. Ein Sakrileg, wie sie sehr wohl wusste. Widerwillig hatte sie Tante Johannas Mantel übergeworfen, gegen den es keinen Sinn hatte zu rebellieren, denn auch die Dorfbewohner würden sie genau be-obachten und jedes Abweichen von den ungeschriebenen Gesetzen nicht nur untereinander kommentieren, sondern den Vater oder Martha bei nächster Gelegenheit fragen, ob sie sich keine Trauerkleidung leisten könnten.

    „Was haben sie zu deiner Hose gesagt?", war Lenes erste Frage, als Zita sich mittags auf den für sie frei gehaltenen Platz in der letzten Reihe

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