Nimm die Nacht
Von Helmut Lauschke
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Über dieses E-Book
Abend: Wenn das Licht auf dem Rückzug zum Horizont sich verstreift, dann trägt die Verdämmerung die Frage nach dem Wert des gewesenen Tages für das Sein mit den unerfüllten Hoffnungen und verfehlten Vermutungen mit sich, ob eine Besserung mit Hebung der Lebensqualität überhaupt erreichbar ist, oder ob das Leben in der bloßen Anreihung der Tage und Jahre verharrt. Es brennt das Feuer, es brennen Städte und Dörfer, es brennen Männer und Frauen und Kinder. Was soll der Vernichtungswahn, wenn es mit dem Leben von Geburt an nicht stimmt. Es scheint, als wäre der Frieden der größte Feind der Menschheit, dem mit großer Entsagung und immer größeren Opfern zu widerstehen ist, egal was es koste.
Oft wird das Kind mit anderen Kindern liegenbleiben, denn Kinder haben es anderen Kindern vorgemacht, wie es mit und um den Hunger steht. Du wirst es sehen und an die Kinder denken, bei denen es der leere Magen war, dass sie es mit dem Leben nicht schafften. Weich streicht der Bogen über die Geige mit dem schrägen Riss, es zucken die Münder in entlegene Winkel, die es vorher nicht gab. Rau schlägt der Schnee ins Braun der Augen, wenn Sand an der Träne vor dem anderen Auge klebt, die sich mit anderen Tränen vor dem Tränenpunkt staut.
Es ist nicht nur das Auge, das dem Licht entgegenblickt. Auch der Mund zuckt ihm entgegen, dass sich die Morgensänfte auf die Lippen legt, sie wärmt, der frühe Strahl sie glättet, die Zunge das Neue schmecken lässt, und sich Frieden an die Gaumen heftet. Täler füllen sich mit dem Licht der neuen Hoffnung, neuer Freude.
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Buchvorschau
Nimm die Nacht - Helmut Lauschke
Abschied von der Heimat
Die Domglocke schlug drei Uhr morgens, als es an der Tür klopfte. Ein Mann überreichte einen zusammengefalteten Zettel und sagte, dass Ludwig und Martha Lorch auf der Flucht seien und am Tage zuvor Breslau passiert hätten. Der Mann hatte es eilig und lehnte die angebotene Tasse Tee dankend ab. Beim Verlassen der Haustür drehte er sich noch einmal um: Wir werden uns wohl nicht wiedersehen. Ich wünsche Ihnen für ihre Flucht alles Gute. Mögen Sie den Weg in die Zukunft, die wir nicht kennen, aber fürchten, heil überstehen.
Der Mann hatte den Eingang bereits verlassen, als ihm Eckhard Hieronymus seine besten Wünsche hinterher rief. Er hatte die Tür noch nicht geschlossen, als Luise Agnes die Sorge um ihre Mutter, die versteckte Jüdin, äußerte. Sie sagte: Hoffentlich ist sie mit auf dem Wagen und hält den weiten Weg gesundheitlich durch.
Jeder war mit dem Packen der Sachen beschäftigt. Die Nerven waren aufs Äußerste gespannt. Mutter Dorfbrunner und der kriegsversehrte Bruder Friedrich Joachim haben mit Freunden vor einer Woche Breslau verlassen. Deren letzte Nachricht war, dass sie nach Dresden wollten, um bei Onkel Alfred, dem Bruder der Mutter, in der Münchner Straße Unterkunft zu finden. Mit Eduard Hartmann, dem Vater von Luise Agnes und Pfarrer im Ruhestand, dessen Ehefrau eben die Jüdin mit dem gefälschten Totenschein war, die nach dem langjährigen Versteck auf dem entlegenen Bauernhof nun hoffentlich auf dem Fluchtwagen der Bauersleute Lorch sitzt, um nach Zerschlagung der braunen Diktatur noch einmal die Freiheit zu erleben, hatte es das Schicksal gut gemeint, dass es ihm vor drei Wochen den Atem weggenommen hatte. Ihm wurde noch eine Notbeerdigung auf dem Hauptfriedhof in seiner Heimatstadt zuteil, bevor die Russen die Stadtmauer erreichten. Wenn er sich auch aus Sicherheitsgründen nicht persönlich von seiner Frau verabschieden, seine Frau ihm nicht den letzten Kuss geben, ihm für die Himmelfahrt die Hände falten und die Augen schließen konnte, so blieb dem Verstorbenen doch, und das war ein nicht hoch genug zu schätzendes Geschenk des Himmels, die Flucht in den Westen und das Fürchten vor der Zukunft mit dem Bumerang erspart.
Kolonnen beladener Wehmachtfahrzeuge, die von Kübelwagen und Krädern mit Beiwagen begleitet wurden, kamen verdreckt und zerbeult aus dem Osten in die Stadt. Hitlerjungen mit Kindergesichtern wurden eingezogen und leisteten vor der gehissten Fahne mit den gekreuzten Haken auf dem Bahnhofsplatz den Fahneneid auf den ‘Führer’. Auch sie sollten für’s Vaterland noch kämpfen, den ‘bolschewistischen Barbaren’ in die Köpfe oder sonstwohin schießen, mit Panzerfäusten die anrollenden T34-Panzer in die Luft jagen oder sonstwie knacken und jeden Quadratmeter Heimatboden gegen den roten Ansturm bis zum letzten Fuß und Atemzug verteidigen. Nach dem Fahneneid, der von einem jungen Major der Luftwaffe mit umgehängtem Ritterkreuz abgenommen wurde, bestiegen die im Schnellverfahren Eingezogenen, die meist Schuljungen waren, die offene Ladefläche des Militärfahrzeugs und ließen sich zur Kaserne fahren, die außerhalb der Stadt lag. Die Jungen winkten mit verzweifeltem Lächeln den Eltern, Geschwistern und Freunden zu, die auf dem Bahnhofsplatz standen und zurückgeblieben waren. Diese winkten verzweifelt zurück mit Taschentüchern in den Händen und vor verweinten Augen blasser Gesichter, die bei den älteren Frauen von tiefen Sorgenfurchen durchzogen waren. Andere winkten mit bloßen Händen und ließen die Tränen von ihren Gesichtern tropfen, ohne von den Tränen Notiz zu nehmen. Sie alle wussten, dass sie die Jungen lebend nicht wiedersehen würden. So blieben Eltern und Verwandte auf dem Bahnhofsplatz solange stehen, bis das Militärfahrzeug mit den aufgeladenen Jungen weit weg in einer Linkskurve verschwand. Erst dann gingen sie mit der traurigen Gewissheit in ihre Häuser zurück. Andere Lastwagen fuhren mit bewaffneten SA-Männern über den Platz und durch die Straßen; und wieder andere hatten ausgemergelte, glatzköpfige Menschen in gestreiften Jacken und Hosen geladen, die von SS-Männern unter schwarzen Stahlhelmen mit schulterbehängten Karabinern begleitet wurden. Die Aushebung der Schützengräben quer über den Bahnhofsplatz war seit Mitternacht vorangekommen. Aus der Geschwindigkeit, wie aus der friedlichen Perle einer stolzen Stadt eine hässlich-gespenstige Festung ("zur letzten Verteidigung des Vaterlandes!") gemacht wurde, in der die großen Epochen zivilisierter Kulturen vernagelt, verbarrikadiert und sonstwie verschandelt wurden, war abzulesen, dass mit dem Eintreffen der russischen Panzerspitze täglich gerechnet werden musste. Da die Züge erst mit Einbruch der Dunkelheit fuhren, um im Schutz der Nacht vor russischen Tieffliegern verschont zu bleiben, hatte die Familie Dorfbrunner noch wenige Stunden, um sich von Freunden und guten Bekannten zu verabschieden, sofern sie nicht mit den Nachtzügen vorangegangener Tage Breslau bereits verlassen hatten.
Das ist nun das Ende. Dann werden auch bald die Nazimäuler schweigen. Sie werden irgendwo untertauchen und die Verantwortung für das klägliche Ende mit der großen Katastrophe auf die Menschen abwälzen, die nicht ganz schuldlos sind, weil sie dem Teufel zur Macht verholfen und zu dem Teufelswerk geschwiegen oder noch mitgemacht haben, anstatt dagegen zu protestieren
, sagte Pfarrer Kannengießer. Er sagte weiter, dass es für ihn unfassbar sei, wie die braunen Horden mit dem Volk umgegangen seien, dass es so gequält und geschunden wurde. Die Arroganz kommt vor den Fall, aber nicht die unzählbaren Toten zum Leben zurück. Was neben dem Krieg an Menschen geschändet und getötet wurde, das werde in die deutsche Geschichte eingehen, woran noch viele Generationen zu tragen haben werden, wenn von den Schlachten an den Fronten längst nicht mehr gesprochen wird. Was in den Konzentrationslagern geschehen ist, das bleibt vor der Welt unentschuldbar. Allein dafür werde dem armen deutschen Volk das Zeichen der barbarischen Verbrechen auf die Stirn gebrannt, das da nicht mehr wegzukriegen ist. Wir können dankbar sein, dass das braune Terrorsystem zu Ende geht
, sagte Pfarrer Kannengießer und weiter: Was das Rätsel mit den sieben Siegeln bleibe, ist die bittere Tatsache, dass das deutsche Volk diesen Teufelsmann in den Sattel gehoben und das braune Terrorsystem bis zu diesem schmerzlich traurigen Ende geduldet und ertragen hat.
Eckhard Hieronymus schwieg mit dem Gesicht der Verzweiflung. Hätten wir in der Kirche mehr machen sollen, um es zu verhindern?
, fragte er. Pfarrer Kannengießer: Mehr machen sollen? Sicher! Mehr machen können? Vielleicht. Das hing von jedem Einzelnen von uns ab, wie weit wir bereit und fähig waren, uns für die unterdrückten und gequälten Menschen und gegen die braune Barbarei im Allgemeinen einzusetzen. Machen wir uns nichts vor: Die Kirche hat kläglich versagt, wenn es um die Erfüllung des Auftrags ging, sich für die armen, wehrlosen und verfolgten Menschen einzusetzen. Wir als Kirchenmänner haben uns selbst zu ängstlichen Zuschauern degradiert, anstatt wie ein Paulus aufzustehen und die Verbrechen gegen die Menschheit laut und deutlich anzuprangern. Diese Zurückhaltung war ein Fehler, der dem Schweigen gleichkommt. Das werden wir vor Gott zu rechtfertigen haben. Dazu sollten wir uns jetzt schon unsere Gedanken machen und auch darüber Gedanken machen, wie wir unser klägliches Versagen vor der nächsten Generation erklären wollen, falls wir das Terrorsystem überleben sollten. Denn so dumm ist der menschliche Verstand nicht, als dass er sich da irgendwas erzählen lassen würde, wie das alles möglich war.
Eckhard Hieronymus schaute betroffen ins Gesicht von Pfarrer Kannengießer, weil er ihn verstanden hatte, dem nicht zu widersprechen war. Dabei dachte er an sein Parteiabzeichen, das er sich nach seinem Verhör bei der Gestapo im Haus der SA in der Kesselstraße 17 auf Anraten des Doppelagenten Rauschenbach anstecken ließ, wenn er es auch, soweit es möglich war, hinter dem Revers trug. Das bedrückte ihn, wenn er es auch für seine Familie zum Schutz seiner halbjüdischen Ehefrau Luise Agnes getan hatte. Doch wer hinter dem Revers etwas zu verstecken hatte, der versteckte gleichzeitig die andere Seite davor. Wie hielt er es mit dem Glauben, wenn dahinter das Parteiabzeichen steckte? Es war diese Frage, die ihm wirr durch den Kopf jagte und ihm heftige Kopfschmerzen machte.
Wie anders, wieviel mutiger war Pfarrer Kannengießer, der einige Male von der Gestapo verhört und im Verhörkeller geschlagen wurde und trotzdem so ein ‘Doppelgeschäft’ der Halbheiten nicht mitmachte! Er blieb fest auf dem Boden als Sprecher und Mahner für die wehrlosen und gequälten Menschen, und das gegen die Widerstände und Verwarnungen vonseiten der Gestapo. So war er ein treuer Diener des Herrn, der sich weder einschüchtern noch erschüttern oder anderswie schwach machen ließ. Da schnitt sich Eckhard Hieronymus mit dem Schuldgefühl des weltlich bedingten Kompromisses im Gewissen einige Treuescheiben von Pfarrer Kannengießer ab. Auf die Frage , ob er Breslau verlassen werde, wo doch die ersten russischen Panzerverbände nicht mehr weit seien und die Stadt aus tausend Rohren beschießen werden, gab der mutige Pfarrer ein klares Nein. Er werde die Stadt nicht verlassen, weil es in der Stadt Menschen gibt, die seinen Beistand brauchen werden. Er selbst hätte, weil er keine Familie habe, nur sein Leben zu verlieren. Dieses Leben habe Gott und den Menschen zu dienen, solange es geht. Diese Äußerung