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Ruf doch mal an
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eBook288 Seiten3 Stunden

Ruf doch mal an

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Über dieses E-Book

Als die Callcenter-Agentin Julia ihren Mitarbeitern erzählt, sie sei eben am Telefon Zeugin eines Mordes geworden, will ihr zunächst keiner glauben. Aber tatsächlich findet man später am anderen Ende der Leitung eine Leiche: Ein pensionierter Professor wurde erschlagen! Von der Tatwaffe fehlt zwar jede Spur, doch an Verdächtigen mangelt es nicht. Kommissar Tork und sein Kollege Unger erfahren, dass der wohlhabende Tote nicht nur seine nahen Verwandten verprellte, sondern auch Feinde an der Universität hatte. Wird man unter ihnen rechtzeitig den Mörder finden, ehe der ein zweites Mal zuschlägt?
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum23. Aug. 2020
ISBN9783752988307
Ruf doch mal an
Autor

Bernharda May

Hobbyschriftstellerin, Krimifan und Leseratte. Sie hat weder ein Haustier noch eine Topfpflanze, mit der sie tiefgründige Gespräche führt, und auch keinen interessanten Zweitnamen, um sich von anderen Bernharda Mays abzugrenzen. Mehr wird nicht verraten - denn Geheimnisse machen Frauen im besten Alter erst so richtig interessant!

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    Buchvorschau

    Ruf doch mal an - Bernharda May

    Ruf doch mal an

    1. Mord am Mittwoch

    2. Dienst am Donnerstag

    3. Freitagsvernehmungen

    4. Suspektes zum Samstag

    5. Süßes zum Sonntag

    6. Montagsvermutungen

    7. Deduktionen am Dienstag

    8. Am achten Tage droht der Tod

    9. Schlusswort beim Kaffeeschwatz

    Impressum

    Danksagung

    1. Mord am Mittwoch

    08.32 Uhr

    Nachdem sie die Betten ausgeschüttelt, das Frühstücksgeschirr abgewaschen und ihre stattliche Anzahl von sechsundzwanzig Zimmerpflanzen gegossen hatte, nahm Frau Ottermayer das Zierkissen vom Sofa (das Almmotiv darauf hatte sie seinerzeit selbst gestickt) und legte es aufs Fensterbrett ihres Wohnzimmers. Jetzt begann der gemütliche Teil des Vormittags: Die Arme auf das Kissen gestützt und die Schultern in die gestrickte Stola gehüllt, würde sie am geöffneten Fenster das Geschehen auf der Straße verfolgen.

    In der Wohnsiedlung gab es für eine alte Dame wie Frau Ottermayer immer etwas Interessantes zu beobachten. Von der Bachstraße, die parallel zur großen Hauptstraße verlief, bog der Steinweg ab und führte durch zwei einander gegenüberliegende Mehrfamilienblöcke auf einen dritten Block zu. Die drei Blöcke waren in den späten 50er Jahren gebaut und seitdem mehrfach innen und außen saniert worden. Zurzeit dominierte ein mattes Hellgelb die Hauswände. Frau Ottermayer empfand dies als wohltuend, da der Vorgänger ein ungemütliches Braungrau gewesen war.

    Bachstraße und Steinweg galten als gute Lage, weshalb es viele Menschen dorthin zog und die Wohnungen regelmäßig vermietet waren. Die Siedlung war relativ zentrumsnah, für Leute ohne Auto (wie Frau Ottermayer) nur fünf Gehminuten von der nächsten Bushaltestelle entfernt und zwei Straßen weiter gab es einen Supermarkt mit Bäcker. Zudem war sie weit abgelegen von den Fakultäten und Studentenwohnheimen der hiesigen Universität. Es lebte sich recht ruhig hier, denn dank einer großzügigen Bewaldung zwischen Bach- und Hauptverkehrsstraße gab es wenig Lärm und kaum störenden Durchgangsverkehr. Die Hinterhöfe waren frei zugänglich und verfügten über kleine Spielplätze, Müllcontainer und Wäscheständer. Die Parkplätze lagen vor den frontalen Eingängen der Wohnblöcke und reichten gerade so für die Anwohner. Alles in allem handelte es sich um eine überschaubare Stadtidylle wie aus dem Bilderbuch. Eben passend für Leute in Frau Ottermayers Alter.

    Sie wohnte im Erdgeschoss gleich neben dem Haupteingang des linken Blockes und konnte somit kontrollieren, wer hier alles ein- und ausging, und gleichzeitig dem Straßentreiben zuschauen. Das junge Paar aus dem Eingang schräg gegenüber war gerade dabei, Taschen und Koffer in ihrem Auto zu verstauen – offenbar ging es in den Urlaub, deshalb hatte man auch die Rollläden an den Fenstern auf halbe Höhe heruntergelassen. Oder war es nur ein Ausflug? Die Herbstferien begannen schließlich erst in einer Woche, glaubte Frau Ottermayer sich zu erinnern.

    Im Stockwerk über der Wohnung des jungen Paares waren die Fenster noch immer leer, obwohl sie mit Bestimmtheit wusste, dass dort jemand lebte, denn fast jeden Abend brannte das Licht.

    »Sicherlich ein Junggeselle, der keine Frau hat, die ihm Gardinen besorgt«, meinte Frau Ottermayer.

    Mit Junggesellen kannte sie sich aus. Von ihren drei Brüdern war nur einer verheiratet und die Wohnungen der anderen zwei würden, davon war Frau Ottermayer überzeugt, sehr ungemütlich sein, schenkte die wohlmeinende Schwester ihnen nicht jährlich zu Weihnachten selbst bestickte Tischdecken, Kissenbezüge und Wandbilder. Ob sie dem Fremden einfach eine Gardine in den Briefkasten stecken sollte? So ein leeres Fenster zur Straßenseite – ihrer Straßenseite – sah wahrhaftig nicht schön aus.

    Der dicke Herr aus dem anderen Eingang, der sonst um diese Zeit mit seinem kleinen Yorkshireterrier Gassi ging, schien heute auszubleiben. Womöglich war es ihm zu kalt, dachte Frau Ottermayer. Sie selbst mochte allerdings die frische, kühle Herbstluft und atmete tief durch.

    Ihre Augen wanderten nun drei Wohnungen weiter. Links außen rauchte wie stets um diese Zeit Herr Burckhardt seine zwei Zigaretten, und in der Wohnung unter Burckhardts hatten es die Bewohner noch immer nicht für nötig gehalten, die verblühten Zierpflanzen vom Fensterbrett zu nehmen. Frau Ottermayers Überlegung, welche Probleme die Hausfrau von einer solch wichtigen Aufgabe abhalten könnten, wurde vom Lärm des anspringenden Motors unterbrochen: Das Paar hatte alles Gepäck glücklich verstauen können und fuhr nun los. Die alte Dame wollte den Vorbeifahrenden freundlich zunicken, doch würdigten die jungen Leute sie keines Blickes. Die Zeiten, als alle Nachbarn dieser Straße sich zumindest oberflächlich kannten und grüßten, waren lange vorbei. Frau Ottermayer bedauerte dies sehr, führte es doch dazu, dass ihr immer weniger Klatsch und Tratsch zugetragen wurde und sie für Unterhaltungszwecke vermehrt auf Illustrierte zurückgreifen musste.

    Plötzlich bog mit rasanter Geschwindigkeit ein roter Flitzer von der Bachstraße in die Wohnblocksiedlung ein, bremste quietschend vor einer Parklücke und eroberte sie frech, ohne zu blinken. Normalerweise mochte Frau Ottermayer dermaßen rücksichtslose Fahrer nicht.

    »Irgendwann wird es wegen solcher Raser noch einen bösen Unfall geben«, murrte sie und hoffte insgeheim, in einem solchen Falle rechtzeitig am Wohnzimmerfenster zu stehen, um zunächst der Polizei und hinterher, bei einer heißen Tasse Kaffee, ihren Freundinnen den Hergang detailgetreu berichten zu können.

    Über die unangemessene Geschwindigkeit ausgerechnet dieses roten Flitzers sah die alte Dame allerdings gerne hinweg und sie lächelte sogar, denn es handelte sich um den Wagen von Herrn Robert…wie hieß er gleich? Egal, er war jedenfalls der sympathische Neffe von Professor Beumler, einem emeritierten Gelehrten der hiesigen Universität, der im gleichen Eingang wie sie lebte. Ihm gehörte die Wohnung schräg über ihr. Ein garstiger und unhöflicher älterer Herr, wie Frau Ottermayer fand, aber Robert besuchte ihn regelmäßig, und es schien ihr, als ob Onkel und Neffe sehr aneinander hingen.

    Der junge Mann, heute mit schicker lederner Schirmmütze auf den wirren braunen Haaren, sprang mit leichten Schritten die Treppenstufen zum Haupteingang hinauf, grüßte fröhlich mit »Guten Morgen, Frau Ottermayer« und drückte auf den Klingelknopf.

    »Grüß dich, Robert«, erwiderte Frau Ottermayer mit ihrer tiefen Altfrauenstimme, die so gut zu ihrem gutmütigen Bulldoggengesicht passte, und hob mit gespielter Strenge ihren Zeigefinger: »Bei solch kaltem Wetter wie heute solltest du den Mantel besser zuknöpfen!«

    »Für den kurzen Weg vom Auto bis hierher?«, lachte Robert, aber weil er nicht unhöflich sein wollte, schob er schnell – nicht ohne spaßhaften Unterton – hinterher: »Auf dem Rückweg mache ich ihn zu und lege den Schal doppelt um den Hals, versprochen. Der Wagen wird sich nachher sicherlich abgekühlt haben. Dann befolge ich Ihren weisen Rat!«

    Er zwinkerte ihr mit seinen hellblauen Augen zu.

    »Mach dich nicht lustig. Ihr jungen Leute erkältet euch heutzutage viel schneller als unsereins damals.«

    Aus der Gegensprechanlage der Klingel ertönte Professor Beumlers Stimme:

    »Wer ist da?«

    »Ich bin’s, Onkel, machste auf?«

    Die Tür surrte, Robert lehnte sich an die Klinke und wurde eingelassen.

    »Schönen Tag noch, Frau Ottermayer«, rief er, bevor die Eingangstür wieder zufiel.

    So ein netter junger Mann, lächelte Frau Ottermayer vor sich hin. Er weiß noch, wie man grüßt und sich benimmt – anders als sein miesepetriger Onkel. Und immer zu einem Scherz aufgelegt…

    Sie stand noch eine Weile da, aber als es zu nieseln begann, wurde es ihr zu ungemütlich und sie schloss das Fenster. Es mussten heute weder Einkäufe erledigt noch die Handtücher gewechselt werden, deshalb entschied sie sich, den restlichen Vormittag mit dem Fernseher und einer heißen Tasse Tee mit Honig zu verbringen. Als sie in der Küche das Wasser aufsetzte, klingelte es.

    »Wer mag das sein?«, fragte sie laut, obwohl niemand da war, der hätte antworten können.

    Sie nahm den Hörer der Gegensprechanlage ab und rief:

    »Ja, bitte?«

    Es kam keine Antwort und Frau Ottermayer war kurz unsicher, ob sie sich das Klingeln vielleicht nur eingebildet hätte. Mit einem stolzen »Nein, für Halluzinationen bin ich noch nicht alt genug!« verwarf sie diesen Gedanken jedoch.

    Möglicherweise war ja die Gegensprechanlage kaputt und die Post wartete draußen? Unter der Woche kam sie mitunter schon recht früh. Frau Ottermayer lief mit kurzen Schritten zum Wohnzimmerfenster und öffnete es, um hinaus auf den Haupteingang zu blicken. Keiner stand dort, und vorhin, erinnerte sie sich, hatte der Lautsprecher ja auch funktioniert, oder?

    »Seltsam«, murmelte sie.

    Aus den Augenwinkeln bemerkte sie den dicken Herrn mit seinem Terrier, wie er um die Hausecke bog und anscheinend doch von einem seiner üblichen Spaziergänge zurückkehrte. Da öffnete sich der Hauseingang und Frau Ottermayer erschrak: Eingehüllt in einem zugeknöpften Cordmantel, den Schal über die Nase geschoben und die Schiebermütze tief in die Stirn gezogen, kam eine Gestalt heraus, zwinkerte der alten Dame zu, winkte und lief die Treppen hinab. Frau Ottermayer musste lachen.

    »Ach, Robert, jetzt übertreibst du aber!«

    Sie wollte gerade zurückwinken, als es erneut klingelte.

    »Wer ist das denn nur?«, fragte sie, mittlerweile nicht mehr verwundert, sondern ärgerlich.

    Sie nahm wieder den Hörer ab und erhielt abermals keine Antwort. Diesmal schaute sie in den Innenhof, ob vielleicht jemand am Hintereingang stand, doch ergebnislos.

    »Wer hat mir kürzlich was von Klingelstreichen irgendwelcher Nachbarskinder erzählt? Sollten die es jetzt auf mich abgesehen haben?«

    Das Wasser kochte mittlerweile. Sie goss es – noch immer verärgert – auf den Tee, vergaß vor Aufregung den Honig und setzte sich in ihren Wohnzimmersessel. Durch die Gardine sah sie noch den roten Flitzer davonrasen, dann schaltete sie pünktlich zu den Nachrichten das Fernsehgerät an. Sie ahnte nicht, dass diese kurze Aufregung der harmloseste Teil ihres Tages werden sollte.

    09.12 Uhr

    »Es tut mir leid, Frau Happ, das Wetter hat mich aufgehalten«, entschuldigte sich Julia im Vorbeigehen.

    Völlig außer Atem hastete sie durch das Großraumbüro zu ihrem Platz, schaltete den PC ein, setzte sich das Headset auf und machte sich für ihre Arbeit bereit. Frau Happ warf ihr einen Blick durch ihre Brille zu, der unverkennbar bedeutete:

    »Ich dulde kein Zuspätkommen!«

    Ihr Mund dagegen erwiderte nur:

    »Wir sprechen nachher darüber, Fräulein Holten.«

    Julia seufzte. Dies war bereits das zweite Mal innerhalb einer Woche, dass sie sich verspätet hatte. Gewiss würde ihr Frau Happ während der Pause ein Gespräch über Pünktlichkeit, Verlässlichkeit und – das war das Gemeine – Ersetzbarkeit aufzwingen. Julia wusste nur zu gut, wie viele Studentinnen es gab, die sich um einen Nebenjob im Call-Center bemühten, um sich ihr Taschengeld aufzubessern. Frau Happ würde es nicht schmerzen, sie hinauszuwerfen.

    »Die Ausrede mit dem Wetter wird sie dir nicht abkaufen«, flüsterte ihr Katharina vom Nachbartisch zu, »schließlich ist es keine Überraschung, dass es heute regnet. Wieso bist du nur so durch den Wind?«

    Julia ließ sich missmutig auf den Stuhl fallen.

    »Heute ist einfach nicht mein Tag.«

    Sie warf Katharina einen vielsagenden Blick zu. Die andere nickte verstehend und beide konzentrierten sich auf ihre Arbeit.

    Das neu-installierte Programm war einfach zu bedienen. Nachdem sie den PC hochgefahren und nebenbei ihr vom Wind zerzaustes blondes Haar geordnet hatte, musste Julia nur auf den Startbutton klicken und ihrem Arbeitsplatz wurde eine Liste von Telefonnummern zugeordnet, von der jede nacheinander automatisch angewählt wurde, bis jemand abhob. Erst dann begann ihre eigentliche Tätigkeit.

    »Guten Tag, mein Name ist Julia Holten und wir führen zurzeit eine Umfrage im Auftrag von…«

    »Danke, kein Interesse.«

    Aufgelegt. Julia zuckte mit den Achseln. Unhöflichkeit und schnelle Gesprächsabbrüche war sie mittlerweile gewohnt und sie konnte auch verstehen, dass Leute ungefragten Anrufen eher feindselig gegenüberstanden.

    »Guten Tag, mein Name ist Julia Holten und wir führen zurzeit eine Umfrage im Auftrag von…«

    »Einen Augenblick bitte, junge Dame, ich habe noch Besuch. Zwei Sekunden.«

    Julia fragte sich während der zwei Sekunden, ob sie diesmal dazu kommen würde, den Namen ihrer Auftraggeber zu nennen. Plötzlich horchte sie auf. Am anderen Ende der Leitung schien es eine Meinungsverschiedenheit zu geben.

    »Ich bitte dich, Robert, stell dich nicht so an«, sagte die Stimme, die eben abgehoben hat, eindringlich.

    »…Geizha…ange…ug…arte…«, hörte Julia eine andere Stimme im Hintergrund antworten.

    Sie zog die Augenbrauen zusammen – das war aber unangenehm! Noch nie hatte sie während eines Outbound-Calls fremden Privatdiskussionen zuhören müssen.

    Katharina hatte indessen bereits drei Anrufe erfolgreich absolviert, atmete kurz durch und schaute sich im Großraumbüro um. Frau Happ war nicht zu sehen, also konnte man schnell mit Julia an deren Ausrede feilen, damit es keinen allzu großen Ärger geben würde.

    Als sie jedoch ihre Kollegin ansah, erschrak sie: Julia saß blass und mit weit aufgerissenen Augen vor ihrem PC; die rechte Hand hielt zitternd das Headset fest, die andere umgriff die Stuhllehne mit solcher Anspannung, dass die Fingerknöchelchen durch die Haut schimmerten.

    »Was ist los?«, fragte Katharina.

    Julia starrte auf den Monitor. Erst als Katharina erneut fragte, drehte sie sich zu ihr.

    »Da… da hat jemand…«

    Julia musste schlucken, kniff kurz die Augen zusammen und fasste sich. Langsam formulierte sie so sachlich wie möglich:

    »Ich glaube, jemand hat meinen Klienten erschlagen.«

    Katharina war sprachlos. Julia erklärte langsam, aber ernsthaft:

    »Es gab eine Diskussion am anderen Ende der Leitung. Dann einen Schrei und ein dumpfes Geräusch, und jetzt antwortet mir keiner mehr, obwohl nicht aufgelegt wurde. Ich glaube, jemand ist erschlagen worden.«

    »Das klingt ja unglaublich!«, rief Katharina aus, so laut, dass die anderen Kolleginnen von ihren Plätzen aufschauten.

    Julia aber löste sich aus ihrem Schock, öffnete den Internet-Browser und kopierte die Telefonnummer, mit der sie eben verbunden war, ins Suchfenster.

    »Hoffentlich gibt es einen Eintrag«, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu Katharina. »Da! Beumler, Steinweg 4! Das ist nicht weit von hier. Verständige die Polizei, Kati, sie soll dorthin kommen. Ich muss zu ihm, irgendwas ist da los!«

    Sie sprang von ihrem Sitz auf, schnappte sich ihre Handtasche, rannte beinahe Frau Happ um, die ins Büro zurückkehrte, und hetzte fort.

    Frau Happ sah Katharina durch ihre Brille fragend an. Die aber hatte bereits ihr Smartphone hervorgekramt und die Nummer des Polizeinotrufs gewählt.

    »Noch nie zuvor hab ich gesehen, dass Julia etwas aus der Fassung bringt«, sagte sie. »Frau Happ, ich fürchte, es ist etwas Schreckliches geschehen.«

    09.34 Uhr

    Verärgert schaltete Frau Ottermayer ihr Fernsehgerät aus. Im Anschluss an die Nachrichten wurde ein liebevoller Heimatfilm aus den fünfziger Jahren ausgestrahlt, aber konnte sie ihn genießen? Nein, denn schon wieder glaubte jemand, sie mit Klingelstreichen wahnsinnig machen zu dürfen.

    »Diesen Blagen werde ich jetzt aber gehörig die Meinung sagen«, knurrte sie.

    Es klingelte mittlerweile Sturm, doch sie lief nicht zur Gegensprechanlage, sondern geradewegs ans Wohnzimmerfenster. Mit raschen Griffen öffnete sie es und brüllte mit ihrer tiefen Stimme:

    »Sagt mal, spinnt ihr?«

    Erst dann sah sie, dass es sich mitnichten um freche Kinder handelte. Eine junge Frau, für diese Jahreszeit viel zu dünn angezogen, stand blass und aufgeregt vor der Haustür und stotterte:

    »Guten Tag, es ist dringend! Ich muss zu Herrn Bleumer oder Beumler oder… Ach, können Sie mich reinlassen?«

    »Professor Beumler wohnt schräg über mir, Sie haben die falsche Klingel gedrückt.«

    »Nein, verstehen Sie bitte, er kann nicht aufmachen. Ich muss zu ihm, es ist etwas passiert und…«

    Weiter musste die junge Frau nicht sprechen. Ihre Hände krampften sich um den Henkel einer ungewöhnlich großen Handtasche. Sie zitterten so sehr, dass die Tasche regelrecht zu schwanken schien.

    Frau Ottermayer erkannte es schnell, wenn eine Geschlechtsgenossin in Not war. Sie lief schnell zur Gegensprechanlage und drückte auf den Türöffner. Sie hörte, wie die Fremde in den Hausflur trat, nahm sich ihren Schlüssel und fragte, während sie ihre Wohnung verließ:

    »Nun, meine Liebe, was ist denn los? Etwas Schlimmes?«

    »Danke, dass Sie mir geöffnet haben. Schräg gegenüber, sagten Sie?«

    »Ja, ein Stockwerk höher.«

    Gemeinsam stiegen sie die Treppe zur nächsten Etage hinauf.

    »Rechts wohnen Ebermanns, die sind aber zurzeit nicht da«, erklärte Frau Ottermayer, die das Gefühl hatte, irgendwas sagen zu müssen. »Hier links wohnt…«

    Sie stockte. Die Wohnungstür zu Prof. Beumler stand halb offen. Die fremde Frau fasste sich an die Brust und atmete schwer. Sie hob den Arm, um die Tür ganz zu öffnen, da zögerte sie und sah Frau Ottermayer unsicher an.

    »Ich… Ich glaube nämlich, dass ihm was passiert ist…«

    Frau Ottermayer verstand zwar noch nicht alles, aber sie wusste, dass diese junge Frau sich fürchtete. Sie drängte sich vor sie und rief forsch in die offene Wohnung hinein:

    »Professor Beumler? Sind Sie da? Ihre Tür steht offen! Und hier ist jemand für Sie, eine Frau…«

    Sie blickte fragend zur Fremden.

    »Julia Holten«, antwortete jene reflexartig, fügte aber hinzu: »Ich bin nicht wirklich auf Besuch da. Ich führte ein Telefongespräch mit ihm und… d-da hörte ich…«

    Sie begann wieder zu stottern.

    Irgendwas ist hier faul, dachte sich Frau Ottermayer, öffnete die Wohnungstür ganz und trat ins Innere.

    Julia folgte ihr. Sie nahm den Geruch von altem Papier wahr, der durch die Wohnung schwebte und sie an die Keller der Uni-versitätsbibliothek erinnerte. Die Diele war mit Regalen vollgestellt, auf denen sich abgenutzte, antiquarische Bücher neben fast neuen, mitunter noch eingeschweißten Lektüren sammelten. Es war etwas dunkel, weil es kein Fenster gab, um Tageslicht einzulassen.

    Frau Ottermayer bedauerte, dass kein einziger Junggeselle etwas vom Durchlüften zu verstehen schien, und hatte Mühe, nicht auf die Bücher zu treten,

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