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Das Torhaus: Eine mysteriöse Erbschaft mit Folgen
Das Torhaus: Eine mysteriöse Erbschaft mit Folgen
Das Torhaus: Eine mysteriöse Erbschaft mit Folgen
eBook575 Seiten7 Stunden

Das Torhaus: Eine mysteriöse Erbschaft mit Folgen

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Über dieses E-Book

"Sind Sie sicher, dass Sie hierher wollten?" Aus dem Seitenfenster des Taxis sah sie eine mit Graffiti besprühte Hauswand, die in der Nachmittagssonne schmutzig-silbern glänzte … Nein, sicher ist sich Alma keineswegs, als sie in Weimar aus dem Taxi steigt. Eine unverhoffte Erbschaft hat sie an diesen Ort und vor dieses Haus geführt. Alma Winter, Anfang dreißig, fühlt sich fremd und ein wenig verlassen an diesem regnerischen Tag in der Klassikerstadt. Aber schneller als gedacht findet sie sich in einem Kreis von Freunden wieder, alles zupackende Thüringer, die sie fest an die Hand nehmen. Es geschehen Liebesgeschichten und andere Katastrophen. Doch das Torhaus birgt ein Geheimnis, das Alma zum Handeln zwingt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum20. Jan. 2020
ISBN9783749722150
Das Torhaus: Eine mysteriöse Erbschaft mit Folgen

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    Buchvorschau

    Das Torhaus - Helga Dreher

    MAI

    KAPITEL 1

    „Sind Sie sicher, dass Sie hierher wollten?" Der Taxifahrer nickte in Richtung des Gebäudes und schaute sie zweifelnd an. Alma verstand sofort, was er meinte. Aus dem Seitenfenster des Taxis sah sie eine mit Graffiti besprühte Hauswand, die in der Nachmittagssonne schmutzigsilbern glänzte.

    „Ich denke schon", antwortete Alma, zog ihre Geldbörse heraus und zahlte. Sie fand den Taxifahrer sympathisch und seine fürsorgliche Bemerkung rührend. Während der Fahrt war sie nicht auf seinen Versuch eingegangen, ein Gespräch zu führen. Sie glaubte zu wissen, worauf es hinauslaufen würde: das Wetter, die Benzinpreise, die Baustellen oder Umleitungen … Darauf hatte sie keine Lust gehabt. Oder war sie vielleicht aufgeregt gewesen? Ein wenig tat es ihr jetzt leid um das verpasste Gespräch, das möglicherweise einen nicht uninteressanten Einblick in die Befindlichkeit der Stadt oder der Städter gegeben hätte.

    „Danke, und einen schönen Aufenthalt in Weimar! Der Taxifahrer machte mit der Hand eine kurze Bewegung zur Stirn, die sie eher von einem Matrosen erwartet hätte. Aber andererseits, er war ja eine Art Fahrensmann, der Taximensch. Alma bat ihn, mehr aus einem Impuls des Freundlichseinwollens als tatsächlicher Notwendigkeit, um seine Karte – für eventuell sich nötig machende weitere Beförderungen. „Und einen schönen Tag noch für Sie, mit vielen Fahrgästen!, fügte sie ein wenig durcheinander und, so fand sie, eigentlich unnötigerweise hinzu.

    Nun stand sie auf dem Bürgersteig unmittelbar neben dem Haus, „ihrem Haus", wie sie für einen kurzen Moment dachte. Sekundenlang wiederholte sich der Anfall von Unsicherheit vor dem, was da auf sie zukam.

    Kurz vor dem Ziel hatte der Taxifahrer gemeint, er könne sie nicht an der Haustür, die sich direkt neben einer Ampel befände, absetzen, das wäre ungefähr wie ein Halt in der Poleposition bei der Formel 1. Er werde sie um den Stock fahren, zum Busbahnhof, der eigentlich eine Straße sei, und sie könne dann hinter dem Haus aussteigen. „Um den Stock …", hatte Alma in sich hinein gelächelt, wie früher in Neustadt bei Oma und Opa. Nur war man damals um den Stock gelaufen, ein Auto hatten die Großeltern nie besessen.

    Alma ging auf das kleine Haus zu, ihren Rollkoffer hinter sich herziehend. Die Seitenfront, vor der sie eben ausgeladen worden war, bot einen bedauernswerten Anblick. Die Wand war bis über Augenhöhe mit silberner und schwarzer Farbe besprüht. Zwei Fenster mit viergeteilten, vor Schmutz fast undurchsichtigen Scheiben hingen unsicher in den Maueröffnungen, eine der kleinen Scheiben war eingeschlagen und mit Presspappe hintersetzt. An mehreren Stellen zeigte der Putz große, tiefe Löcher. Als Alma mit ihrem Koffer auf der Suche nach der Eingangstür um die Hausecke bog, fand sie sich unmittelbar an besagter Ampel wieder, die eine offensichtlich stark befahrene Kreuzung regelte. In Zweierreihe standen Autos an, mehrere Fußgänger warteten auf der anderen Seite, einige davon mit wachsender Ungeduld. Die Autos bekamen Grün, fuhren an und versahen Alma mit einer kräftigen Dusche aus Pfützenwasser.

    „Oh, shit", murmelte sie. Ihr hellgrauer Trenchcoat sollte sie eigentlich während ihres gesamten Aufenthaltes in Weimar sauber bemänteln, und um die Füße fühlte es sich auch feucht an. Aber ihr Ärger dauerte nur kurz: Kleidungsstücke ließen sich reinigen, Schuhe trocknen. Unglücke dieser Kategorie konnten Alma nicht nachhaltig beeindrucken.

    Durch den plötzlichen Wasserguss war ihr entgangen, dass sie schon unmittelbar vor dem Eingang des Hauses stand. Eingang war untertrieben, dachte sie – das war ja ein richtiges Portal, mit zwei Säulen, einer winzigen überdachten Vorhalle und einer soliden Haustür. Alma zog ihren Koffer zwei Stufen hinauf und unter das Dach, um weiteren Fontänen zu entgehen. Sie musterte die kleine Fläche vor der Tür. Auf der einen Seite lehnte ein blaues Damenfahrrad, Marke Diamant, tiefe DDR, ohne Gangschaltung und auch ohne Vorderrad, dafür mit einem schönen Gesundheitslenker und einem Ledersattel. Beides erinnerte sie für einen Moment wehmütig an die Räder ihrer Kindheit. Obwohl nicht fahrbereit, war es mit einem teuren Schloss sorgfältig an eine Eisenstange angehängt, die die linke Seite der Vorhalle zur Straße hin abgrenzte. Rechts neben der Tür lagen mehrere vollgestopfte Plastiktüten.

    Alma schaute näher auf das schmutziggraue Klingelschild neben der Tür. Statt eines Namens befand sich darauf ein weißes Klebeetikett. Sie beugte sich vor und las: „Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage". Shakespeares Hamlet in der Goethestadt – hier lässt man nichts anbrennen, dachte sie. Mit einem prüfenden Blick überzeugte sie sich, dass die Luft rein und die Autos fern waren und sie wieder auf den Bürgersteig an der Ampel treten konnte. Sie fasste den Koffer, ging schnellen Schrittes zurück um die Hausecke und fand sich an ihrem Ausgangspunkt, der Graffitiwand, wieder.

    Was nun? Sie schaute sich suchend um, sah auf ihre Armbanduhr und zog die Augenbrauen hoch. Das fing ja gut an.

    Ihr Blick fiel auf ein kleines Gebäude, gelb verputzt und mit neuem Ziegeldach, das auf einer Art Verkehrsinsel mitten in der Straße stand. Leider hatte der Graffiteur auch hier sein Unwesen getrieben und das Häuschen zu einer Beleidigung für die Augen gemacht. Ein Stehtisch und drei Tische mit blauen Plastiksesseln standen rechts neben dem Haus, versorgt durch einen Schalter – offenbar der Busbahnhofskiosk. Alma verspürte sofort Kaffeedurst und gleichzeitig kräftigen Hunger. Das Sandwich vom ICE hatte sie schon auf der Höhe Leipzig aufgegessen, den hochpreisigen Kaffee dazu getrunken, und all das lag gut zwei Stunden zurück. Ihr Hunger war berechtigt, fand sie.

    „Was darf’s denn sein?", erklang eine tiefe und laute, aber nicht unfreundliche Frauenstimme aus dem Inneren des Kiosks durch die Schalteröffnung.

    Alma hatte gerade ihren Koffer abgestellt, den feuchten Mantel über eine Sessellehne gehängt und schaute ein wenig erschrocken auf. „Einen Pott Kaffee mit Milch – und etwas zu essen, bitte."

    Jetzt hätte sie eigentlich die obligatorische Aufzählung erwartet: Currywurst mit Pommes, Hamburger, Bulette … Ach nein, sie war ja wieder zu Hause in Thüringen, da waren Bratwurst mit Brötchen oder Bockwurst mit Kartoffelsalat angesagt. Zu ihrer Verwunderung war nicht eines der erwarteten Angebote zu hören, stattdessen der Ruf nach hinten in die Tiefe des Häuschens: „Holger, einmal das Spezi!"

    Alma fand, dass heute der Tag der Überraschungen war, da sollte man nicht unnötig eingreifen. Sie bedankte sich, als der Kaffee kam, der auf einem kleinen Tablett in blitzsauberer Tasse aus gutem Porzellan mit einem Kännchen Milch und einem Glas Wasser sogar zu ihr herausgebracht wurde.

    „Nach einer Reise hat man ja doch ordentlich Durst, oder? Essen ist bei Holger in Arbeit."

    Alma schaute auf. Eine Frau ungefähr Mitte vierzig, vollschlank und mit schwarzem Lockenkopf, in den mehrere feuerrote Strähnen eingefärbt waren, nickte ihr mit wachem Blick und der Andeutung eines Lächelns zu. Alma fühlte sich taxiert (Fremde, groß, dünn, Anfang/Mitte dreißig? Kleidung nicht ganz billig; Frisur einfach; dezentes Makeup; Westfrau?) und fand das in Ordnung. Als professionelle Gastgeberin würde sie es ebenso machen. Sicherlich hatte der Ausschank am Busbahnhof meistens Stammkunden, die Busfahrer zum Beispiel, oder regelmäßige Fahrgäste. Da fiel ein Fremdkörper auf und wollte eingeordnet werden.

    „Vielen Dank, sagte Alma, einem plötzlichen Wunsch nach Verbindlichkeit folgend, „und machen Sie dem Koch keinen Stress. Hier sitzt man sehr angenehm, mit einem schönen Blick übrigens auf die wunderbaren alten Bäume.

    „Ja, da haben Sie recht, das ist eine der schönsten Straßen in Weimar – finde ich jedenfalls. Wenn bloß die Kastanien nicht von dieser Motte befallen wären. Jetzt haben wir Anfang Mai, da sieht alles schön grün aus. Aber ich seh schon wieder, wie Ende Juli die ersten Blätter braun und trocken werden. Ein Jammer ist das!"

    Mit anklagendem Kopfschütteln und festen Schrittes ging sie zurück zum Haus, drehte sich jedoch unvermittelt noch einmal um: „Das Klo ist übrigens hier im Haus, gleich um die Ecke – aber Automat, Sie brauchen fünfzig Cent."

    Alma nickte und hatte nun Zeit, sich in Ruhe umzusehen. Unwillkürlich suchte sie gleich wieder ihr Haus, dem sie auf der busbahnhöflichen Verkehrsinsel im Abstand von wenigen Metern gegenübersaß. Jetzt hatte sie die Rückfront im Blick. Sie sah eine niedrige Mauer mit einem aufgesetzten Holzzaun darüber und einer sehr dichten Hecke dahinter. Vom Haus war nur das kleine Obergeschoss mit einem halbrunden Fenster zu sehen. Alles andere war unsichtbar hinter der Hecke verborgen. Das Gebäude wirkte von hier aus nicht mehr so desolat und das Dach schien fast neu zu sein. Neben dem Zaun stand ein blaues Straßenschild. „Hoffmannvon-Fallersleben-Straße", las sie.

    Sie drehte ihren Plastikstuhl ein wenig nach links und schaute die Straße namens Hoffmann von Fallersleben entlang, versuchte sich gleichzeitig an den Namenspaten zu erinnern: deutscher Dichter, hatte das „Deutschlandlied geschrieben, und zwar schon Mitte des 19. Jahrhunderts, also frei jeden Verdachts, etwas mit dem braunen Reich zu tun zu haben. Das „von Fallersleben bezeichnete, wenn sie sich recht erinnerte, weniger alten Adel als vielmehr seinen Geburtsort. Hatte er nicht auch Kinderlieder geschrieben? War „Alle Vögel sind schon da" eines davon? Ein wenig schämte sie sich, es nicht genauer zu wissen, schließlich hatte sie im Zweitfach Germanistik studiert. Na ja, das war Jahre her und danach war sie fast nur noch mit dem Englischen befasst gewesen.

    Zu beiden Seiten der kurzen Straße standen gewaltige Laubbäume, die die Illusion einer schattigen Allee herstellten, von leichtem Wind und hellem Sonnenlicht mit lebendigen Lichtreflexen versehen. Rechts und links der Fahrbahn befanden sich breite gepflasterte Busspuren und Haltestellensäulen auf den Bürgersteigen. Linker Hand war ein verglastes Buswartehäuschen zu sehen.

    Ein ohrenbetäubendes Sirenengeräusch riss sie aus der eben noch als so stadtfern und fast beschaulich empfundenen Ruhe. Alma wandte den Kopf und schaute zurück zur Fahrstraße, die hinter einem breiten Bürgersteig und einem durchgehenden Geländer verlief. Dort tobte das pralle Verkehrsleben, momentan kurz gehindert von einem durchrasenden Krankenwagen mit Blaulicht.

    „So, Ihr Essen. Holger hofft, dass es Ihnen schmeckt. Guten Appetit!"

    Alma drehte sich erneut mit dem Plastiksessel und sah auf dem Tisch vor sich „ihr Essen". Auf einem großen flachen Teller, der sie eher an ein Sternerestaurant erinnerte, lag eine Bulette neben einer Portion frisch aussehenden Feldsalats – Rapünzchen, wie Oma immer gesagt hatte. Mehrere Scheiben Weißbrot, ungetoastet, aber innen zart mit knusprig brauner Kruste darum lagen in einem Körbchen auf einer Stoffserviette. Es duftete verführerisch und sie musste gleich davon kosten. Sie suchte das Besteck und fand es, ebenfalls in einer Stoffserviette, neben ihrem Teller.

    Alma schaute ungläubig zum Schalter, aber niemand war zu sehen. Sie begann zu essen. Die auf den ersten Blick unauffällige Bulette erwies sich als kleine Köstlichkeit. Das Innere war von zarter Beschaffenheit und enthielt neben dem, was von einer Bulette erwartet werden konnte, Hackfleisch, Semmel, Ei und Kümmel, offensichtlich weitere Ingredienzien: Alma schmeckte Knoblauch, Kräuter und einen Hauch Schärfe, Tabasco vielleicht? Oder Senf? Dann sah sie winzige rote Pünktchen, die ohne Zweifel auf die Verwendung von frischer Chilischote hinwiesen – die Bulette war ein Ereignis. Das ebenfalls unverdächtig daherkommende Häufchen Feldsalat stand seiner Nachbarin auf dem Teller in nichts nach. Es war mit einem Dressing versehen, in dem sie winzige, knusprig gebratene Speckwürfel und sämig geriebene Kartoffel schmeckte. Obwohl inzwischen sehr hungrig, aß sie mit Bedacht und Genuss. Alma hatte im Lauf der Jahre eine ehrfurchtsvolle Liebe zu gutem Essen entwickelt, und hier fühlte sie sich einer verwandten Seele nahe. Aber wo war diese Seele? Steckte sie in Holger und in den Tiefen des Busbahnhofskiosks?

    „Bockwurst mit Semmel und ’nen großen Kaffee, Moni!", erklang eine dröhnende Bassstimme hinter ihr. Alma schaute auf und sah einen weiteren Gast am Schalter stehen – ein Bär von einem Mann, Mitte dreißig, Schwergewicht. Er trug ein hellblaues Hemd, das über seinem enormen Bauch spannte, und einen perfekt gebundenen gestreiften Schlips unter einer dunkelblauen Windjacke, an deren Ärmel ein buntes Schild aufgenäht war. Das war zweifellos ein Busfahrer, Stammgast sicher, einer der hier rechtens sein zweites Frühstück oder auch schon sein Mittagessen bestellte.

    „Alles klar, Mirko! Kaffee kommt, Bockwurst braucht noch zwei Minuten."

    Mirko war mit dem zeitlichen Ablauf am Schalter offenbar vertraut und nicht ungeduldig. Ein kurzes Nicken in Almas Richtung, danach wurde die randvolle Kaffeetasse zum Stehtisch balanciert, eine Zigarette angezündet und das Handy herausgeholt. Alma nickte zurück, aber Mirkos Aufmerksamkeit war bereits bei seinem telefonischen Gesprächspartner.

    „Hat es Ihnen geschmeckt?" Alma wandte den Kopf und schaute zu einem jungen Mann in weißer Kochjacke, der hinter dem Schalter stand und sich ein wenig herauslehnte. Er schien breitschultrig, hatte dunkle lockige Haare, ein rundes Gesicht und ein offenes Lächeln.

    „Das war ein sehr luxuriöses Mahl. Ich habe lange nicht mehr so etwas Einfaches – hm, Bodenständiges, meine ich, Sie verstehen mich bitte nicht falsch – so toll zubereitet gegessen. Ehrlich, es war ein Genuss!" Alma hörte sich sprechen und erkannte sich nicht wieder. Ein Gespräch am Imbissstand zu führen – undenkbar war das normalerweise für sie. Alma die Unnahbare, oder Alma die Verschlossene, das waren, wie sie wusste oder Grund hatte zu vermuten, Attribute, die man ihr gern nachsagte.

    Der Koch wurde tiefrot und sein Lächeln breiter. Inzwischen war seine Kollegin mit Mirkos Bockwurst nach draußen gekommen. Sie stellte den Teller vor den noch immer telefonierenden Busfahrer, lehnte sich dann neben den Schalter und sagte mit einem Stolz, der offensichtlich vor allem Holger galt: „Wir haben für Sie unser Spezi von heute serviert – Holger, wie nennt es sich doch gleich?"

    „Boulette Spéciale de Pays – vom Lande, wegen des Feldsalats. Aber das ist eher für mich und Moni hier, aus Spaß, wissen Sie."

    Moni übernahm das Wort: „Also, das ist so. Ich und Holger haben vor einem halben Jahr den Kiosk übernommen. Holger hat richtig auf Koch gelernt und war nach der Lehre in mehreren teuren Hotels – sogar in der Schweiz! Ihm hat’s aber nicht gefallen, war ihm alles zu fein. Jetzt haben wir zwei den Imbiss, und Holger macht zum Essen eigentlich das Übliche – Bowu/Brötchen, Bowu/Majo, dasselbe mit Roster, dann Soljanka, belegte Brötchen, so was halt. Geht immer gut. Ja, also … und dazu macht er jeden Tag noch das Spezi, ein Spezialessen sozusagen, wo er sich kochlich austobt. Heute war’s Bulette mit Feldsalat, gourmetmäßig aufgerüscht."

    „Unsere Normalos versorg’ ich mit dem Üblichen – die wollen das, was sie immer hatten, und keine Experimente, unterbrach sie Holger und machte eine Kopfbewegung in Mirkos Richtung. „Aber ehrlich, wir sind hier in Weimar. Auf klassischem Boden, sozusagen. Da muss doch außer Bockwurst und Bratwurst noch mehr drin sein, da muss Goethen und Schillern irgendwie Ehre angetan werden, oder? Na, und da dachte ich, mach ich noch täglich ein Spezialgericht. Fast jeden Tag kommt jemand, der aussieht, als ob er – oder sie, Sie wissen, wie ich’s meine – offen ist für was Besonderes. Dann gibt’s Holgers Spezi. Sie waren heute mein Spezi-Gast. Das hat Moni gleich gesehen. Schief gehen konnte es natürlich noch, Sie hätten ja Vegetarier sein können. War aber nicht, oder?

    „Zum Glück nicht", antwortete Alma und stellte das Geschirr zum Abräumen zusammen.

    „Entschuldigen Sie, dass ich Sie anspreche, aber ich glaube, wir sind verabredet. Sie sind Frau Alma Winter?"

    From: Alma Winter

    To: Benjamin Lenk

    Sent: Thursday, April 29, 2004 9:56 PM

    Subject: Termin Weimar

    Sehr geehrter Herr Dr. Lenk,

    vielen Dank für Ihr Schreiben vom 26.04.2004.

    Hiermit bestätige ich den von Ihnen vorgeschlagenen Termin Montag, 10. Mai 2004, 11:30 Uhr für die Besprechung in Ihrer Kanzlei in Weimar, Lincolnstraße 32.

    Mit freundlichen Grüßen

    Alma Winter

    From: Benjamin Lenk

    To: Alma Winter

    Sent: Friday, April 30, 2004, 8:06 AM

    Subject: Re: Termin Weimar

    Sehr geehrte Frau Winter,

    vielen Dank für die Terminbestätigung.

    Ich schlage allerdings vor, dass wir uns zunächst unmittelbar an der Adresse Erfurter Straße 1 treffen. So kann ich Ihnen vor unserer Besprechung das Gebäude zeigen, das Bestandteil des Erbes ist. Wir verbleiben bei dem von Ihnen bestätigten Termin 10.05.2004, 11:30 Uhr.

    Ich werde mir erlauben, Ihnen eine Übernachtung zum 11.05. in Weimar im Hotel Liszt zu reservieren, so dass Sie vor Ort hinreichend Gelegenheit zu Besichtigung und Information haben.

    Mit freundlichen Grüßen

    Dr. Benjamin Lenk

    Rechtsanwalt

    Kanzlei Rottloff und Kollegen

    Weimar

    Ein hochgewachsener Mann in grauschwarzem Anzug stand in einigem Abstand vom Schalter auf der Verkehrsinsel. Er hatte kurze dunkle Haare und trug eine Brille mit getönten Gläsern. Auf dem Bürgersteig neben dem Haus stand jetzt ein schwarzer BMW.

    Alma schaute den Riesen an und nickte. „Und Sie sind … Rechtsanwalt Dr. Lenk? Waren wir nicht vor einer halben Stunde verabredet?"

    Herr Lenk erschien keineswegs verlegen und antwortete kühl: „Ich bedaure die Verspätung außerordentlich. Mein Sohn hatte einen kleinen Unfall. Leider waren Sie nicht auf dem Handy zu erreichen, ich habe es mehrfach versucht."

    Alma erinnerte sich sofort, dass sie ihr Handy im Zug demonstrativ aus der Handtasche genommen und abgestellt hatte, als ein Mitreisender ihr gegenüber sein drittes Telefonat in Serie begonnen und ihre vernichtenden Blicke konstant ignoriert hatte. Sie spürte, wie ihr Gesicht zu glühen begann.

    „Ihrem Sohn ist doch hoffentlich nichts Schlimmes passiert?"

    „Nur ein Sturz von der Schaukel. Aber zur Sicherheit sind wir doch in die Klinik zum Röntgen gefahren, auch, um die Kindergärtnerinnen zu beruhigen. Na, und die Schürfwunden an Knie und Ellenbogen wurden danach in der Ambulanz von ihrem Besitzer stolz vorgezeigt und von der Schwester aufwendig verbunden. Jetzt ist Paul wieder im Kindergarten und …"

    „Und sicher der viel beachtete Mittelpunkt mit seinen Verbänden", unterbrach ihn Alma.

    Herr Lenk nickte mit der Andeutung eines Lächelns. „Also dann noch einmal von vorn: Willkommen in Weimar, Frau Winter. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise. Es ist gut, dass wir uns gleich hier, am locus delicti sozusagen, treffen. Ich sehe, Sie sind vor dem Verhungern bewahrt worden. Dann lassen Sie uns doch gleich zur Sache kommen. Darf ich mich Ihres Koffers annehmen?"

    Er machte Anstalten, sich des Koffergriffes zu bemächtigen, doch Alma schüttelte den Kopf.

    „Einen Moment, Herr Lenk. Ich muss noch schnell für den Gourmetimbiss bezahlen."

    Der Anwalt schaute irritiert von Alma zum Schalter, ließ aber den Koffer gehorsam stehen. Alma zahlte und sagte mit dem Anflug eines Lächelns zu Moni und Holger: „Toll – aber irgendwie kaum zu glauben! Auf Wiedersehen!"

    „Immer gerne", antwortete Moni, nickte ihr zu und musterte dabei den BMW samt seinem Besitzer argwöhnisch.

    „Jetzt können wir. Und glauben Sie mir, ich bin schon sehr gespannt."

    Alma wollte nach ihrem Koffer greifen, aber Herr Lenk war schneller.

    „Ich schlage vor, sagte er, „wir verstauen Ihren Koffer im Auto und besichtigen zunächst das Haus. Danach fahren wir in die Kanzlei und besprechen alles Notwendige. Sie haben dann bereits einen ersten Eindruck vom Gegenstand der Nachlasssache und können mithilfe der Informationen, die Sie von mir erhalten, erste Überlegungen anstellen. Ich darf Ihnen meine Karte geben?

    Alma nahm die Visitenkarte. „Benjamin Lenk, Rechtsanwalt, Kanzlei Rottloff und Kollegen, Rechtsanwälte und Notare" las sie.

    Als sie aufblickte, ging Herr Lenk bereits auf das Haus zu. Alma beeilte sich, zu ihm aufzuschließen. Er zog einen Sicherheitsschlüssel aus der Hosentasche und bog um die Ecke in Richtung Hauseingang.

    „Vorsicht!", wollte Alma noch rufen, aber sie sah, dass auf dem Bürgersteig neben der Ampel im Moment keine Gefahr drohte, alles stand auf Rot und nichts bewegte sich.

    KAPITEL 2

    Im Zug von Berlin nach Weimar hatte Alma die beiden Briefe mehrmals aus dem Rucksack geholt und durchgelesen. Doch das Schreiben des Nachlassgerichts sagte ihr ebenso wenig wie das der Anwaltskanzlei.

    Sicher, sie erinnerte sich an Onkel Ewald, der eigentlich der Onkel ihrer Mutter gewesen war. Damit war er ihr Großonkel, oder? Und der Bruder ihrer Oma, oder der Halbbruder? In Omas Familie gab es, so fiel ihr wieder ein, einige „Brüche", wie ihre Mutter bisweilen mit verschmitztem Lächeln zu bemerken pflegte. Oma hatte auch zwei unterschiedliche Familiennamen besessen, bevor sie Opa heiratete, einen als Kind und einen als junge Frau. Das hatten die Kränzchentanten einmal ausgeplaudert, als Alma bei Oma war. Opa lebte zu dieser Zeit wohl schon nicht mehr.

    Omas Mutter, also auch Onkel Ewalds Mutter, hieß auch Alma und war, so der einhellige Tenor aller Erzählungen „von früher, eine wunderbare Frau und exzellente Köchin gewesen. Sie hatte im Haus des Direktors einer bekannten Porzellanfabrik in Thüringen gedient und gekocht, woran ein Großteil des guten Geschirrs in Omas Büfett erinnerte. So war Almas Vorname eigentlich feinsten menschlichen Ursprungs, was sie allerdings in ihrer Kindheit nicht immer anzuerkennen imstande war. In einer Zeit, in der die Mädchen Angela, Jacqueline (Schacklin gerufen und auf der ersten Silbe betont) oder Mandy hießen, hätte Alma lieber auch einen „modernen Namen gehabt. Später allerdings, als die Generation der Paulas, Lucies und Marias heranwuchs, war sie als Alma unauffällig geworden.

    Onkel Ewald, daran erinnerte sie sich inzwischen, war „ein hohes Tier", das jedenfalls pflegten Opa und Oma von ihm zu sagen. Ab und zu war sein Name in der Zeitung zu lesen, manchmal sogar neben oder unter einem Bild. Auf den Fotos stand Onkel Ewald an einem Rednerpult oder schüttelte anderen Männern die Hand, immer in Schlips und Anzug. Sein wallender weißer Haarschopf hob ihn meist aus den älteren und schütteren Köpfen hervor.

    Nachdem ihre Großeltern gestorben waren, hatte es keines der großen Familienfeste mehr gegeben, bei denen sich die Generationen trafen. Und nach dem Tod ihrer Mutter hatte Alma nichts mehr von Onkel Ewald gehört. Sicherlich war er nach der Wende auch aus den Zeitungsberichten verschwunden, aber das vermutete Alma mehr, als sie es wusste. Sie war nach Göttingen zum Studium gegangen und hatte ihr Leben an anderen Orten weitergelebt. Nach Thüringen war sie seit Jahren nicht mehr gekommen.

    Dass sie jetzt seine Erbin sein sollte, war schwer zu glauben. Kinder hatte Onkel Ewald nicht gehabt, das stimmte, aber Tante Lise war doch seine Frau gewesen, oder? Möglicherweise war sie aber vor ihm gestorben, offensichtlich sogar. Und wieso besaß Onkel Ewald ein Haus in Weimar? Ein „Torhaus"? Er hatte doch immer in der Bezirksstadt gelebt, in seiner großen Blockwohnung im neunten Stock, mit Fahrstuhl, wie Oma nicht ohne Neid zu erzählen wusste.

    Onkel Ewald war gestorben, vor vielen Wochen schon. Es hatte wohl gedauert, bis das Nachlassgericht sie, Alma, ausfindig gemacht hatte. Die Kanzlei Rottloff und Kollegen, Rechtsanwälte und Notare, war mit der Abwicklung der Formalitäten betraut worden und hatte sie nach Weimar eingeladen. Dort, so hoffte sie, würde sie auch etwas mehr über Onkel Ewalds letzte Lebensjahre und die Umstände seines Todes erfahren.

    Alma faltete die beiden Briefe wieder zusammen und verstaute sie in ihrer Handtasche. Die letzte Station war Naumburg gewesen, die nächste würde Weimar sein, Zeit also, Buch und Zeitungen zu verpacken, den Mantel überzuziehen und sich ins Abenteuer einer rätselhaften Erbschaft zu stürzen.

    Benjamin Lenk drehte den Schlüssel im Schloss der Eingangstür zweimal um und öffnete das Haus. „Ich gehe voran, es ist alles etwas … nun, unwirtlich, um es vorsichtig auszudrücken. Vorsicht, nicht stolpern, es liegt einiges herum."

    Er stieg mit großen Schritten über mehrere Kartons und Müllsäcke.

    „Das Haus hatten bis zum Ende des Semesters noch Studenten angemietet, als Arbeitsräume und manchmal auch für diverse Feiern, vermute ich. Das war alles noch über Ihren Onkel, Herrn Arnheim, gelaufen. Die Studenten sind inzwischen ausgezogen, haben aber nicht alles wegschaffen können. Die Diplomarbeiten, die Prüfungen, die Partys – na, Sie können sich das vorstellen. Irgendwann demnächst wollen sie die Reste entsorgen, das haben sie mir versprochen."

    Alma schaute sich um. Sie standen in einem kleinen Flur, von dem nach rechts und links geräumige Zimmer abgingen. Sie hatten keine Türen, und statt der Zwischenwände standen nur noch die Stützbalken. Die waren schön dick, Eiche vielleicht, und sahen gut erhalten aus. Alma betrat das linke Zimmer. Es war tatsächlich erstaunlich groß. Durch vier Fenster kam ausreichend Licht nach innen, eines davon ließ im Moment Sonnenstrahlen herein. Alma ging durch den Raum und schaute nach draußen, zuerst zur Ampelkreuzung, dann zum Bürgersteig mit BMW und zuletzt zur Hecke, hinter der sich der Busbahnhofskiosk befinden musste. Doch davor – Alma bekam große Augen – sah sie einen winzigen Garten, der zwar vollkommen verwildert war, aber, umschlossen von der mannshohen Hecke, einen verwunschenen Eindruck machte.

    „Das Torhaus hat eine interessante Geschichte, vielleicht haben Sie ja die Tafel neben der rechten Säule bereits gelesen?"

    „Nein, habe ich nicht, erwiderte Alma und konnte den Blick nur schwer von dem kleinen Garten wenden. „Ich vermute, es war irgendwie ein Tor in einer früheren Stadtmauer?

    „Nicht ganz. Mitte des achtzehnten Jahrhunderts wurde die Stadt entfestigt, das heißt, die Stadtmauer wurde im Wesentlichen abgerissen. Trotzdem sollten ja an den großen Zufahrtsstraßen, zum Beispiel der Erfurter Straße von Westen, weiterhin Chaussee- und Pflastergelder kassiert werden. Die später gebauten Torhäuser dienten dem Wachpersonal als Unterkunft. Dieses hier wurde vom Architekten Clemens Wenzeslaus Coudray gebaut, der zur Goethezeit hier lebte und so etwas wie der Chefarchitekt des Großherzogs Carl August war. Später war das Gebäude Stationsgebäude der Berkaer Bahn. Einen Berkaer Bahnhof gibt es übrigens heute noch in der Erfurter Straße, einige Hundert Meter von hier."

    Gut vorbereitet, dachte Alma. Sie löste sich vom Blick in den Garten und folgte Benjamin Lenk in das gegenüberliegende Zimmer. Es schien spiegelgleich, hatte aber statt der Fenster in der Längswand eine Tür. Der Anwalt öffnete sie und zeigte ihr einen weiteren recht großen Raum. Hier gab es allerdings nur kleine Fenster, alles schien dunkler und roch auch ein wenig muffig.

    „Irgendwann wurde dieser Anbau errichtet, zu welchem Zweck auch immer. Ich sehe, Sie riechen es auch, ist wohl der Zahn der Zeit. Vielleicht hilft ja kräftiges Lüften."

    Alma wollte schnell noch zurück zum zweiten Gartenblickfenster gehen, aber ihr Torhausführer war schon nicht mehr zu sehen.

    „Kommen Sie, wir schauen noch ins Obergeschoss. Hier, die Treppe hinauf, aber seien Sie vorsichtig, bei dem Geländer bin ich mir nicht so sicher!"

    Eine Holztreppe mit einem schön geschwungenen, wenn auch sehr staubigen Geländer führte nach oben. Auf dem oberen Treppenabsatz sah Alma eine Kochplatte auf einer Art Küchenschrank, hier hatten die Studenten wohl gekocht. Sie schaute nach links und holte tief Luft. Wow! Ihr Blick fiel in ein Dachzimmer, mit schrägen Wänden an beiden Seiten und einem wunderschönen breiten Bogenfenster an der Stirnwand. Durch die Scheiben war eine gelbe Hausfassade mit mehreren Fensterreihen zu sehen – das musste die Erfurter Straße mit der Ampelkreuzung sein. Nur wenig leiser als vorher hörte sie die Geräusche der vorbeifahrenden Autos und erneut den Klang einer Sirene. Entweder hatte Weimar ein hohes Unfallrisiko, dachte sie erstaunt, oder eine schnelle Polizeitruppe oder beides.

    Sie blickte sich im Zimmer um. „Schauen Sie doch, hier sind noch Wandöffnungen auf jeder Seite, sieht fast aus wie Geheimtüren. Wo die wohl hinführen? Können wir sie öffnen?" Alma ging auf eine der beiden Brettertüren zu.

    „Vorsicht, lassen Sie mich versuchen. Hier muss man mit allem rechnen."

    Benjamin Lenk drückte die rostige und wackelige Klinke vorsichtig nach unten und schob die Tür auf. „Ich sehe nicht viel, ist wohl eine Bodenkammer. Oder das Refugium der Hausmäuse, wer weiß?"

    Alma lachte. „Am besten, Sie lassen mich mal einen Blick … na gut, man sieht nicht viel. Aber wer weiß, was die Torwächter hier hinterlassen haben?"

    „Liebe Frau Winter, es steht leider eher zu befürchten, dass es sich um Hinterlassenschaften der Studenten handelt. Aber das wird sich mithilfe einer Taschenlampe – die ich jetzt nicht bei mir habe – später verifizieren lassen. Ich wollte Ihnen ja zunächst einen ersten Eindruck vermitteln."

    Er zog die Tür zu und ging zur gegenüberliegenden Wand. Die dort befindliche Tür ließ sich nicht öffnen. „Irgendwer wird einen Schlüssel haben. Ich kümmere mich, Frau Winter."

    Alma bemerkte, dass der Anwalt nicht sehr diskret auf seine Armbanduhr schaute, und folgte ihm mit Bedauern die Stufen hinab. Am Fuß der Treppe hielt sie jedoch inne und schaute zu Benjamin Lenk auf: „Aber in den Garten können wir doch schnell noch gehen?"

    „In den Garten? Ah, Sie meinen den verwilderten Hinterhof – da muss ich sehen, ob der Schlüssel passt." Er versuchte es mit dem einzelnen Sicherheitsschlüssel, aber Alma sah gleichzeitig mit ihm, dass es sich um einen alten, stark angerosteten Türbeschlag handelte.

    „Ich kümmere mich auch darum, Frau Winter. Nachher rufe ich gleich einen der Mieter an, das muss sich ja irgendwie klären. Auch das Fahrrad vor der Haustür sollte doch irgendeinen Besitzer haben. Glauben Sie, dass Sie fürs Erste genug gesehen haben? Hinreichend eingestaubt sind wir beide auf jeden Fall." Damit musterte er seine grau überzogenen Schuhe und klopfte ein wenig an seinem Jackett herum.

    Alma hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Sie ließ ihren Blick nochmals umherschweifen und sah jetzt, in welch schlechtem Zustand sich alles befand, sowohl die fleckigen Wände und Decken als auch die brüchigen Fensterrahmen, Fußböden und Türen. Und trotzdem – tapfer durchgehalten, mein Torhaus, dachte sie bei sich, drehte sich um und folgte dem Anwalt nach draußen.

    Die Anwaltskanzlei Rottloff befand sich in einer Stadtvilla. Dr. Lenk parkte das Auto auf einem Hof mit mehreren Stellplätzen und einer kleinen, offenbar frisch bepflanzten Grünanlage mit Büschen und jungen Bäumen. Sie betraten das Haus, in dem sich die Kanzleiräume im Erdgeschoss befanden. Benjamin Lenk öffnete eine Tür und ließ Alma vor sich eintreten. Dies war wohl das Vorzimmer der Kanzlei.

    „Na, wie geht es denn unserem Paul, Herr Lenk?"

    Die Frau, die gerade aus einer weiteren großen Tür mit ebenfalls zwei Flügeln ins Zimmer trat, erschien Alma wie der Inbegriff der Anwaltssekretärin. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm mit weißer Bluse, schwarze Schuhe mit kleinem Absatz, eher bequem als modisch, und war tadellos frisiert.

    „Alles im grünen Bereich, Frau Rottloff. Ein paar Schrammen, die sind jetzt schön blütenweiß verbunden, und einen tüchtigen Schreck, mehr hat er zum Glück nicht davongetragen."

    „Na, da soll er in den nächsten Tagen unbedingt mit Papa bei uns vorbeischauen, das muss doch alles haarklein berichtet werden. Und wir wollen es aus erster Hand, nicht wahr, Jörg?"

    „Unbedingt", erklang eine Stimme aus dem Hintergrund. Sie gehörte zu einem schlaksigen jungen Mann in dunkler Anzughose und hellgrauem, exakt gebügeltem Hemd, der der Schule noch nicht lange entwachsen sein konnte. Er trug eine Krawatte, die man nur abenteuerlich nennen konnte – Regenbogenfarben mit aufgedruckten Gegenständen. Alma konnte Autos, Bohrmaschinen, Hämmer und Schrauben erkennen.

    „Darf ich vorstellen, Dr. Rottloff, Senioranwältin dieser Kanzlei – Frau Winter, unsere Klientin in der Torhaussache. Und Jörg Vollmer, unser Anwaltssekretär. Nun ja, es nennt sich heute anders, wie doch gleich, Jörg?"

    „Rechtsanwaltsfachangestellter. Aber, Sie wissen doch, Dr. Lenk, Anwaltssekretär ist schon in Ordnung – passt auch gut zu unserer holzgetäfelten Kanzlei. Darf ich Ihnen etwas anbieten, Frau Winter, Tee, Kaffee, Wasser? Oder Kombinationen davon?"

    Alma war erleichtert über den freundlichen und lockeren Ton, mit dem sie begrüßt wurde. Sie lächelte dem jugendlichen „Sekretär" zu, bat um Kaffee und Wasser und schaute zu der Frau, die als Dr. Rottloff vorgestellt worden war. Von wegen, typische Sekretärin, dachte sie, da bist du möglicherweise um ein tiefes Fettnäpfchen herumgekommen, Alma.

    Die Anwältin schaute sie jetzt konzentriert an und sagte in leicht verändertem, nun recht sachlichem Ton: „Frau Winter, geben Sie doch bitte Herrn Vollmer noch Ihren Personalausweis. Darf ich Sie dann in mein Büro bitten? Herr Lenk und ich werden jetzt das Testament eröffnen. Keine Bange, fügte sie hinzu, als ob sie Almas Anspannung spürte, „Sie müssen zunächst nur zuhören. Und glauben Sie mir, nichts Schlimmes kommt auf Sie zu. Eher das Gegenteil.

    Die letzten Worte klangen aufmunternd und weniger formell, so dass Alma innerlich noch ein wenig mehr aufatmete. Ein Tablett mit Thermoskanne, Wasserflasche, Geschirr und einem Teller mit Keksen wurde von Sekretär Jörg mit der Andeutung einer Verbeugung auf den Tisch gestellt, und Dr. Lenk bat Alma Platz zu nehmen. Er verteilte Tassen und Gläser, goss Wasser und Kaffee ein und ermunterte sie zuzugreifen. Dr. Rottloff holte indessen eine dünne Akte von ihrem Schreibtisch. Sie setzte sich gegenüber, öffnete die Akte, nahm einige lose Blätter in die Hand und begann, den Text zu verlesen.

    KAPITEL 3

    „Eine Bohnensuppe, und danach den Bauernsalat. Dazu nehme ich ein Wasser und ein Viertel von Ihrem Hauswein … Ja, vom Roten bitte."

    Alma saß im griechischen Restaurant am anderen Ende der Busbahnhofstraße. Es befand sich direkt gegenüber einer Kirche, die Alma am Mittag nicht aufgefallen war. Sie war wohl von den Laubbäumen verdeckt gewesen.

    Der Platz unmittelbar vor der Kirche, war eher eine verbreiterte Fahrbahn und Alma hatte Mühe gehabt, eine Lücke im lebhaften Feierabendverkehr zu finden, um wieder in die Hoffmannvon-Fallersleben-Straße zu gelangen. Das Kirchenportal war geöffnet gewesen, aber Alma hatte nach einem kurzen Blick ins Innere beschlossen, sich später etwas mehr Zeit für die Besichtigung zu nehmen. „Herz-Jesu-Kirche" hatte sie im Schaukasten mit den Ankündigungen noch gelesen, und dass es eine katholische Kirche war. Alma war jetzt stärker von dem schneeweißen antiken Torbogen angezogen worden, der – auf Gasbetonsteinen ruhend – den Eingang des Restaurants umrahmte. Immerhin, hatte sie gedacht, so wusste man schon von Weitem, welche Küche einen erwartete.

    Jetzt saß sie im gemütlichen Erker der Gaststätte, und Wein und Wasser waren inzwischen gebracht worden. Außer ihr war nur ein weiterer Gast da, der sich gerade angeregt mit dem Wirt, oder Kellner, unterhielt – wohl einer der Stammgäste. Alma saß plötzlich ganz still und ihr wurde erneut ein wenig schwindlig bei dem Gedanken an das, was ihr heute passiert war. Nun gut, passiert im eigentlichen Wortsinn war nichts, aber geschehen schon, ihr geschehen nämlich.

    Dr. Rottloff und Dr. Lenk hatten ihr in Einzelheiten erläutert, was in dürren juristendeutschen Sätzen in jenem Brief stand: Sie hatte geerbt. Sie war Ewald Arnheims Alleinerbin. Sie hatte ein Haus in Weimar geerbt, das Torhaus in der Erfurter Straße Nummer eins.

    Dem Verlesen des Testaments hatte sie zwar akustisch folgen können, aber der Text enthielt neben verständlichen Teilen solche, deren Sinn sie entweder nur ahnen konnte oder überhaupt nicht verstand. Die beiden Anwälte hatten Almas Fragen danach geduldig beantwortet.

    Sie würde Besitzerin des Torhauses werden. Zum einen bestünde das Erbe aus einem Geldfonds, aus dem sie Zahlungen erwarten dürfe. Ja, dies würden regelmäßige Zahlungen sein, die für eine festgelegte Zeitspanne ihren Unterhalt absicherten. Eine Art Gehalt. Zum anderen würden dies unregelmäßige, zweckgebundene Zahlungen sein, die sie nach Belieben und Notwendigkeit abrufen könne. Der Zweck war die vollständige und sorgfältige Restaurierung des Torhauses. Richtig, das würde für absehbare Zeit ihre Aufgabe sein und dafür bekäme sie ihr „Gehalt". Danach könne sie natürlich, wenn sie wolle, auf Lebenszeit im Torhaus wohnen, denn es sei ja ihr Eigentum. Die Gehaltszahlungen an sie würden nach beendeter Sanierung zwar eingestellt. Für den Unterhalt des Gebäudes, für später notwendige Reparaturen und bauliche Maßnahmen allerdings sei finanziell vorgesorgt, da müsse sie sich keine Sorgen machen.

    Die Kanzlei stünde ihr außerdem als juristische Begleitung bei Bedarf zur Seite (Vertrauen weckender Blick aus zwei Anwaltsaugenpaaren). Auch dafür sei die Kostenfrage bereits mit dem Testament geklärt. Ihr Ansprechpartner wäre Dr. Lenk, und sie möge in allen Fragen und bei allen möglichen Problemen nicht zögern, ihn anzusprechen.

    Ihr Gehalt würde der Aufgabe angemessen bestimmt. Ewald Arnheim hätte diesen Aspekt in die Hände der Kanzlei gelegt, um auf Veränderungen reagieren zu können, die Zeit und gegebenenfalls Inflation nach Abfassung des Testaments mit sich gebracht hätten und noch bringen könnten. Dr. Rottloff hatte eine Summe genannt, die sie ob ihrer komfortablen Höhe kurz schlucken ließ. Zwar hatte Alma versucht, sich nichts anmerken zu lassen, aber sie war sich sicher, dass ihr anschließendes tiefes Luftholen nicht unbemerkt geblieben war.

    Über ihren Onkel könne man ihr über die Aktenlage hinaus nicht viel mehr sagen. Seine letzte Postadresse sei Weimar gewesen. Das Testament sei auch in dieser Kanzlei, die gleichzeitig Notariat war, hinterlegt worden, die letzte Fassung Ende der neunziger Jahre. Damals habe der Vater der Anwältin, Dr. Rottloff Senior, die Kanzlei noch geführt. Vielleicht erinnere er sich ja an Einzelheiten. Bei Wunsch könne man bei ihm anrufen und Alma gegebenenfalls einen Termin vermitteln. Alma hatte bei „Wunsch" heftig genickt.

    Und, das solle sie immer vor Augen haben, natürlich könne sie die Erbschaft ausschlagen. Es gäbe da eine gesetzlich bestimmte Frist, die ihr das Nachlassgericht mitgeteilt hätte. Für diesen Fall wären im Testament weitere Vorkehrungen getroffen, die mit ihr, Alma, allerdings nicht besprochen werden müssten.

    „Die Bohnensuppe – und guten Appetit!"

    Alma dankte dem Wirt und widmete sich dem Essen. Es war eine dunkelrote kräftige Suppe mit großen weißen Bohnen darin. Dazu gab es Weißbrot. Sie nahm einen weiteren Schluck vom Rotwein und spürte, wie der Alkohol wirkte und ihr ein Gefühl von Wärme und nunmehr wohligen Schwindels vermittelte.

    Genau genommen war das vermeintliche Problem doch ein ganz angenehmes, dachte sie, während sie die Suppe löffelte. Sie würde für die Zeit der Sanierung keine Geldsorgen haben. Sie hätte eine Aufgabe, von der sie allerdings im Moment keinerlei konkrete Vorstellung besaß. Nun, das würde sich zeigen. Ein denkmalgeschütztes Gebäude wäre zu sanieren, da sollten doch Fachleute und Handwerker zu finden sein, die das in ihrem Auftrag und mit Onkel Ewalds – nein ihrem, Almas – Geld würden erledigen können.

    Sie malte sich aus, wie es sein würde, wenn sie in das fertige Haus einziehen könnte. In ihr eigenes Haus! Das Zimmer im Obergeschoss würde ihr Schlafzimmer werden. Nun gut, ein Vorhang vor dem Fenster würde sich nötig machen, die Bewohner des gegenüberliegenden Hauses hätten sonst ungehinderte Sicht in ihr Allerheiligstes. Unten würde sie eine große offene Wohnküche einrichten, mit einer Kochinsel, wenn es der Platz zuließe, und einem großen Tisch für viele Gäste. Solche Küchen sah man in Zeitschriften, mit modisch gekleideten schlanken Frauen am Herd, oder neuerdings auch öfter mit gut aussehenden Mittdreißigern männlichen Geschlechts, die ihrer Liebsten – in mutigen Einzelfällen ihrem Liebsten – oder wahlweise einer Gruppe fröhlicher Freunde zulächelten und gleichzeitig mit den frischsten und buntesten Zutaten etwas Exotisches kochten.

    Wie beim Stichwort genommen brachte der Wirt ihren Bauernsalat, einen großen Teller mit verschiedenen Blattsalaten, Paprika, Tomaten und Gurke, bedeckt mit einer Schicht geraspeltem Schafskäse.

    „Darf ich Ihnen noch einen Rotwein bringen?"

    „Sie dürfen", antwortete Alma fröhlich.

    Ihre Beklemmung von vorhin schien wie weggezaubert, sie fühlte sich leicht und zuversichtlich. Sie aß den Salat und wischte mit Brot einen Rest Dressing vom Teller. Als die zweite Karaffe mit Wein kam, befiel sie für einen Augenblick die Einsicht, dass sie sich gerade kräftig betrank. Aber sie hatte doch eine gute Grundlage, sogar mit Vorsuppe und viel Brot, da konnte wohl nichts passieren.

    Wie war doch gleich der Stand ihrer Planung? Ah ja, sie war im Erdgeschoss. Im Raum gegenüber der Küche würde sie eine Art Wohn- und Arbeitszimmer einrichten, am liebsten mit einigen Designermöbelstücken, schließlich war sie der Wiege des Bauhauses jetzt nahe, verpflichtete das nicht? Ein Bad müsste noch irgendwo untergebracht werden, vielleicht im Anbau, da schien reichlich Platz zu sein.

    Ach, und der Garten! Das würde der allerschönste Teil des Projekts Wohnen im Torhaus werden, da war sie sich sicher. Eine Terrasse müsste gebaut werden, oder sollte sie nur einen gepflegten Rasen anlegen lassen, mit einigen Sträuchern, die nacheinander im Lauf des Sommers in leuchtenden Farben blühten?

    Das zweite Viertel vom Rotwein war fast geschafft und sie beschloss, ihrer inneren Stimme der Vernunft zu folgen.

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