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Der einsame Mann
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eBook270 Seiten4 Stunden

Der einsame Mann

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Über dieses E-Book

Der Oberst Freiherr von Rettberg, der sein Leben lang Junggeselle gewesen ist, wohnt nach Ende seiner Dienstzeit zur Miete bei der Witwe Hilde Arndt. Schnell schließt er ihren kleinen Sohn Hans-Helmut ins Herz und wird ihm wie ein Vater. Der begabte Hans-Helmut besucht das Gymnasium und geht danach zum Studieren nach Bonn und später nach Berlin, was durch die Großzügigkeit Rettbergs ermöglicht wird. Anfangs schreibt der Sohn noch regelmäßig, doch das Berliner Leben zieht ihn in seinen Bann und er verstrickt sich in allerlei Liebeleien. Als er ernsthaft erkrankt, schickt seine Mutter ihre junge hübsche Magd Maria Kaspers aus dem Dorf nach Berlin, um den Sohn gesund zu pflegen. Beide werden ein Paar. Dass Maria eines Tages ein Kind erwartet, stürzt Hans-Helmut in eine Lebenskrise und er sieht keinen Ausweg mehr als den Freitod. Wenig später stirbt auch seine Mutter. Der alte Oberst fasst einen schwerwiegenden Entschluss.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum9. Okt. 2015
ISBN9788711466810
Der einsame Mann

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    Buchvorschau

    Der einsame Mann - Clara Viebig

    Saga

    Erstes Kapitel

    Wenn jetzt der Oberst Eugen Freiherr von Rettberg durch die Strassen des kleinen Städtchens stapfte, drehte sich keiner mehr nach ihm um. Man war an ihn gewöhnt, nun kannten ihn alle. Er ging immer langsam, er hatte ja Zeit, ihn erwartete keine drängende Arbeit. In den hohen Reiterstiefeln, die er stets trug, wie damals im Dienst, und mit der gleichen Haltung wie vor dem Regiment, machte er noch immer gute Figur. Von weitem konnte man ihn für einen jungen Mann halten, nur wenn man von nah sein Gesicht sah, die Falten, die wie eingegraben von der Nase herab zum Kinn liefen und die Mundwinkel herabzogen, merkte man’s: der hatte die Mitte des Lebens schon hinter sich. Er wurde respektvoll gegrüsst — ein Freiherr, ein Oberst! — die Schüler des Gymnasiums zogen die bunten Mützen, einzelne kleine Jungen, die auf der Strasse Kreisel schlugen oder mit Murmeln in den Löchern des holprigen Pflasters spielten, kamen sogar herzugelaufen und gaben ihm die Hand. Und er nahm die kleinen schmutzigen Hände, lächelte ein bisschen und sagte: »Morjen«.

    Der Baron war kinderlieb; sonst hätte er vielleicht auch nicht bei Frau Doktor Arndt gemietet. Die wohnte ziemlich weit draussen, so weitab, dass winters bei schlechtem Wetter ihr Hans-Helmut öfter einmal nicht zur Schule kam. Das heisst, gekonnt hätte er das schon, andere Kinder kamen sogar aus Nachbardörfern viel weiter her zur Schule. Verdenken konnte man es der Mutter aber nicht, dass sie ängstlich war, ihr Mann war so rasch weggestorben, plötzlich nach einer schweren Erkältung an galoppierender Schwindsucht. Sie, die feine Frau, der man noch immer die grosse Dame anmerkte — sie sollte aus vornehmem Hause sein und sich gegen den Willen ihrer Familie mit dem einfachen Doktor verheiratet haben —, musste nun draussen vor der Stadt in das kleine Häuschen ziehen, weil das billig war, und an Sommergäste vermieten.

    Das Haus hatte eine schöne Lage; es stand auf einer hohen Ummauerung, unten führte die Strasse vorbei, hinter ihm stieg der Berg steil auf und an ihm, in Terrassen gebaut, hingen Gärten und Gärten, in denen es in fast südlicher Fülle blühte. Goldene Trauben reiften, Mirabellen, Aprikosen, Pfirsiche, Quitten und Mispeln, allerlei Obst, das viel Sonne braucht.

    Als der Baron vom Hotel, wo er Wohnung genommen hatte, am Fluss entlang hier vorbeigeschlendert war, hatte er gar nicht die Absicht gehabt, in eine Privatwohnung zu ziehen; er konnte ja im Gasthaus wohnen bleiben, seine Pension und die Zinsen seines kleinen Vermögens reichten schon aus, und man war da auch bedeutend ungenierter. Und doch zog er die Klingel, die Blumentöpfe am Fenster sahen so freundlich aus.

    Die Frau Doktor öffnete selber; sie hatte den Milchmann erwartet, nun war sie erschrocken, einen Herrn zu sehen. Hätte sie das geahnt, würde sie nicht aufgemacht haben, ehe sie wenigstens über ihren Kattunmorgenrock noch den seidenen Schal geworfen hatte. Ein verlegenes Rot stieg in ihr Gesicht, das welk war wie eine müde Blume. Sie war einmal schön gewesen; aber jung war sie schon nicht mehr, als sie heiratete, und nun hatten der Kummer und die Sorgen des Alltags das letzte von Jugend weggewischt.

    Der Baron war erstaunt, dass sie, als eine Tür knarrte und ein Knabe neugierig den Kopf durch den Spalt steckte, sagte: »Mein Sohn!« Er hätte »Enkel« erwartet.

    »Hans-Helmut, sage guten Tag!«

    Artig verneigte sich der Knabe. Er hatte schöne, sehr dunkle sanfte Augen; den Oberst erinnerten sie plötzlich an allerlei schöne Augenpaare, die er früher in seiner flotten Zeit bewundert hatte.

    »Wie alt bist du, mein Sohn?«

    »Sieben Jahr.« Leise klang die Kinderstimme, und wie ein errötendes Mädchengesicht war das Knabenantlitz.

    Der Oberst sah die zu vermietenden Räume an: ein kleines Wohnzimmer im ersten Stock, ein noch kleineres Schlafzimmer. Aber vom Wohnzimmer aus sah man den Fluss, jenseit der Strasse, langsam und schmeichelnd vorbeifliessen, sah grosse Nussbäume und drüben am anderen Ufer die Weinberge. Vom Schlafzimmer sah man in den kleinen Berggarten, sah die wuchernde Rosenhecke, die Geissblattlaube, Salat, Gemüse, Suppenkräuter, mitten dazwischen blühenden Phlox und feurige, stark duftende Nelken.

    »Sie könnten den Garten so gut wie für sich allein haben,« sagte die Frau. »Mein Sohn wird Sie nicht weiter stören, er ist ein stilles Kind.«

    »Er stört mich nicht.« Der Baron versprach morgen wieder zu kommen und liess seine Karte da. Auf dem Rückweg überlegte er: es war am Ende doch zu weitab. Für den Sommer freilich schön — aber im Winter?! Sehr unbequem. Und ob es sich gut heizte? Danach hatte er gar nicht gefragt. Angenehm war es auch nicht, so als einsamer Junggeselle nur auf diese langweilige verscheuchte Frau angewiesen zu sein. Es war wohl besser, er wohnte im Gasthof, wenn er überhaupt in diesem Nest blieb; das wurde ihm auf die Dauer vielleicht doch zu langweilig. Aber hingehen würde er noch einmal und gleich absagen, damit die Dame sich nicht etwa anderes verschlug. — —

    Dieses Mal brauchte er nicht zu läuten. Auf der Treppenstufe vor der Tür sass der Knabe, er war ganz umflossen von Sonnenlicht. Es war so warm hier auf der kleinen Plattform vorm Haus, weiche Luft tändelte und hob die dunkle Locke auf des Knaben Stirn, die kraus gezogen war. Die Schiefertafel auf den Knien, den Griffel in der Hand sass er da, Schweiss perlte ihm auf der Stirn, Tränen standen ihm in den Augen: ach, diese Aufgabe brachte er nicht heraus! Und gestern hatte er schon nachsitzen müssen, weil sein Rechnen falsch war! Hilflos, verwirrt sah er den Herrn an. Als dieser fragte: »Na, lass mal sehen! Na, wieviel ist denn siebzehn durch drei?« stürzten die Tränen.

    Wie zwei Kameraden sassen sie dann auf der Treppenstufe und rechneten die Aufgabe aus. Der Knabe war glückselig, seine Schüchternheit schwand, vertraulich schmiegte er sich an den Retter: »Wenn Sie mir’s erklären, versteh ich es ganz gut. Helfen Sie mir morgen wieder? Sie helfen mir alle Tage, nicht wahr?«

    Und der Junggeselle mietete die Zimmer. Mit dem, was ihm anfänglich nicht so gefiel, hatte er sich bald abgefunden. Die Frau Doktor war gar nicht übel, sie war wirklich eine Dame. Von dem Augenblick an, da Frau Arndt seine Karte in Händen gehalten hatte, war sie auch nicht mehr so verscheucht und zurückhaltend: endlich einmal wieder einer aus ihren Kreisen. Sie fühlte sich ihm näher als den anderen hier, trotzdem sie die doch alle viel länger kannte. Man fand sogar einige gemeinsame Bekannte heraus; freilich Menschen, die man vor Jahren nur flüchtig gestreift hatte, aber es waren Berührungspunkte, sie gaben Unterhaltungsstoff.

    Es war Rettberg höchst peinlich gewesen, dass die Frau Doktor selber seine Zimmer aufräumte und sein Bett machte. Er war ein pedantisch ordentlicher Mensch und liess nichts herumliegen, aber jeden ausgezogenen Strumpf, jedes gewechselte Hemd konnte man doch nicht sofort beiseite schaffen. Hätte er geahnt, dass kein Dienstbote vorhanden war, nie hätte er hier gemietet. Gleich am ersten Morgen machte er diese unliebsame Entdeckung. Er war früh aufgestanden, er hatte nicht sonderlich geschlafen. Die Härte des Bettes hatte ihn nicht am Schlafen gehindert, als alten Soldaten störte ihn die nicht, im Gegenteil, sie erinnerte ihn an Feldbetten; aber wenn man über die Fünfzig ist, muss man sich die erste Nacht immer an’s neue Bett gewöhnen. Doch angenehm still war es hier.

    Er stand vorm kleinen Spiegel und bürstete das dichte grau gesprenkelte Haar mit Brillantine, bis es sich glatt und glänzend, wie angeklebt an den Schädel legte; und dann wichste er den starken Schnurrbart, den er immer trug, nicht bloss weil es jetzt die Mode war, und zwirbelte ihn in zwei spitzen Enden auf. In wollenem Unterhemd und Hosenträgern ging er dann zur Tür, vor die er spät abends seine Reiterstiefel gestellt hatte. Er wollte gleich hinunter in den Garten gehen.

    Der lag köstlich erfrischt da in der Morgenfrühe. Ein Duft von Tau und Blumen stieg lockend hinauf durchs offene Fenster. Von fern krähten Hähne, von irgend woher rief eine Turmuhr mit dunkler Stimme: »Fünf«.

    Die Stiefel waren nicht da. Natürlich so früh war so ein faules Dienstmädchen noch nicht auf! Er würde sich’s ausbitten, dass seine Stiefel noch gleich am selben Abend geputzt wurden, seine Burschen hatten das immer so gemacht, darauf hatte er gehalten. Die Stirn des Mannes, die der schöne Morgen heiter angeglänzt hatte, verfinsterte sich: zum Donnerwetter, die Stiefel mussten auf ihn warten, nicht er auf die Stiefel! Da hörte er unten im Hausflur bürsten, emsig bürsten — aha, da war das Mädchen ja wohl am Werk!

    In Unterhemd und Hosenträgern neigte er sich über’s Treppengeländer: »Meine Stiefel!« Ein entsetztes Gesicht starrte zu ihm auf, und er fuhr ebenso entsetzt zurück: die Frau Doktor selber!

    Da stand sie im kurzen Unterrock, nur eine Hausschürze über dem Oberkörper, hatte seinen einen langen Stiefel wie eine schwarze Röhre über den Arm gezogen und wichste, wichste.

    Das war doch ausser ’m Spass! Eine Dame putzte ihm die Stiefel und er in Unterhemd und Hosenträgern! Das fing ja gut hier an. Die Laune war ihm gründlich verdorben. Aber als er dann im tauigen Garten zwischen den Rabatten vorsichtig herumging, damit er nichts von den Blumen abtrat, die in dichten Bündeln, von den Küssen der Nacht befeuchtet, üppig und schlaftrunken über den Buchsbaumeinfass in den Weg hingen, fand er es doch sehr angenehm hier, so angenehm, dass er den Entschluss, nach einem Monat wieder auszuziehen, den er im ersten Ärger gefasst hatte, vorderhand fallen liess. Vielleicht war das Mädchen auch nur jetzt nicht da. — —

    Der Baron war auf dem Nachhauseweg, er hatte gut gespeist. Im Gasthof zum Deutschen Kaiser war auch eine ganz passende Tischgesellschaft: der Kreisarzt, der Amtsrichter, der Postverwalter, der junge Volontär einer grossen Weinfirma, und der Apotheker, der sich aber demnächst verheiraten wollte; alles gebildete Leute, die ihm mit grossem Respekt begegneten. Er hatte einen Schoppen von dem Mosel getrunken, den sie alle tranken — ein angenehmes Weinchen — und in der Tasche trug er ein Biskuit das er sich vom Nachtisch eingesteckt hatte; für den Jungen. Kuchen schien der ja nicht viel zu bekommen.

    Langsam schlenderte der Oberst, die Sonne schien heiss und glitzerte auf dem Fluss, dass dessen Oberfläche wie poliertes Silber glänzte, mit goldenen Spiegeln darauf. Eine halbe Stunde war es von der Stadt her zu gehen, aber unter den alten Walnussbäumen, die sich wie eine Allee am Ufer hinzogen, gab es Schatten. Die ausgebaute Burg, um deren Felskegel sich die krummen Gassen der Stadt gruppieren, schien auch goldene Funken zu sprühen. Ein Pfeifen spitzte die Lippen des behaglich Schlendernden; aber er pfiff doch nicht, das hätte sich schlecht für ihn gepasst. Eigentlich ein wunderschöner Ort, dieses Nest, trotz seiner kleinstädtischen Enge, ganz dazu angetan, einem alten Militär, der sich’s sauer hatte werden lassen im Dienst, und den man dann abgesägt hatte, bloss wegen eines kleinen taktischen Fehlers im Manöver, das Leben noch einmal angenehm zu machen.

    Was wohl der Junge zu dem Törtchen sagen würde? Der musste besser genährt werden, er war etwas bleich, nicht braun genug trotz der vielen Sonne hier, und seine Bäckchen waren schmal. Merkwürdig, wie rasch der Knabe sich an ihn angeschlossen hatte! Seit jener ersten Rechenaufgabe, bei der er ihm geholfen hatte, kam er jeden Tag: »Wollen wir jetzt rechnen?« Es schien ihm selbstverständlich. Auch die Handschrift von Hans-Helmut musste noch besser werden. Er selber übte sich jetzt täglich in schönen kalligraphischen Schnörkeln.

    »Eugen, du schreibst ja so, als ob eine Katze mit der Pfote übers Papier gekratzt hätte,« das hörte der Mann jetzt auf einmal wieder seinen Vater sagen. Das war schon so lange, lange her. Merkwürdig, bei dem Kind hier fiel dem Baron die eigene Kindheit wieder ein. Ein grossartiger Schüler und besonders lerneifrig war er gerade nicht gewesen, manches war ihm oft verdammt sauer geworden. Nun, war es denn nicht auch das reine Verbrechen, die armen Kinder, die man lieder die einzig glückliche Zeit des Lebens voll geniessen lassen sollte, mit übertriebenen Schulsorgen zu quälen? Wenn er Kinder hätte, er würde ihnen diese Zeit nicht verkümmern. Wenn er Kinder gehabt hätte. Warum hatte er denn eigentlich keine, warum hatte er sich nicht verheiratet? Das war gar nicht so schwer zu beantworten. Ein paar erste Ansätze waren nicht geglückt, und da waren ihm der Mut und die Lust vergangen. Man lebt ja auch, wenn man nicht reich ist, als Junggeselle viel sorgenfreier. In jungen Jahren hat man auch gar nicht so das Verlangen nach eigener Familie. Freilich, wenn man älter wird, wenn der Winter des Lebens kommt — der Mann blieb plötzlich stehen, mitten im Sonnenschein fühlte er ein kühles Wehen — dann ist es nicht schön, einsam zu sein!

    Als er ins Haus trat, das ihn dunkel und kühl umfing nach dem heissen Sonnenglanz draussen, weckte ihn die Stimme der Frau Doktor aus allerlei Träumereien. Sie hatte ihm aufgepasst, hinter der Küchentür kam sie jetzt vor.

    Es klang leise und gedrückt, und sie senkte dabei den Blick: »Herr Baron, ach, dürfte ich bitten, dass Sie recht zeitig Ihre Stiefel vor die Zimmertür stellen, damit sie noch am Abend geputzt werden können?«

    »Meine Stiefel — ja, ja!« Plötzlich sah er sie wieder vor sich, den mageren Arm in die schwarze Röhre gesteckt und bürsten, bürsten. Nein, das konnte, durfte er nicht annehmen, dass ihm eine Dame die Stiefel putzte! Er räusperte sich verlegen, dann sagte er sehr rasch: »Ich putze meine Stiefel selber. Ich habe das immer getan. Es ist sozusagen eine Leidenschaft von mir.«

    Sie sah ihn ungläubig an: »Herr Baron, das sagen Sie nur so — meinetwegen —, aber es macht mir gar nichts aus, wirklich nicht. Ich tue es gern — es ist ja auch meine Pflicht. Bitte, stellen Sie sie, wenn Sie sie ausgezogen haben, heraus!« Ein steigendes Rot kam in ihr Gesicht, sie kämpfte mit sich, es war ihr peinlich, ihre Verhältnisse so zu offenbaren. »Ich bin eben nicht in der Lage, mir ein Dienstmädchen zu halten. Meine Mittel sind beschränkt. Ich muss sehen, dass ich etwas spare — ich möchte nicht, dass der Junge hier verkommt — mein Sohn soll studieren.«

    Beim Himmel ja, das sollte er, wenn er es gern wollte! Wenn der Oberst auch nicht recht begriff, wie man »Studieren« als höchstes Ziel aufstellen konnte, darin verstand er die Mutter vollkommen, dass sie für ihren Sohn das in ihren Augen Höchste wollte. Er verneigte sich stumm, und dann kam ihm plötzlich der rettende Gedanke: »Gnädige Frau, wenn Sie gestatten, engagiere ich mir eine Frau, die jeden Morgen kommt und die paar Kleinigkeiten für mich erledigt. Ich möchte nicht, dass Sie sich meinetwegen noch so besonders bemühen.«

    Sie stammelte etwas von »zu gütig« und »nicht annehmen können«, da kam zum Glück Hans-Helmut gesprungen. Er hatte oben zum Dachfenster heraus nach den Schwalben geschaut, die über die Telegraphendrähte hin flitzten, und hinausgeträumt in die blaue Luft, bis die etwas knarrige Stimme unten ertönte und ihn aufstöberte. Die Treppe war er heruntergeflogen. Mit beiden Händen hing er sich nun dem Mann an den Arm: »Warum sind Sie denn heut so lange geblieben? Ich habe schon so auf Sie gewartet!«

    »Hans-Helmut, aber!« mahnte die Mutter.

    »Lassen Sie ihn doch!« Der Oberst lächelte: also so sehnsüchtig war er erwartet worden? »Du hast wohl wieder was nicht herausgebracht?«

    »Wir haben ja gar nichts auf!«

    »Na, da habe ich dir auch etwas mitgebracht!« Vorsichtig, damit er es nicht zerdrückte, zog der Oberst das Törtchen aus der hinteren Rocktasche. Aber der Knabe sagte nur artig: »Danke« und legte es hin. Die aufstrahlenden Blicke seiner Augen hingen bloss an dem Freund: »Darf ich jetzt bei Ihnen bleiben?«

    »Ja, das darfst du, mein Sohn.« Und mit einer väterlichen Gebärde legte der Mann die Hand auf den Knabenkopf.

    Zweites Kapitel

    Sie hatten sich ganz gut miteinander eingelebt; lebten sich eigentlich jeden Tag mehr zusammen. Der Oberst dachte nicht mehr ans Ausziehen. Es waren ihm öfter in der Stadt bequemere und auch sehr hübsche Wohnungen angeboten worden: der weite Weg von da draussen herein war doch wirklich lästig, besonders wenn es so andauerndes Regenwetter war, und ein so hässlicher Wind wehte wie in diesem Winter. Der Apotheker bewohnte in der stattlichen, mit einer wahren Raumverschwendung gebauten Apotheke mit seiner jungen Frau nur den ersten Stock, der zweite Stock stand dem Herrn Baron gern zur Verfügung. Es war zu schade, dass in den Prachträumen oben nur Kräuterbündel zum Trocknen hingen; es waren von da auch nur zwei Schritt herüber zum Mittagstisch. Aber der Oberst widerstand jeder Lockung, denn dann würde er ja Hans-Helmut so viel weniger sehen; kaum sehen. Bequemer wäre es freilich, wenn er seinem Hause näher etwas zu essen bekommen könnte. Aber daran war ja wohl nicht zu denken.

    Als er sich heute die grosse Regenpellerine, die er immer zu Pferde getragen hatte, bis unters Kinn zuknöpfte und die Mütze tiefer in die Augen zog, denn es goss fürchterlich, als er zu seinem Mittagstisch gehen musste, hörte er drinnen im Wohnzimmer den Kleinen husten. Wie, war Hans-Helmut schon aus der Schule zurück? Sonst begegneten sie sich meist auf dem halben Weg, und dann liess Hans-Helmut es sich nicht nehmen, nochmals ein gutes Stück mit zurückzugehen. Der Oberst klopfte an der Wohnstubentür. Niemand sagte herein, aber er erlaubte sich’s, einzutreten. Da lag Hans-Helmut auf dem Sofa, hatte einen ganz roten Kopf und gläserne, nicht mehr alles klar wahrnehmende Augen. Der Mann erschrak: der hatte ja Fieber! Er zog sich einen Stuhl neben das Sofa, fasste die Hand des Kindes und behielt sie in der seinen. Das schien Hans-Helmut wohlzutun. Als die Mutter hereinkam mit einer Tasse Lindenblütentee, schlief er; doch sobald der Oberst die heisse Kinderhand loslassen wollte, haschte der Kranke danach, seine Stirn zog sich zusammen, und er liess ein klagendes Wimmern hören.

    Da blieb der Oberst sitzen. Ob es wohl eine Kinderkrankheit wurde, Masern vielleicht, oder ob es nur bei einer Erkältung blieb?

    Der Oberst und die Frau Doktor sprachen flüsternd, die Zeit verging. Wenn er jetzt nicht zum Essen ging, bekam er keinen warmen Bissen mehr; aber sowie der Oberst versuchte, seine Hand fortzuziehen, wurde der Kranke unruhig.

    Endlich kam es der Frau Doktor, zu sagen: »Herr Baron, es ist mit dem Essen zu spät für Sie geworden — wenn ich Ihnen vielleicht hier etwas anbieten dürfte?« Sie schämte sich zwar, sie hatte nur eine dünne Milchsuppe und nach der Suppe Kartoffeln mit gewiegtem Hering, aber sie war tapfer: »Sie müssen freilich sehr fürlieb nehmen.«

    Und er nahm fürlieb; es schmeckte ihm sogar ausgezeichnet. Er wusste gar nicht, dass er Hering ass, den er sonst nie gemocht hatte. Immer sah er nach dem Sofa hin, wo der fiebernde Knabe jetzt gleichmässig atmete. Schlief er? Mitunter hoben sich die Lider — ein kurzes Blinzeln — dann wieder das gleichmässig tiefe Atmen.

    Die Mutter schlich hin: Gott sei Dank, er schlief jetzt! Auch der Oberst balancierte auf den Zehen zum Sofa; das ging nicht ganz ohne Geräusch ab, der Stuhl rückte ziemlich laut trotz aller Vorsicht, die Diele knarrte und gerade, als er sich über den Schlafenden beugte, kam ihm ein Niesen, das er nicht rasch genug im Taschentuch ersticken konnte. Was, lachte der Schelm? Ein Lächeln erschien um die roten Lippen, die in der Fiebertrockenheit noch röter blühten.

    Der Mann betrachtete die weichen Wangen, auf denen die langen dunklen Augenwimpern lagen, bemerkte die feingezogenen Bögen der Brauen, die reine Stirn, das zierliche Ohr und den Mund, der wie der einer schönen Frau war. Zum Küssen.

    »Ich bin Ihnen so dankbar, Herr Baron,« flüsterte die Frau, »dass ich jetzt nicht allein hier sitze. Es ist doch wohl nur ein Schnupfenfieber, nicht wahr? Mein Mann wurde so rasch dahingerafft; ehe ich begriff, was eigentlich war, war er gestorben. Ich bin so ängstlich geworden. Sie werden meine Besorgnis gewiss übertrieben finden? Aber ich habe ja weiter nichts auf der Welt als den Jungen.«

    Nein, er fand ihre Besorgnis gar nicht übertrieben. Wenn es ihr recht war, ging er nachher gleich zum Arzt, von vier bis fünf hatte der Sprechstunde. Wenn er um diese Zeit dort war, traf er ihn sicher an und konnte ihn womöglich gleich mit herausbringen.

    Ein dankbarer Blick aus tränengefüllten Augen traf ihn. Frau Doktor wagte es, ihm über den Tisch weg die Hand zu reichen, für einen kurzen Augenblick hielt er ihre dünnen und doch so verarbeiteten Finger mit einem festen Druck. »Nur keine Angst, wir wollen unsern Jungen schon bald wieder gesund kriegen!« Unsern Jungen — er sagte das mit Herzlichkeit, und er fühlte diese auch wirklich, fühlte plötzlich, wie er schon an dem Knaben hing, der ihn eigentlich gar nichts anging, und der doch nur das war, was ihn hier festhielt.

    »Es wäre besser, ich brächte ihn zu Bett,« flüsterte die Mutter. »Aber ich möchte ihn nicht gern aufwecken.« Sie war ziemlich hilflos.

    »Das wollen wir schon machen!« Behutsam, als wäre sie zerbrechlich, nahm der Mann die leichte Last auf. In schweren hohen Reiterstiefeln und doch versuchend auf Zehen zu schweben, trug er den Knaben hinter der Mutter her. Der war halb erwacht, für ein paar Augenblicke fühlte der Mann eine heisse fiebernde Stirn sich an seine Wange schmiegen, dann sank das Köpfchen wieder auf seine Schulter zurück.

    Frau Doktor hatte die Tür zum Nebenzimmer geöffnet. Ein kleiner, recht karger Raum. Da standen noch die beiden Ehebetten, wie früher dicht nebeneinander, die Frau schlug die Decke von dem einen Bett zurück. Hier im Bett des Vaters lag jetzt

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