Lichtwolf Nr. 65 (Not)
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Über dieses E-Book
„Not“ ist ein Zustand der Bedrängnis, die zu etwas „nötigt“ – und doch so viel mehr oder weniger, wie Michael Helming in seiner einleitenden Meditation über das schillernde Wörtchen mit drei Buchstaben zeigt. Darüber, was den Mangel ausmachen kann, der Not bedeutet, denkt Marc Hieronimus u.a. mit bzw. gegen Abraham Maslow nach. Denn Nöte können niedriger wie höchster Natur sein, wie dieses Heft zeigt: Bdolf schildert die Nöte der Heiligen, Osman Hajjar zeigt anhand der Nöte von Höhlenbewohnern, wie der Koran antike Freidenkerei in (theo)logische Ordnung bringt, während Ewgeniy Kasakow mit Oleg Fomin-Schachow einen Zeitgenossen portraitiert, der Mutter Russland auf eigenwillige Art aus ihrer Not zu befreien suchte.
Dass Politik erst jenseits der Not beginnt, ist die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs, die Philip J. Dingeldey gegen das moderne Verständnis des Politischen verteidigt. Mit dem Pflegenotstand und einem darob nötigen neuen Arbeitsbegriff befasst sich Bernhard Horwatitsch. Während Timotheus Schneidegger die Notwendigkeit der Menschheit infrage stellt, findet Wolfgang Schröder in den Illusionen der Notlosigkeit, die Werbung uns bereitet, eine eigene ästhetische Qualität.
Vom Hohen geht es zum Niederen, weshalb Marc Hieronimus die durch Wäsche verursachte Notgeilheit beleuchtet und Sarah Maria Lenk dem bürgerlichen Konstrukt hinter der „Notzucht“ nachgeht. Nietzsche gibt einiges über Notwehr zu bedenken, während Martin Köhler über den Schinkenmangel in der Kunst glossiert und Bdolf anhand von Herrn Jedermann die Nöte des Alltags illustriert – und natürlich wieder das Propädeutikum zum Thema beigesteuert hat.
Den hinteren Heftteil eröffnet wie stets die beliebte Miniaturensammlung „Der tragbare Gedanke“, gefolgt von Filbingers Portrait des „einbeinigen Ersatz-Münchhausens“, Friedrich von Urban (1799–1825), auf den der urbane Mythos zurückgeht. Nach den Aphorismen pro domo et mundo sowie den Rezensionen in unter 800 Zeichen folgt der Pinguin, den Simon Preker in der Reihe „Viehlosovieh“ vorstellt und dann ist das Heft komplett durchgelesen.
Timotheus Schneidegger
Bücher für alle und keinen. Pirateninsel des Lichtwolf. Novaheißer Independent-Verlag im Nordwesten.
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Buchvorschau
Lichtwolf Nr. 65 (Not) - Timotheus Schneidegger
Lichtwolf Nr. 65 (Frühling 2019)
Titelthema: Not
Inhalt Nr. 65
Editorial & Impressum
Not
Einleitung ins Titelthema
Der Jugend zum Geleit
Propädeutikum und Prolegomena zum Thema „Not"
von Bdolf
The Wort is Not Enough
Aus der Not einen Text machen
Es gibt Worte, die sind wie Schwämme, derart vollgesogen mit Bedeutung, dass sie tropfen. Wer sich daran macht, sie auszuwringen, hält bald kaum noch Masse in Händen. Auch die Not ist so ein Begriff, der an Gewicht verliert, wenn man ihn drückt. Ein Definitionsversuch
von Michael Helming
Psychologische Nöte
Was braucht der Mensch?
In der Not schmeckt die Wurst bekanntlich auch ohne Brot, während dem Herrn der Fliegen nachgesagt wird, dann gewissermaßen seine Leibeigenen zu verzehren. Aber was genau muss uns eigentlich fehlen, damit von Not die Rede sein kann?
von Marc Hieronimus
Von wegen „notleidend"
Die Noth der Heiligen
von Bdolf
Epistemologische Wohnungsnot
Schläfer in Seelennot
Die Höhle war phylogenetisch und ontogenetisch unsere erste Heimstatt. Kein Wunder, dass sich so mancher Mythos um sie, ihre zwiespältige Gemütlichkeit und die erkenntnistheoretische Notlage ihrer Insassen rankt.
von Osman Hajjar
Reklame: MMPM 2019
Russisch Not
„Die russischen Kätzchen sind krank"
Oleg Walerjewitsch Fomin-Schachow (1976–2017) verband slawische Mythologie und Avantgarde, reaktionäres Verschwörungsdenken und Selbstironie. Mit Narrenkappe und Zaubererhut suchte er die völkische Utopie im Wald.
von Ewgeniy Kasakow
Im außermoralischen Sinne
Notwehr
von Friedrich Nietzsche
Notschinken
Stufen zum Nichts: Not
Kolumne von Martin Köhler
Zur Polis in der Moderne
Das Politische in der Not
Zeitgenössische Politikbegriffe sind gemessen am Ursprung der politischen Philosophie verfehlt. Politik als Kampf und Konflikt ist unfreiheitlich der Not und dem Zwang des Subjekts unterworfen. Ist Politik im ursprünglichen Sinne in Zeiten von Angst und Not überhaupt noch möglich?
von Philip J. Dingeldey
1.001 Nöte
Didaktische Lehrgeschichten zur „Not"
Herr Jedermann hat seine liebe Not, die uns eine Lehre sei.
von Bdolf
Pflegenotstand
Die Krise der Reproduktion in der Spätmoderne
Der Pflegenotstand ist dem demographischen Wandel mindestens so sehr zuzuschreiben wie einer kapitalistischen Arbeitsethik, die Sorgearbeit nur als Produkt begreifen kann und so in ihr Gegenteil verkehrt.
von Bernhard Horwatitsch
Notgeilheit
Vom Reiz der Wäsche
Was ist das Reizvolle an „Reizwäsche, die man heute nur das Drunter nennt, eben „Dessous
? Und was finden eigentlich Frauen attraktiv?
von Marc Hieronimus
Nötigung der Natur
Das Contrajekt
Jedes Wort eine Notlüge, jedes Werk ein Notbehelf: Alles Menschliche ist von Falschheit durchzogen, die davon ablenkt, dass der Mensch selbst keine Notwendigkeit ist.
von Timotheus Schneidegger
Notzucht
Der Wille zum Müssen
Das Lebens des Mannes könnte so rational und edel sein, stürzte nicht unentwegt irgendein Frauenzimmer ihn unrettbar in Triebregungen. Über die angenommene Not im Manne, seinen Samen in die Welt bringen zu müssen
von Sarah Maria Lenk
Kurz gedacht
Denker im Haiku: Cioran & Hume
von Michael Helming (mh) und Bernhard Horwatitsch (bh)
Notlose Werbewelt
„Alles gut oder „All is pretty
Not in der Verneinung: Kann man den Schein des Heils der Reklame goutieren oder soll man ihn schmähen? Über den Illusionismus der Reklame und unseren Umgang mit ihren Reizen
von Wolfgang Schröder
Kurz lesen, lang nachdenken
Der tragbare Gedanke 65
von Bdolf (bd), Filbinger (fi), Michael Helming (mh), Bernhard Horwatitsch (bh), Jean-Baptiste O’Lebigmac (ol) und Timotheus Schneidegger (ts)
Die unbedeutendsten Denker
Der einbeinige Ersatz-Münchhausen
Eine Volksethymologie leitet den Urbanen Mythos von urban (engl.: städtisch) ab, was natürlich Unsinn ist. Tatsächlich geht der Terminus auf den Journalisten Friedrich von Urban (1799–1825) zurück, der nach einem Schicksalsschlag übers Ziel hinausschießt.
von Filbinger
Sentenzen für die Latrinentür
Pro Domo et Mundo 65
von Michael Helming (mh), Bernhard Horwatitsch (bh) und Wolfgang Schröder (ws)
Rezensionen in < 800 Z.
Kurz & Klein 65
von Bdolf (bd), Michael Helming (mh) und Marc Hieronimus (hi)
Kaiser des letzten Kontinents
Viehlosovieh: Pinguin
Der Pinguin ist ein Latecomer in der globalisierten Welt. Die klassischen Denkerinnen und Denker der hegemonialen Nordhalbkugel-Philosophie wussten nichts von ihm – und er glücklicherweise auch nichts von ihnen.
von Simon Preker
Autoren & Illustratoren
Rückseite vom Heft
LXV. Der Rhythmus, bei dem man mitmuss
Aus der Offizin 65
Nach dem Debakel des mit einem Monat Verspätung von der Druckerei ausgelieferten vorherigen Hefts wusste Frohnatur Helming den Herausgeber damit aufzumuntern, dass der aktuelle Jahrgang der erste in 17 Jahren Lichtwolf sei, in dem fünf Ausgaben erscheinen.
Möge die neue Druckerei, was nicht gewiss ist (Was ist das schon!), Termintreue wahren! Es sind gleich einige Exemplare mehr als üblich in Auftrag gegeben worden, um bei der Mainzer Minipressen-Messe (MMPM) Ende Mai / Anfang Juni (siehe S. 27) den gewohnten Reibach mit der vorliegenden Frühlingsausgabe zu machen – trotz ihres finsteren Titelthemas.
Mit ihm hatte man hier seine liebe Not ob der – Verspätung, siehe oben – um einen Monat verkürzten Lichtwolfiade. Dennoch ist es mehr als eine, und nun ist es mal gut, „Notausgabe" geworden.
Ob die Sommerausgabe pünktlich am 20. Juni in Ihren Briefkästen sein wird, ist ebenso ungewiss wie alles andere (s.o.). Denn die MMPM liegt ungünstig auf dem Wochenende des Druckschlusses. Wenn Sie die hinter dem Lichtwolf stehenden Entrepreneurs und Routiniers also in Mainz treffen, spendieren Sie bitte sparsam alkoholische Getränke: Wir müssen arbeiten!
Ihr
Timotheus Schneidegger
Impressum
Lichtwolf - Zeitschrift trotz Philosophie
Ausgabe 1 / Jahrgang 18 (Nr. 65)
Elektronische Ausgabe
Veröffentlicht Ende März 2019
Verlagsanschrift:
catware.net Verlag / Timotheus Schneidegger
Erlenstraße 4 / 26524 Hage
Tel.: (+0049) 1520 3825888
E-Mail: redaktion@lichtwolf.de
V.i.S.d.P.: Timotheus Schneidegger
Heftgestaltung & Umschlag: Georg Frost
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Herausgeber, Redaktion oder Verlag wieder. Beiträge (Text oder Bild) dürfen nicht – auch nicht auszugsweise – ohne Zustimmung ihrer Urheber weiterverbreitet werden. Zur Verwendung kommt eine Hausorthographie. Redaktionelle Beiträge sende man per E-Mail an:
redaktion@lichtwolf.de
Der Lichtwolf ist keine Literaturzeitschrift: Bitte keine Kurzgeschichten und Gedichte schicken!
Einleitung ins Titlethema: Not
Die Not kann einen Mann zum Journalisten machen, aber nicht jede Frau zur Prostituierten.
– Karl Kraus, Die Fackel Nr. 211, 13.11.1906, S. 21.
„Not ist ein Zustand der Bedrängnis, die zu etwas „nötigt
– und doch so viel mehr oder weniger, wie Michael Helming in seiner einleitenden Meditation über das schillernde Wörtchen mit drei Buchstaben zeigt. Darüber, was den Mangel ausmachen kann, der Not bedeutet, denkt Marc Hieronimus u.a. mit bzw. gegen Abraham Maslow nach. Denn Nöte können niedriger wie höchster Natur sein, wie dieses Heft zeigt: Bdolf schildert die Nöte der Heiligen, Osman Hajjar zeigt anhand der Nöte von Höhlenbewohnern, wie der Koran antike Freidenkerei in (theo)logische Ordnung bringt, während Ewgeniy Kasakow mit Oleg Fomin-Schachow einen Zeitgenossen portraitiert, der Mutter Russland auf eigenwillige Art aus ihrer Not zu befreien suchte.
Dass Politik erst jenseits der Not beginnt, ist die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs, die Philip J. Dingeldey gegen das moderne Verständnis des Politischen verteidigt. Mit dem Pflegenotstand und einem darob nötigen neuen Arbeitsbegriff befasst sich Bernhard Horwatitsch. Während Timotheus Schneidegger die Notwendigkeit der Menschheit infrage stellt, findet Wolfgang Schröder in den Illusionen der Notlosigkeit, die Werbung uns bereitet, eine eigene ästhetische Qualität.
Vom Hohen geht es zum Niederen, weshalb Marc Hieronimus die durch Wäsche verursachte Notgeilheit beleuchtet und Sarah Maria Lenk dem bürgerlichen Konstrukt hinter der „Notzucht" nachgeht. Nietzsche gibt einiges über Notwehr zu bedenken, während Martin Köhler über den Schinkenmangel in der Kunst glossiert und Bdolf anhand von Herrn Jedermann die Nöte des Alltags illustriert – und natürlich wieder das Propädeutikum zum Thema beigesteuert hat.
Der Jugend zum Geleit
Propädeutikum und Prolegomena zum Thema „Not"
von Bdolf
1.) „Not kennt kein Gebot; Irgendwas tut not; in der Not schmeckt die Wurst auch ohne Brot, Spare in der Not, dann hast Du Zeit dazu; in Gefahr und höchster Not bringt der Mittelweg den Tod!" usf.
2.) „Notzucht – sehr ausdrucksstarker Ausdruck für „Vergewaltigung
.
3.) Der Gattung Mensch ist die Not zentral; vgl. 1.) und 2.)
4.) Vielleicht ist die menschliche Existenz für immer und in jeder Hinsicht „notdürftig".
5.) „Notdurft" hingegen ist ein dito ausdrucksstarker Ausdruck für etwas sehr, sehr Zentrales.
6.) „Notgeil ist ein sehr pejorativer ( … abwertender) Ausdruck für etwas völlig Normales – siehe „naturalia non sunt turpia!
(vgl. die Nicäanischen Konzile)
7.) Die gesamte Existenz – ein Notstandsplan?
8.) Jedem Haushalt seinen Notnagel (Anachronismus?) - „Ach! Hätt’ ich doch ein Hämmerchen!"
9.) Also – ich zahle nur noch mit und in Notgroschen!
10.) Notfall ist menschlicher Regelfall.
11.) Notdienst deckt beileibe nicht alle Not ab, auch nicht alle Notfälle.
12.) Jedem Gesetz wohnt ein Notstand inne – vgl. „Notstandsgesetzgebung".
13.) Autor nach Not-tat verreist … (flüchtig?)
Helming---DSCN6511(Photo: Michael Helming)
The Wort is Not Enough
Aus der Not einen Text machen
Es gibt Worte, die sind wie Schwämme, derart vollgesogen mit Bedeutung, dass sie tropfen. Wer sich daran macht, sie auszuwringen, hält bald kaum noch Masse in Händen. Auch die Not ist so ein Begriff, der an Gewicht verliert, wenn man ihn drückt. Ein Definitionsversuch
von Michael Helming
„Der Not gehorchend, nicht dem eignen Triebe"
– Schiller, Die Braut von Messina
Das Volk ist ein unscharfes, angeblich oft notleidendes Gebilde, von dem man vermuten könnte, es spräche mit nur einer einzigen Stimme, dem sogenannten Volksmund. Dieser wiederum behauptet, es sei nicht nur möglich, sondern sogar erstrebenswert, aus der Not eine Tugend zu machen. Wie stelle ich mir diese Metamorphose vor? Ist das schon Selbsttäuschung oder noch die bescheidene Einsicht in Abhängigkeiten? Vermag der Mensch aus real-existierender Scheiße moralisches Gold zu gewinnen? Und wenn ja, fällt solch ethische Alchemie nicht ins Reich der Schwarzkunst? Oder darf man Sprichwörter ohnehin nicht allzu wortwörtlich nehmen?
Halten wir doch zunächst einmal fest, das Wort Tugend leitet sich von Tauglichkeit her, also von Eignung, Brauchbarkeit oder Nutzen. Die Tugend einer Person meint positive Eigenschaften, vor allem vorbildliche, tüchtige und vorzügliche Haltung, möglichst frei von Laster und Sünde; letztlich einen wertvollen und glänzenden Charakter. Tugenden sollen ihren Besitzer zu moralisch einwandfreien Handlungen befähigen. Mag sein, dass tugendhafte Menschen Not besser überstehen als moralisch mangelhafte – aber aus Not direkt Tugend generieren, das scheint mir schwierig. Ist es nicht überhaupt das Tugendhafteste, Not zu meiden, sie vorauszusehen und abzuwenden? Was genau ist denn überhaupt Not und wer hat sich ihre seltsame Verwandlung in Tugend ausgedacht?
Offenbar ist die Redensart zuerst in lateinischer Form bezeugt, nämlich bei Hieronymus, dem temperamentvollen Kirchenvater aus Dalmatien. In seiner „Rede gegen die Schriften des Rufinus (III,2) heißt es „Facis de necessitate virtutem
. Und auch an einer Stelle in den Briefen (54,6) steht „Fac de necessitate virtutem. Beides wird gewöhnlich mit „aus der Not eine Tugend machen
übersetzt und auch der Google-Online-Translator verfährt auf diese Weise. Dabei habe ich mit „virtutem weniger ein Problem, denn „virtus
steht neben „Mannhaftigkeit und „Kraft
auch für „Tüchtigkeit, „Tugendhaftigkeit
und „Sittlichkeit. Stutzig macht mich hingegen „necessitas
, zwar auch mit „Not, „Notlage
und „Mangel zu übersetzen, vor allem jedoch mit „Notwendigkeit
, „Unvermeidlichkeit, „Zwang
und „Verpflichtung. Hätte Hieronymus nicht ebenso gut oder vielleicht besser das Wort „angustiae
bemühen dürfen, welches zwar zunächst „Enge, „Hohlweg