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Helden
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eBook289 Seiten3 Stunden

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Über dieses E-Book

Punk is over. Das Jahrzehnt von Pacman, Compact Disc und Heimcomputer rollt heran. Eine Coming-of-Age-Story über fünf pubertierende Freunde aus der Kleinstadt an der Schwelle zum Erwachsensein in einer Welt im Wandel.


Ein Blick auf die 80er-Jahre aus der Perspektive von Heranwachsenden im Alpenraum.
Hermann Joos zeichnet in seinem Roman ein äusserst persönliches Bild der jugendlichen Protagonisten und vermittelt anschaulich, wie es war, als New Waver in einer konservativen Kleinstadt aufzuwachsen. Die erste Liebe, der ultimative Song, die ersten Drogenerfahrungen, die erste grosse Reise. Ein Roman voller ehrlicher und authentischer Momente.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum7. Jan. 2020
ISBN9783749476688
Helden
Autor

Hermann Joos

Hermann Joos, geboren 1967 in der Schweizer Alpenstadt Chur, wo er auch aufwächst. Nach einer Ausbildung und mehrjähriger Tätigkeit in der Werbung, absolviert er ein Designstudium an den Hochschulen Luzern und Basel, welches er 1999 mit dem mit dem Diplom als Designer FH (Kommunikationsdesign) abschliesst. Ausbildungsgänge in analytischem und kreativem Schreiben sowie Literaturgeschichte bei Otto Marchi und Walter Hess an der Hochschule für Gestaltung Luzern. Es enstehen zahlreiche Kurzgeschichten, ein Kinderbuch und ein Jugendroman. 2019 erscheint der autobiografische Roman «HELDEN» und 2023 «DOMINO» Hermann Joos lebt seit 1996 in Basel und ist seit 2003 Inhaber der Designagentur wolke7-basel.ch

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    Buchvorschau

    Helden - Hermann Joos

    Für Prinz

    mein Jugendgefährte

    Für Josefa

    meine Mutter, die meine Frisuren stets

    als solche goutierte

    Für Anna, Timo & Laila

    meine Kinder, die mir stets ein unendlicher Quell

    der Inspiration sind

    Für Andy und Patrick

    meine Helden der Gegenwart

    Lektorat:

    Silvan Granig, KommFort Kommunikation

    ©

    Das Copyright für den vorliegenden Text und die

    Illustrationen liegt beim Autoren und darf ohne

    dessen ausdrückliche Zustimmung nicht

    verwendet werden.

    Basel, 2019

    Wir kamen uns in den schwarzen Klamotten, den langen Mänteln, den groben Stahlkappenschuhen und den hochgetürmten, farbfahlen Haaren rebellisch und unangepasst vor. Wir fühlten uns dazu auserkoren, die unausgegorene Punkphilosophie ihrer wahren Bestimmung zuzuführen. Sie in sublimierter Form und kleindosiert unters unwissende Fussvolk zu mischen, bis das subversive Gift das Proletariat der Einzeller zerfressen würde. Und wir würden hämisch grinsend und allwissend aus dieser Katharsis hervorgehen. So oder so ähnlich erklärte es uns auf jeden Fall unser Gruftikumpel Jonas, während ich ihm mit blauem Fasnachtshaarspray seine rasierten Schläfen einfärbte. Dies war die provisorische Samstagnachtausgehlösung für Hobby-New Waver wie Jonas, dessen Eltern ihm strengstens echtes Haarfärbemittel oder gar die Verwendung von Wasserstoffperoxyd verboten hatten. Meine Mutter war in Bezug auf Haare und Kleidung weniger diskriminierend. So hatte meine Haarpracht schon so manches Farbexperiment ertragen. Im Moment waren es schwarze, hochgegelte Krater mit weiss gebleichten Spitzen. Eine Frisur, die ich auf irgendeinem Punkkonzertflyer oder in einem Musicclip gesehen hatte und die der Friseur unseres Vertrauens nach dieser Vorlage auf mich zu übertragen hatte.

    Inhaltsverzeichnis

    Mark

    Musikkeller

    Tom

    Mofas und Popper

    Fred

    Nathalie

    Nachtaktion

    Konzerttag

    Black Pig

    Tonstudio und Spielsalon

    Mixtape

    Safari

    Hallenstadion

    Nacht in Zürich

    Tonstudio

    Ferien

    Reise

    Im Süden

    Schifffahrt

    Dark Night Party

    Wanderung

    Neongelb und Neongrün

    Zukunft

    Shopping

    Rückfahrt

    Im roten Tropfen

    Der letzte Abend

    Mark

    Unser Friseur hiess Mark und er war schon während seiner Lehrzeit zur Kultfigur der kleinstädtischen New Wave-Szene avanciert. Er war imstande jeden noch so ausgefallenen Wunsch zur vollsten Zufriedenheit der pubertierenden Jungrebellen umzusetzen. Mark arbeitete als Azubi in einem eher behäbigen Friseursalon und obwohl er erst 18 Jahre alt war, übertrumpfte er schon während der Ausbildung das komplette achtköpfige Team des Salons. Er hatte dreimal so viele Termine wie alle anderen Angestellten vorzuweisen. Sein Kalender platzte aus allen Nähten. Gerne hätte ihn sein Lehrmeister nach Abschluss der Ausbildung behalten. Aber kaum zwei Monate nach der Abschlussprüfung hatte sich Mark schon selbstständig gemacht und führte seither einen äusserst lukrativen, eigenen Salon mit mehreren Angestellten.

    Jonas, Prinz, Tom und ich waren erst 15 Jahre alt und Mark war uns über. In jeder Hinsicht. Er war authentischer, geheimnisvoller, mystischer. Und obwohl wir uns alle stetig bemühten, der Aussenwelt ein unheimliches und undurchschaubares Bild unserer Selbst zu vermitteln, wussten wir doch – tief in unserem Innern – dass diese ganze Schwarzschau sich eines Tages als verblassender Modegag outen würde und wir wohl eines Tages sang- und klanglos in ein kleinbürgerliches Leben übergehen würden.

    Bei den Anderen geschah dies auch, wie ich es immer geahnt hatte, bei mir blieb ein kleines Stück schwarze Waverseele aber immer haften. Doch dazu später.

    Mark hatte eine eigene Wohnung mitten in der Altstadt. Eine richtig coole Bude mit schwarzweissem Schachbrettboden, Leuchtdioden an den Wänden, einer Bar mit echtem Alkohol, was uns Jungpubertierende unheimlich beeindruckte. Sein Wohnzimmer sah mehr nach einer Bar denn nach einem Wohlfühlraum aus. Wenn das autonome Jugendzentrum schloss oder es uns zu muffig wurde in der Dorfdisco und wir Glück hatten, lud uns Mark manchmal zu sich ein – zusammen mit anderen Teenagern. Dann füllte sich seine Wohnzimmerbar schnell mit 20 oder 30 vorwiegend schwarz gekleideten Gestalten, es war eine Stimmung wie an einer Vernissage. Es wurde getrunken, geschwatzt, gefachsimpelt und in den dunkleren Ecken der grossen Wohnung wurde gefummelt. Es roch nach Marihuana und Jean Paul Gaultier-Parfum. Gaultier designte in den frühen Achtzigerjahren die Bekleidungsmarke «Junior Gaultier», welche für jedermann erschwinglich war, deren jugendlicher Anstrich aber Herr und Frau Normalverbraucher nicht im Geringsten interessierte. So trugen wir diese Avantgarde der Strasse mit stolz geschwellter Brust und das Lieblingsparfum unserer schwarzen Gilde stammte aus gleichem Hause.

    In unserer Kleinstadt gab es nur eine beschränkte Zahl an Ausgehmöglichkeiten. Vor allem für uns New Waver. Wir konnten in unserer Totengräberkleidung ja schlecht in eine arvenbestückte Dorfkneipe zu den geerdeten Flanellhemdem sitzen und eine Runde mitjassen. Andere Restaurants und Bars waren den Normalos vorbehalten oder den Yuppies, Mods, Rockern, Poppern, Teds und natürlich den Punks. Punk war tot. Wir spürten es alle. Wohl lebte ein Teil der gespaltenen Seele dieser Urväter des Rebellentums weiter, aber die Zeit war ins Land gezogen für Neues. Etwas Undefinierbares, Aufregendes lag in der Luft. Wir konnten es noch nicht fassen aber wir spürten und wussten, dass wir Teil davon waren. Teil von etwas Grossem.

    Unsere Kleinstadtdisco hiess Safari. Sie bildete einen versöhnlichen Schmelztiegel der verschiedensten Gruppierungen. Hier war möglich, was draussen in der Welt nicht funktionierte. Hier sassen Punks neben Rockern und Popper neben Teds. Meist verliefen diese Konstellationen erstaunlich friedlich. Manchmal schlugen sich die Jungs aber auch die Schädel ein.

    Wir Jungwaver fanden uns fast immer um die gleiche Zeit in der Disco ein und trieben uns auch immer in den gleichen Ecken herum. Ich beobachtete gerne mit erhobener Augenbraue die tanzende Menge von einem kleinen Treppenpodest aus, das sich neben der DJ-Kanzel befand. Ich liess meinen Blick über die Menge schweifen und meine Kumpels taten es mir gleich. Manchmal fingen wir vermeintlich bewundernde Blicke aus der Menge auf, welche wohl durch unsere unkonventionelle Kleidung und unsere hochgetürmten Kunstfrisuren initiiert wurden. Wir waren in diesen Momenten die Könige der Welt. Unantastbar, überlegen, mystisch.

    Aber dann, zu später Stunde, wurden wir entthront. Es war der Moment, als Mark mit seinen engsten Vertrauten die Bühne betrat. Wenn unsere Frisuren unübertroffen raffiniert waren, dann war die seine göttlich. Wenn unsere Klamotten zum fürchten waren, dann liess seine Garderobe die Erde erbeben. Wenn wir uns in Weltspott und Arroganz übten, hatte er für die Welt keinen Blick übrig. Er schwebte ätherisch in den Raum, die Augen auf einen imaginären Horizont gerichtet. Kein Lächeln, keine Gemütsbewegung störte dieses erhabene Bild. Und wenn er doch einen der unseren ansah, durchfuhr es uns siedendheiss, als ob wir Gott geschaut hätten.

    Meist nervten wir die verschiedenen DJ’s mit unseren Musikwünschen. Die meisten wollten lieber Billie Ocean, Whitney Houston oder Donna Summer spielen. Wir wünschten uns Sisters of Mercy oder Joy Division. Wenn der DJ moonwashed Jeans trug, wussten wir, dass wir tiefer einsteigen mussten. Dann versuchten wir es mit halbkommerziellen Lösungen, wie z.b. «Waterfront» von Simple Minds oder «New Years Day» von U2. Wenn die moonwashed Jeans noch mit Flanellhemd oder Vokuhilafrisur ergänzt wurde, war echte Not am Mann. Dann konnten wir im besten Fall noch mit «Don’t you forget about me» oder «Pride» rechnen. Und wenn der Mann ein Modern Talking-T-Shirt trug, versuchten wir gar nichts mehr, ignorierten geflissentlich die musikalische Folter und flüchteten uns in pseudophilosophische Gespräche über den Sinn von Karottenhosen und Cowboystiefeln oder erhitzten unsere Gemüter an der Grundsatzfrage Pacman verso Donkey Kong?

    Musikkeller

    Musikalisch orientieren wir uns in den frühen Achtzigern an der sogenannten Indie-Alternativeszene, die wir schlicht als «Wave» betitelten. Unsere musikalischen Helden hiessen Depeche Mode, Cure, Sisters of Mercy, Tears for Fears, Human League, The Smiths und OMD. Aus deutschsprachigen Gefilden natürlich Kraftwerk und Einstürzende Neubauten. Nur Tom war noch eine Spur drastischer. Er fühlte sich musikalisch immer noch dem Punk verpflichtet. Er versäumte kaum eine Gelegenheit, uns «Kommerztunten» zu schelten. «Never mind the Bollocks» von den Sex Pistols war seine Bibel und die Dead Kennedys die passenden Jünger. Abgesehen von seiner musikalischen Härte, war Tom aber der bravste von uns allen. Ein richtiger Vorzeigejunge, der Traumschwiegersohn schlechthin und das liessen wir ihn auch manchmal spüren.

    Wenn in der Kleinstadt, in der wir wohnten die Werktagabende langweilig zu werden drohten, zogen Prinz – der eigentlich Stefan hiess, obwohl wir alle ihn immer nur Prinz nannten – und ich uns in den Keller meines elterlichen Einfamilienhauses zurück und machten Musik. Amateurhaft aber mit einem grossen Mass an Kreativität entwarfen wir Soundarrangements und eiferten unseren Vorbildern nach. Ich war für die Leadgitarre und den Gesang verantwortlich, während Prinz seine unmusikalische Ader mit dem Programming und Sampling der Synthesizer übertünchte.

    Der Keller meines Elternhauses war recht gross und bestand aus zwei Räumen. Im vorderen Teil befand sich ein Bereich mit einem Tischtennistisch, den hinteren Teil hatten wir zu einem Bandkeller umfunktioniert. Die Wände und die Decke wurden mit Eierkartons und Styroporplatten beklebt. Der Gedanke dahinter war wohl weniger, die perfekte, trockene Klangqualität eines professionellen Studios zu erreichen, als umso mehr die Absicht, unsere peinlichen musikalischen Gehversuche vor der Aussenwelt abzuschirmen.

    Tom hatten wir davon überzeugt, er sei der geborene Bassist. Wir hatten ihn in langen Gesprächen darin bestärkt, dass es viel verünftiger sei, seinen hart erarbeiteten, kargen Lehrlingslohn in ein Instrument zu investieren als in weitere Klamotten. Er war gänzlich anderer Meinung. Toms Eitelkeit kannte keine Grenzen und sein Kleiderschrank hatte an dieser Lebenshaltung schwer zu tragen.

    Prinz und ich versuchten bereits seit Wochen, Tom davon zu überzeugen, dass er sich endlich eine eigene Bassgitarre kaufen solle. Bisher hatte er die alte Bassgitarre meines älteren Bruders ausgeliehen, welche dieser sich einmal in einem Anfall kreativer Selbstüberschätzung gekauft hatte und die nun bei uns im Keller stand. Als Verstärker benutzten wir einen kleinen orangen Kubus der Marke Roland, den ich einem Exfreund meiner Schwester abgekauft hatte. Der kleine Gitarrenverstärker stiess in Konfrontation mit den heftigen Bassimpulsen schnell an seine Grenzen und begann mitleiderregende Knarzgeräusche von sich zu geben.

    Obwohl Tom nie vorher Bass gespielt hatte, behauptete er sich nicht schlecht bei unserer ersten «Jamsession». Ich hängte ihm den alten Bass um und wies ihn an, in regelmässigem Pumpen zwei Töne abwechselnd zu spielen. Und siehe da, es klappte. Irgendwie entstand eine Klangsymmetrie, die durchaus als Grundlage zur Improvisation dienen konnte. Über dieses Stampfen hinweg versuchte ich Melodien und Akkorde zu spielen. Prinz stand vor seinem neu erworbenen Roland Juno und starrte abwechselnd auf das Muster der schwarzweissen Tasten und auf Tom, der wie in Trance seine Finger über die Seiten wandern liess. Da ich mich nicht dazu berufen fühlte, Prinz ein Startzeichen zu geben, verharrte dieser vor seinem Instrument und strich sanft über die Tasten, so als ob er eine Katze streicheln würde.

    Da wir noch kein Textmaterial zur Verfügung hatten, griff ich mir einen Lyrikband meines damaligen Lieblingsdichters Edgar Allan Poe und zitierte aus seinem Gedicht «Annabel Lee», welches aus meiner Sicht an Düsternis und Todessehnsucht kaum zu übertreffen war. Es erfüllte somit alle Voraussetzungen für den Textinput eines perfekten «Gruftisongs».

    It was many and many a year ago,

    In a kingdom by the sea,

    That a maiden there lived whom you may know

    By the name of Annabel Lee;

    And this maiden she lived with no other thought

    Than to love and be loved by me ...

    Das Gedicht Annabel Lee wurde am 9. Oktober

    1849, im Todesjahr Poes im New York Daily

    Tribune als Teil eines Nachrufs abgedruckt. Zwei

    Tage nach Poes Tod. Die Bedeutung dieses wenig

    tiefgründigen Werks Poes erschliesst sich schnell.

    Es dreht sich eigentlich alles um die schmerzliche

    Trauer nach dem Tod der schönen Geliebten.

    Der gebeutelte Liebhaber will den Tod nicht als

    solchen akzeptieren und kämpft gegen Engel im

    Himmel wie auch gegen die Dämonen

    der Unterwelt.

    Ich versuchte mit tiefer, unheilvoller Stimme die Verse zu deklamieren, sie den Akkorden anzupassen und so in die Tristesse unserer musikalischen Idole einzutauchen. In diesem eintönigen Sermon drehte sich die Welt im Lichterkreis der Discokugel an der Kellerdecke. Irgendwie verlor ich jegliches Raum-Zeitgefühl. Prinz hatte sich zwischenzeitlich auf seinen Kunstlederhocker gesetzt – in sich gekehrt, ehrfürchtig. Es war nicht die Zeit für programmierte, synthetische Sounds. Jetzt war jammen angesagt, und nicht zu knapp. Bilder zogen an mir vorüber. Tobende Massen, Rauch und Nebel, Hitze und Schweiss, leuchtende Farben: Rot, Gelb, Grün – flackernde Scheinwerfer.

    Tom

    «Ich denke kaum, dass wir Tom davon überzeugen können, eine eigene Bassgitarre und einen Verstärker zu kaufen. Er hat mir erzählt, dass er sich unbedingt diesen teuren Anzug mit den psychedelischen Mustern im Matinique kaufen möchte», erklärte mir Prinz.

    Matinique war eine sündhaft teure Boutique, in der wir uns eigentlich nur in der Sale-Abteilung herumtrieben. Ausser Tom, der gezielt und ohne schlechtes Gewissen auf ausgewählte Klamotten sparte. Dies stand in klarem Widerspruch zu unseren Vorstellungen, die Band mit eigenem Equipment zu professionalisieren, wofür unsere spärlichen finanziellen Möglichkeiten kaum ausreichten.

    Ich schäumte vor Wut.

    «Das wagt er nicht. Er weiss, dass er das niemals überleben würde. Klamotten können warten, unser musikalischer Durchbruch nicht. Sonst sind wir alte Knacker, bis unser erstes Album erscheint. Wir müssen üben, Songs kreieren, als Band zusammenwachsen. Ich sage dir, die Musik ist unser Ticket raus aus dieser Stadt.»

    Im gleichen Moment als ich den Satz rausgehauen hatte, war ich auch schon unheimlich stolz darauf. Das klang filmisch, grossstädtisch, kosmopolitisch. Wahrscheinlich stammte der Satz auch aus irgendeinem Film. Flashdance? Rocky? Hair? Egal, ich beanspruchte ab sofort die Urheberrechte an diesem übermächtigen Satz. Und er verfehlte seine Wirkung nicht. Es war ein Satz, der in den frühen Achtzigerjahren noch Gewicht hatte und nicht abgegriffen wirkte. Er war frisch und stark wie Vitamin C oder Nimm zwei.

    Prinz schaute mich irritiert an. Unter der Wirkung dieser epochalen Aussage wurde es für einen Moment still an der Bahnhofstrasse, an der wir seit dreisssig Minuten ziellos herumlungerten. Die shoppende Masse verstummte, der Strom der Samstagseinkäufer floss zähflüssig in Zeitlupe an uns vorüber. Und dann geschah es.

    Das Unfassbare, das Schockierende, das Unglaubliche.

    Ich sah Tom auf der anderen Strassenseite. Er bog gerade aus der Einkaufsgasse, die zur Boutique Matinique führte. In einem neuen, blauen Anzug mit psychedelischen Mustern. Auf seinen Lippen ein selbstgefälliges, introvertiertes, verdammt glückliches Lächeln. Noch hatte er uns nicht gesehen. Noch wusste er nicht, dass die Welt in wenigen Sekunden über ihm zusammenbrechen würde. Apokalyptisch. «Dieses dumme Wildschwein», fluchte ich.

    Prinz hatte noch nicht annähernd vestanden, was abging, als ich schon die halbe Bahnhofstrasse überquert hatte, mich vor Tom aufbaute und anfing, ihn zu beschimpfen, ihn mit allem, was meine Wortartillerie an starkem Geschütz hergab, bombardierte. Ich feuerte Salve um Salve. Tom hatte die Tragweite seiner Handlungen wohl nur unzureichend realisiert und stand eher erstaunt als reumütig da. In der Hand eine grosse Matinique-Plastiktasche mit weissem Kordelgriff.

    Ich sprach eine ganze Woche nicht mehr mit Tom.

    Mofas und Popper

    Das bevorzugte Fortbewegungsmittel der 15-jährigen Kleinstadtjugend in den frühen Achtzigerjahren waren Mofas, welche für eine Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h ausgelegt waren. Beliebt war bei den technisch versierteren Jungs ein nicht ganz legales Upgrade, das die Höchstgeschwindigkeit auf 40 bis 50 km/h erhöhte. Ganz ausgebuffte Technikfreaks erreichten auch schon mal 60 bis 70 km/h. Als Grundlage für diese Leistungssteigerung diente der illegale, italienische Zubehörmarkt. Dominic war der König der Leistungsausbeute. Sein bis ins kleinste Detail ausgestyltes Mofa verfügte über jegliche Sonderausführungen, vom speziell breiten Lenker, der dem Gefährt eine gefährliche gebückte Haltung verlieh, über den röhrenden Auspuff, bis zu den weissen Zierblenden und dem diamantenen Lack. Jedes mal, wenn er sein Mofa auf dem Schulhof parkte, war es wieder mit neuem Material bestückt. Das war vor allem möglich, weil Dominics Vater Inhaber einer Motorradgarage war und seinen Sohn ständig mit Material vom Feinsten versorgte. All dies hätte für uns New Waver schon gereicht, um Dominic zu hassen. Was ihn aber endgültig zum Feindbild stempelte, war seine Frisur und sein Look.

    Die blondierten Strähnchen, die kurz geschnittenen Nackenhaare, die geföhnten Locken, die wie Wellen über sein Haupt flossen, outeten ihn eindeutig als Popper. Komplettiert wurde dieser Look von Pastelkleidern in feenhaften Farben, die in krassem Kontrast zu unserem Schwarzlook standen. Er war Anhänger der Gegenwelt, einer farbenfrohen Scheinwelt, in der sich die seelenlosen, schöngeistigen Kapitalzombies bewegten. Ohne Blick für die wahren Abgründe unserer Gesellschaft. Ja-Sager der schlimmsten Sorte. Dominic hatte Robert Smith von den The Cure einmal eine «durchgeknallte Homo-Vogelscheuche» genannt. Diese Ungeheuerlichkeit hatte mich derart schockiert, dass ich nicht einmal etwas entgegnen konnte. Bis ich den sich anbahnenden Herzinfarkt wieder in den Griff bekam, war Dominic bereits wieder weg. Er stand lachend bei seinen Kumpels, einem Haufen arischblonder, konturenloser Weichzeichnerarschlöcher.

    «Schau dir den an. Schon wieder ein neuer Auspuff am Mofa. Verchromte Doppelröhre. Scheisse, sowas hab ich ja noch gar nie gesehen. Den hat wohl sein Papa aus Italien mitgebracht. Sag mal, macht das überhaupt noch Spass, wenn man einfach alles so geschenkt bekommt? Ich meine, da ist man doch irgendwann einfach mal übersättigt, oder? Da gehen doch einfach alle Lebensideale vor die Hunde. So ne Kacke aber auch», meinte Prinz.

    «Also ich hätte ja gerne einen Papa, der mich mit Geschenken vollstopft. Meiner würde sogar meinen Geburtstag vergessen, wenn ihn Mama nicht daran erinnern würde», steuerte Tom bei.

    «Na immerhin hast du eine schicke Schale mit psychedelischen Mustern», feixte ich.

    Tom schien genervt, was ich ja auch beabsichtigt hatte.

    «Ja, ja, schon gut. Kannst du den Scheiss nicht mal vergessen? Mit meinem nächsten Lehrlingslohn kaufe ich mir dann einen Bassverstärker und ne Bassgitarre.»

    Ich war nicht gewillt, diese Rhetorik so stehen zu lassen.

    «Oder du kaufst dir noch einen weiteren Anzug, oder den passenden Mantel dazu und Schuhe und ein Handtäschchen. Und einen Hut. Und Ohrringe.» Jetzt viel mir definitiv nichts mehr ein, was ich Tom noch als Modetipp unterschieben konnte.

    Tom sagte nichts mehr. Er ahnte wohl, das jede Schönrednerei zu diesem Thema im Sand verlaufen würde. Dominic hatte sein glänzendes Mofa neben unseren Rostlauben parkiert und sorgfälltig mit einem Ringschloss gesichert. Er schwang seine Haarpracht aus dem Gesicht wie ein Pony und warf sich einen hellblauben Pullover über die Schultern, die Ärmel locker vor der Brust zu einem Knoten drappiert. Selbstsicher schlenderte er an uns vorbei. «Na, ihr Schwarztunten. Schornsteinfeger-Geschäftsausflug?»

    Jonas war eben dazugekommen: «Selber Tunte! Einhornarsch! Regenbogenschwuchtel!»

    Wir drei musterten Jonas, der uns zufrieden angrinste wie ein Buchhalter, der soeben erfolgreich Bilanz gezogen hatte. «Regenbogenschwuchtel? Wie kommst du nur immer auf diese originellen Flüche? Bereitest du das zuhause vor und rufst es ab, wenn der richtige Moment kommt?»

    «Keine Ahnung. Ist

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