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Pseudo: Ein Punkroman
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eBook589 Seiten6 Stunden

Pseudo: Ein Punkroman

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Über dieses E-Book

Mitten in der Nacht bemerkt ein Taxifahrer während einer Leerfahrt ein Rumpeln unter dem Auto. Auf der Fördestraße hat das Taxi einen Körper erfasst und fast zwanzig Meter mitgeschleift. Doch der Mann auf der Straße war zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Vermutlich hatte ihn ein anderes Fahrzeug vorher an der Trampstelle vorsätzlich überfahren. Schon seit Jahren wurden hier unliebsame Tramper mit Gesten und Lenkmanövern eingeschüchtert. Waren es sogar wieder die gehirnamputierten Fascho-Skins, die schon einmal auf dem Fahrradweg Richtung Olympiazentrum mit dem Auto auf Menschenjagd gingen? 

.............................

Ein 15-jähriger Pseudo-Punk schließt sich der Kieler Punkszene an und erlebt eine wirklich krasse und geile Zeit, die in den Hannoveraner Chaostagen 1983 ihren Höhepunkt findet. Rätselhaft ist, weshalb er sich urplötzlich der neu entstandenen Skinheadszene um die verruchten Ex-Punks Gonnrad und die Konz-Brüder anschließt. Was hat ihn dort reingeritten? Als der Jugendliche später erkennt, dass die ersten Skins rechtsradikale Tendenzen annehmen, versucht er sich aus der Szene zu lösen. Doch das stellt sich als gar nicht so einfach dar. Schließlich zieht er nach einem weiteren Zwischenfall die Reißleine, auch wenn er gerne weiter Skinhead geblieben wäre – England-Style und arbeiterklassemäßig, so wie in der Anfangsphase. Er schafft den Ausstieg nach einer brutalen Schlägerei mit Stidi, einem der Oberskins. Doch der Preis ist hoch. Sein Gesicht ist zerschlagen und sein Ruf ruiniert. Viele Punks sind nachtragend und können ihm die Exkursion in die seltsame Welt der Skinheads nicht verzeihen. Und auch für die Skins ist die Messe noch nicht gelesen. Es gibt massiven Ärger mit beiden Seiten. 

.........................................

Der Wahnsinn der 80er: Selbstzerstörerische Punks, pöbelnde Altnazis, marodierende Skinheads und Straßenclubs, aufstrebende Jungnazis und überforderte Polizisten auf den Chaostagen. Nach einer Straftat an einem Rocker strandet ein desorientierter Skinhead auf einer Silvesterparty von Normalos: „Ich erinnere mich daran, dass es in der Wohnung sehr hell war. In meinem Suff kritzelte ich noch etwas an die weiße Tapete im Flur: ‘Oi! Oi! Oi!’, den Erkennungsruf der Skinheads. Doch ich bekam Angst, dass das auf uns zurückgeführt werden könnte, und ich malte ein T davor: ‘Toi! Toi! Toi!!“

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum28. Dez. 2018
ISBN9783743891425
Pseudo: Ein Punkroman

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    Buchvorschau

    Pseudo - Roland Scheller

    PSEUDO

       Roland Scheller

       Pseudo

    Die Kieler Punkszene Anfang der 80er aus der Perspektive eines Pseudos

    2. überarbeitete Auflage

    Copyright © 2017 Roland Scheller

    All rights reserved.

    Die Handlung und alle Personen in diesem Roman sind frei erfunden.

    Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und unbeabsichtigt.

      „Perfektion ist Sache der Götter"

    Beton Combo

    Sitzblockade Lerchenstraße ('81 oder '82)

    Räumung der besetzten Häuser Sophienblatt '81

    Lerchenstraße, Screenshot Der Häuserfilm © Filmgruppe Chaos

    Proteste am Sophienblatt, 4. Nov. 1981 © Mathias Muthmann

    I. PUNK

    Die Mülldeponie

    Ich verbrachte einen Teil meiner Kindheit auf der Mülldeponie Schusterkrug. Die Müllhalde nannten wir liebevoll Ramscher. Dort suchten wir, mit unseren Ramscherhaken im Abfall scharrend, nach brauchbarem Unrat wie Abzeichen, Kokaden und Uniformknöpfen. Wir fanden Nazi-Seekarten, Grabsteine, Patronenhülsen, Gewehrübungsgranaten made in Israel, Panzerfaustumhängetaschen – all den ganzen Dreck – und stocherten in Haushalts-, Militär- und blutigen Krankenhausabfällen, bevor die Müllberge von Planierraupen untergekehrt wurden. Es wimmelte hier von Ratten, Krähen und Möwen, die sich verflüchtigten, wenn wir uns bemerkbar machten. An einer Stelle hing eine tote Krähe an einem Draht kopfüber von einer Metallplanke. Hier und da verreckte Möwen und halbverweste Ratten.

    Jedes Mal, wenn wir den Müllplatz betraten, mussten wir die Bahngleise überqueren, über die zu bestimmten Uhrzeiten fabrikneue Panzer von langsam fahrenden Zügen aus Friedrichsort abtransportiert wurden. Die Weinbergschnecken, die wir sammelten und auf die Bahngleise legten, um sie von den Panzertransporten plattwalzen zu lassen, hatten nur geringe Überlebenschancen. Unsere Schrottplatzfundstücke tauschten und verscherbelten wir später an andere Kids aus dem Ort und verheimlichten, dass sie bereits im Dreck lagen. Vermutlich war das Stochern im Müll ein Wegbereiter für meine spätere Leidenschaft zum Punk.

    Proteste am Sophienblatt, 4. Nov. 1981 © Mathias Muthmann

    Treffpunkt KinderspielplⒶtz

    Ich erinnere mich noch ganz gut an die kaputten Tage mit 15 im Jahr 1982. Es war ziemlich kalt zu der Jahreszeit, und wir froren uns den Arsch ab. Als meinen Einstieg in die Punkszene betrachte ich meinen ersten Besuch bei den Wiker Punks auf dem kleinen Spielplatz im Düvelsbeker Weg, gleich hinter dem Penny-Markt. Wir wagten uns zu viert dorthin: Franka, Hecker, Steff und ich. Wir wollten demonstrieren, dass wir uns mit den Punks dort identifizieren. Hier trafen sich jeden Samstag Punks aus ganz Kiel, nahmen die kleine Holzhütte zwischen den Spielgeräten in Beschlag und tranken lautstark ihr Bier. Dazu tönte harte Punkmusik aus einem kleinen Kassettenrekorder, den meistens der Wiker Punk Barne mitbrachte.

    Die Hütte erwies sich von innen als übersät mit kleinen Punk-Graffitis wie

          Never trust a Hippie!,

          „Wik-Punx '81" oder

          „Gott, schaff uns ein Fünftes Reich, das Vierte ist dem Dritten gleich."

    Schräg gegenüber vom Spielplatz am superversifften Toilettenhäuschen Belvedere stand

          „Kein Reich, kein Volk, kein Führer",

    was ich fast täglich auf dem Schulweg lesen durfte.

    Ich hatte früher schon mal eine kleine Gruppe Punks während der Kieler Woche an der Kiellinie gesichtet und einen vereinzelten Punk mit einer Kiste Bier am Falckensteiner Strand. Ich wusste sofort:

          „Das ist genau mein Ding!"

    Als wir uns damals zum ersten Mal zu viert bei den Punks auf dem Penny-Spielplatz blicken ließen, stand die kleine Franka die ganze Zeit neben mir. Auch sie war an diesem Tag eine Newcomerin in der Punkszene auf dem Spielplatz. Sie befand sich an unserer Schule einen Jahrgang unter mir, und wir hatten gemeinsam auf dem Raucherschulhof ausgeheckt, den Punks auf dem Spielplatz einen Besuch abzustatten. Obwohl Franka mit ihren langen, blonden Haaren unwahrscheinlich hübsch aussah, wurde sie anfangs von den Punks ebenso ignoriert wie alle anderen in unserer kleinen Traube, bestehend aus tuschelnden Pseudos. Es war uns ein wenig peinlich, dass einer der Punks in der Holzhütte Porno-Bob hieß. Die Punks riefen immer wieder laut seinen Namen:

          „Porno-Bob, mach dies! Porno-Bob, mach das!"

    Der Mann war volltätowiert und pfiff schon auf dem letzten Loch. Ich weiß nicht, ob er das Jahr ’82 überlebt hat. Wir mussten trotzdem lachen und schauten uns verschämt an. Angetan von der Szene, legte sich auch Franka bald ein Punk-Outfit zu und verschandelte sich ihr langes, blondes Haar. Sie trug fortan auf der einen Seite kurze, auf der anderen Seite lange Haare. Postwendend kam sie mit Mattern von den Wiker-Punks zusammen.

    Wir hatten sofort Gefallen gefunden an der harten, kompromisslosen Musik mit den teils rebellischen, teils kaputten Texten und am provokativen Verhalten und Aussehen der Punks. Deshalb wollten wir unbedingt dabei sein. Die Musik und die Sprüche, mit denen wir uns einpeitschten, erzeugten in mir eine skeptische Haltung der Gesellschaft gegenüber und ein gesundes Misstrauen gegen jede Form von Autorität. Bei jedem weiteren Besuch auf dem Penny-Spielplatz versuchte ich mich den Punks weiter anzupassen, denn ich war mir sicher, hier meinen Lebensstil und meine Form des Protests gefunden zu haben.

    Ganz groß war das Thema Alk. Oftmals wurde Komasaufen nur deshalb verhindert, weil nicht genügend Geld für Alkoholika zur Verfügung stand. Wir bewegten uns häufig in einem alkoholbedingten Dämmerzustand. Doch es ging auch ohne viel Geld bis zum Äußersten. Wir ahnten noch nicht, was wir unseren Teenager-Gehirnen durch die regelmäßigen Alkoholexzesse antaten. Einige Punks hatten vom Saufen schon entstellte Gesichter oder einen leichten Tick. Wir gingen über unsere Grenzen hinaus – alkoholisch, verbal und praktisch. Es wurde übertrieben gerülpst, gerotzt, die Fresse verzogen und Visage gerissen. Richtige Teenage-Punks wollten kaputt wirken, krank aussehen, laut husten und Rotz hochziehen. Das lernte ich schnell. Das Losziehen mit den Punks vermittelte mir Selbstvertrauen und ein ganz neues Lebensgefühl. Ich konnte bei den Punks alles kompensieren, was ich in der Schule von aggressiven oder rechtsorientierten Mitschülern und in meinem Stadtteil von irgendwelchen Acern einstecken musste. Immer wenn ich mit den Punks auf Tour war, witterte meine Nase einen süßen, parfümähnlichen Duft. Das war extrem komisch. Ich habe keine Erklärung dafür, wie diese Sinneswahrnehmung zu Stande kam. Sie wirkte wie ein Rausch. Vielleicht war es der Geruch von dem Bier und der Seife, die ich mir in die Haare schmierte, den mein Gehirn in bestimmten Momenten immer wieder assoziierte? Diese Momente hatten für mich Suchtpotenzial.

    Das Gesprächsthema Punkmusik war für alle auf dem Spielplatz von immenser Bedeutung. Wer zuerst eine angesagte LP, EP oder Single besaß, war ein Vorreiter. Es gab nicht besonders viele Plattenläden, in denen wir gute Punkscheiben kaufen konnten. Einer der Läden hieß Tutti Frutti. Die Besitzerin Tutti und ihr Mann, die beide gemeinsam gut gestylt hinter dem Verkaufstresen standen, führten neben New Wave stets aktuelle Punkscheiben im Programm, die wir uns direkt im Laden anhören konnten. Auf dem Tresen stand eine Box mit Singles lokaler Bandgrößen wie Code 7 oder wie die in der Punkszene zu der Zeit verhassten No More.

          Für viele Punks waren Plattenkäufe eine Frage des Portmonees und deshalb mitunter ruinös. Aus diesem Grund waren alle glücklich, dass Tapes existierten, und damit die Möglichkeit, geliehene Platten zu kopieren oder einen eigenen Sampler zusammenzustellen. Einige kopierten sogar Tapes oder Sampler mit Doppelkassentenrekordern, mit zwei Tapedecks oder Doppeltapedecks. Zu der Zeit fing auch der Bootleg-Handel an wegen der brillanten technischen Möglichkeiten zu florieren. Ich verzichtete weitestgehend auf Investitionen wie Klamotten, Kino, Tätowierungen und teure Drinks, um mir hin und wieder mal ein paar gute Punkscheiben kaufen zu können. 

    Einige Punks bestellten ihre Scheiben im Plattenversand. Ein solcher Versand war Vinyl Boogie in Berlin, der einmal im Monat die Pissgelbe Punkliste rausbrachte, aus der wir regelmäßig bestellten. Zusätzlich bot Vinyl Boogie per Anrufbeantworter, auch Pogophon genannt, das sogenannte Pogophon-zine an, das Infos über aktuelle Ereignisse in der Punkszene verlautbarte. Es war jedes Mal wie ein kleines Weihnachtsfest, wenn ein Paket aus Berlin eintraf. Wir bemühten uns bei der Auswahl aus der Bestellliste, denn wer die interessanteste Plattensammlung besaß, war in der Clique ein kleiner König.

    Viele Leute aus der Punkszene wirkten extrem abgedreht. Einige sahen ganz normal aus, hatten jedoch eine Plattensammlung, die nur aus den härtesten Punkscheiben bestand. Andere standen explizit auf Ami-Hardcore. Wieder andere sahen aus wie die härtesten Punks, hatten aber keine Ahnung von Punkmusik. Einige waren richtige Fetischisten, bewunderten eine einzige Band, auf die sie permanent abfuhren, und hörten fast nichts anderes. Zu diesen Bands, die richtig süchtig machen konnten, gehörten die Dead Kennedys aus San Francisco. Du musst Dir das so vorstellen, dass eine LP so oft wieder und wieder gehört wurde, bei Bedarf umgedreht und wieder von vorn gespielt, bis sie irgendwann anfing zu knistern, zu knacken und zu rauschen. Dieser Effekt wurde noch erhöht, indem sie mehrfach verliehen, mit fettigen Fingern angefasst und nahezu kaputt gehört wurde. Hinzu kamen Haare, Staub, Schuppen und andere Teile, die dort nun mal so landen.      

    Ich hatte damals im Prinzip gleich mit Punk angefangen, war dennoch nur ein Freizeitpunk. Zwar war bis dato mein größter musikalischer Schatz ein selbst zusammengestelltes Tape mit Radio-Aufnahmen von Neue Deutsche Welle-Bands wie Abwärts, Nichts, Ideal, Extrabreit, Fehlfarben und The Wirtschaftswunder. Doch das verlor immer stärker an Bedeutung, je weiter ich auf die Punkrolltreppe geriet. Ich nahm mir anfangs immer mehr Punk-Songs aus dem Radio auf Tape auf, darunter Homicide von 999 oder War on the Terraces von Cockney Rejects. In den Radiosendungen wurde sogar Accidents never Happen von Blondie und Songs der Heavy Metal-Band Holocaust vom Moderator als Punk angekündigt. Bei einem der Songs verstand ich den Namen der Band nicht, und kenne ihn heute immer noch nicht. Ich nahm den Song auf, bei dem eine Frau sang. Der Refrain lautete:

          Nothing really happens at all.

    Er gehörte fortan zu meinen Lieblingssongs. Als ich in meinem Zimmer auf einem kleinen Radio-Wecker zum ersten Mal in meinem Leben Anarchy in the UK von Sex Pistols hörte, knallten mir regelrecht die Sicherungen durch. Ich stand in dem winzigen Verlies mit übergroßem Why?-Poster und einem Konkret-Poster mit einer abgebildeten Folterszene und wurde leicht verhaltensgestört. Ich wollte den Song unbedingt immer wieder hören, hatte ihn aber nicht aufnehmen können. 

    Mein erstes Sampler-Tape bekam ich damals von Brandy geschenkt. Darauf befanden sich unter anderem Upright Citizens, GBH, Stiff Little Fingers, Anti-Pasti, Kaltwetterfront, OHL, die Krupps, Blitzkrieg und Aristocats. Brandy hatte mich musikalisch richtig angefixt.

    Ich erhielt meine allererste Platte, The Great Rock And Roll Swindle von den Sex Pistols, durch ein Tauschgeschäft im Freundeskreis. Zu der Zeit schreckte ich vor Ladendiebstahl nicht zurück, ließ manchmal Zigaretten mitgehen. Ich bekam diese Sex Pistols-LP für eine Packung geklaute Zigaretten. Allerdings war das Cover der LP kaputt, denn der Vorbesitzer hatte die gezeichnete Figur des Sängers Johnny Rotten ausgeschnitten und für eine Kollage verwendet.                                   

    An meine zweite Platte, Punks not Dead von The Exploited, gelangte ich durch knallharten Ladendiebstahl. Ich ging mit einem Kumpel in den Plattenladen Membran am Alten Markt. Hier gab es auch die LP der englischen Band The Wall Personal Troubles And Public Issues für 99 Pfennig – nichts Besonderes, aber vom Preis her ein Muss für jeden Punk. Ich schlich mich dort in die äußerste Ecke, in der die Punkscheiben standen, und schob mir Punks not Dead unter die Jacke. Meine Hände steckte ich in die vorderen Hosentaschen, sodass die Platte nicht unten rausrutschen konnte. Mein Komplize ließ sich derweil an der Kasse eine Single vorspielen und verwickelte den Verkäufer, einen Alt-Punk mit blond gefärbten Haaren, der sowohl Nietenarmband als auch einen Nietengürtel trug, in ein Fachgespräch über Punkbands. Unauffällig ging ich am Verkäufer vorbei, der lässig auf einem Barhocker neben der Kasse hockte, von wo aus er den gesamten Laden überblicken konnte. Was ich nicht bemerkte, war die Tatsache, dass der obere Rand der LP-Hülle kurz oberhalb des letzten geschlossenen Knopfes meiner Jacke hervorlugte. Das bemerkte der Kassenpunk zum Glück nicht. Erst draußen informierte mich mein Komplize Steff über diesen Umstand. Wir entfernten uns langsam vom Ort des Diebstahls, und die Platte wurde schnell als Kultplatte erkannt, auch wenn Exploited vielen Punks peinlich war.

    Ich bekam eine gezockte Sounds-Zeitschrift in die Hand, in der mehrere Punkplatten besprochen wurden: Anti-Pasti Caution in the Wind, Exploited Troops of Tomorrow, Chron Gen Chronic Generation, Discharge Hear Nothing, See Nothing, Say Nothing, Anti-Nowhere League We are …. the League und Bad Brains Rock for Light. Als ich von Vielmann die Discharge-LP in die Hände bekam, schrieb ich mir die Lyrics aus dem Klappcover ab. Wörter, die ich nicht kannte, übersetzte ich. Das trug dazu bei, dass mein Englisch in der Schule nicht noch schlechter wurde. 

    Ich saß in meinem Zimmer auf der Couch und hörte die neue Discharge-LP. Die Boxen standen links und rechts auf Kopfhöhe neben der Zweisitzercouch und waren frontal aufeinander ausgerichtet. Meine neue Billig-Anlage war voll aufgedreht und ich saß genau in der Mitte.

    Als der Song Free Speech For The Dumb lief, kam mein Großvater ins Zimmer. Er sah mich an und fragte:

    „Bist du aisch?"

    und lachte. Als in dem Moment der folgende Song The End mit dem kurzen Piepston am Anfang begann, schüttelte er entsetzt den erhobenen Zeigefinger und schloss die Tür. Ich hörte die Platte mit unverminderter Lautstärke zu Ende.

    Ebenfalls bei Membran preiste ich eines Tages heimlich ein paar Platten um, einmal riss ich das 21,95 D-Mark-Preisschild der GBH-LP City Baby Attacked By Rats ab und ersetzte es durch einen anderen Aufkleber in Höhe von 9,95 D-Mark, den ich zuvor unbemerkt und vorsichtig von einer anderen Platte abgelöst hatte. Ich war so gerissen und fragte meine Mutter, als ich mit ihr durch die Stadt zischte, ob sie mir die Platte kaufen könnte. Das Geld bekäme sie später wieder. Sie erfüllte ihrem Schützling den Wunsch, und zum Glück fiel die miese Aktion nicht auf. Es wäre eine unendlich peinliche Situation gewesen. Die Aktion tat mir später leid, wie so manch anderes auch. Gar nicht auszudenken, wenn Membran meiner Mutter Betrug vorgeworfen hätte.

    Später stand bei Membran plötzlich ein ganz frischer Batzen der zweiten Chaos U.K.-EP Loud Political & Uncompromising mit den Songs No Security, What about a Future und Hypocrite im Regal direkt neben der Kasse. Ich ließ sie mir laut im Laden vorspielen. Mir war sofort klar, dass ich die EP haben musste.  

    Zu dieser Zeit führte an Punkscheiben aus Finnland kein Weg vorbei. Wer hier mitreden konnte, galt als etwas. Barne war der erste, der mir von finnischem Punk erzählte. Barne zählte zu den aufmüpfigsten Punks, die ich je kennengelernt habe. Mit seiner runden Nickelbrille und einer blondierten Punkfrisur, war er ein kleiner Spezialist im Vergeben von treffenden und provokativen Spitznamen und versuchte jeden aus der Reserve zu locken. Andere hatten es schwer, seine Sprüche zu überbieten. Er nannte mir die Bands Tervet Kädet und Riistetyt. Bald lief zum ersten Mal finnischer Punk über Kasi-Rekorder auf dem Spielplatz hinterm Penny-Markt oder in der Waschhalle am Dreiecksplatz, wo wir ebenfalls manchmal abhingen. Solange die Batterien noch einigermaßen Saft hatten und das Tape nicht anfing zu leiern, konnten wir uns und die Anwohner ausreichend mit unserer Musik beschallen. Es war uns ein Rätsel, weshalb Punk aus Finnland dermaßen durchschlug. Die Finnen hatten kapiert, worum es ging. Ich musste nach den ersten Hörproben unbedingt in den Besitz von finnischer Punkmusik gelangen. Deshalb bestellte ich mir bei Vinyl Boogie meine zwei ersten finnischen Punk-Singles. Als ich in die Pissgelbe Punkliste blickte, bemerkte ich diverse finnische Punkplatten: Singles, EPs und LPs. In dieser Kult-Liste, die mir regelmäßig aus Berlin per Post zugestellt wurde, stand hinter jedem Bandnamen in Klammern das Kürzel des Herkunftslandes. Ich stieß auf eine Single von Kaaos (Finn) – „Totalinen Kaaos" und den Pultii Sampler (Finn). Jeder Punk erkannte sofort, dass es sich um finnischen Punk handeln musste. Ich bestellte ohne zu zögern. Die Kaaos-Single war die reinste Raserei. Der Pultii-Sampler, eine EP, zeigte auf dem Cover einen urinierenden Punk. Jetzt konnte ich schon ein bisschen mehr mitreden. Vielmann mit seiner runden Nickelbrille trieb inzwischen einen Punk-Sampler auf, der Propaganda hieß, auf dem die derzeit wichtigsten finnischen Punkbands vertreten waren. Wir hörten den Sampler bis zum Erbrechen. Diese unbeschreiblichen Glücksgefühle ermöglichten uns die wenigen Plattenläden, die Punk führten, und unser geliebter Plattenversand in Berlin. Es war jedes Mal ein unfassbarer Kick, wenn die Pissgelbe Liste per Post eintraf. Die Liste war mit Trash-Effekt kopiert und von DIN-A4 zu DIN-A5 gefaltet. Manchmal war sie sogar hellgrün oder hellblau.

    Wir versuchten, bei einigen der Refrains der finnischen Punk-Songs aus vollem Halse mitzusingen, obwohl uns die Bedeutung der Texte meistens nicht im Geringsten klar war, so auch bei Riistetyts Painu Helvettiin Natsiäpärä. Jemand klärte uns auf, dass besagter Refrain auf Deutsch „Hau ab, du altes Nazi-Schwein bedeutet. Später kam noch ein zweiter Propaganda-Sampler auf den Markt, den wir uns natürlich ebenso reinzogen. Auf dem Cover, dem Innencover und dem Label-Aufdruck waren Punks in allen möglichen Posen zu sehen: Trinkend, feiernd, urinierend und vögelnd. Die finnische Punkmusik war für uns die Seele des Punk schlechthin. Diese Punkwelle traf uns hart. Von jetzt an durfte diese neuartige Musik auf keiner Party fehlen, egal, ob sie privat stattfand, auf dem Spielplatz hinter dem Penny-Markt oder im Waschsalon. Wir verhielten uns noch derber, noch obszöner und noch frivoler. Und für die Musik, die wir hörten, gab es nur ein Motto: Schneller, lauter, härter! Finnische Punkplatten wurden in der Szene gerne entliehen und nicht zurückgegeben. Finnen-Punk besaß einen hohen Tauschwert und wurde auch bei Wetten aufs Spiel gesetzt, sofern man sich hundertpro sicher war. Doch bald schwappte die nächste Welle zu uns herüber, die einige schon erahnt hatten, diesmal aus Ami-Land. Über eingängige Fanzines und über die Pissgelbe Punkliste erfuhren wir von dem Phänomen Ami-Hardcore. Sampler wie This Is Boston, Not L.A. und Decline of the Western Civilisation" zeigten uns, wo es in Zukunft langgehen sollte.

    Bei Vinyl Boogie mussten wir immer sofort ohne langes Zögern bestellen, wenn die Pissgelbe Liste mit der Post aus Berlin eintraf, sonst waren die besten Scheiben bereits vergriffen. Ich wollte einmal unbedingt EPs von Rudimentary Peni und den Necros ordern. Sie gehörten zu den Bands, deren Singles und EPs übermäßig viele Songs enthielten. Das war meistens ein einziges Geschrei und Geschrammel, das nach nur wenigen Sekunden durch kurze Pausen unterbrochen wurde, als handelte es sich um ein einziges, zerhacktes Stück. Einige EPs mussten sogar auf 33 abgespielt werden, was zusätzlich für Freude sorgte, manchmal aber auch für Verwirrung sobald der Gesang einsetzte. Ich wartete jedoch mit dem Bestellen in diesem Fall zu lange und sah die Scheiben nie, denn in der neuen Liste des Folgemonats waren die EPs schon nicht mehr gelistet. Ausverkauft. Wir versuchten zwar manchmal, Scheiben aus den Vormonaten, die nicht mehr in der neuen Liste standen, später zu erwerben, doch das klappte nie. Was weg war, war weg. Dieser Umstand erzeugte bei uns einen regelrechten Kaufrausch, sodass wir bald jeden Monat unmittelbar nach Eintreffen der Liste eine Bestellung aufgaben, auch wenn es pro Person manchmal nur eine LP oder zwei Singles waren.

    Wir mussten uns ständig kurzschließen, um mit mehreren Leuten bestellen zu können, damit wir uns das Porto teilen konnten. Vor Ankunft des Pakets sammelte einer von uns – der Empfänger – das Geld ein, damit sofort per Nachnahme bezahlt werden konnten. Verpassten wir den Paketwagen, lagerte die Post unsere Platten eine Woche lang im Postamt Karlstal in Kiel-Gaarden. Es passierte mehrmals, dass wir das Paket nicht direkt an der Haustür annehmen konnten. Also fuhren wir am Folgetag mit einem kleinen Grüppchen aufs Ostufer, um das Paket in Empfang zu nehmen und zu bezahlen. Der Karton wurde daraufhin unmittelbar noch im Postgebäude aufgerissen und die Platten den Besitzern vor Ort ausgehändigt. Es war wie ein gemeinsames Weihnachtsfest. Beglückt fuhren wir zurück nach Kiel-Nord und begutachteten stolz unsere brandneuen Scheiben im Bus.

    Bald nahm ich mir vor, Singles der Labels Riot City Records und No Future zu sammeln, denn trotz der Finnen-Punk- und Ami-Hardcore-Wellen stand ich langfristig eher auf englischen Punk. Deutschpunk hatte bei mir kaum eine Chance. Es musste schon etwas Herausragendes kommen. Da war ich straight. Besonders Berichte auf Cover, Innencover und Poster ließen mich nicht kalt, ebenso Bandinfos, politische Statements oder Gewaltaufrufe. Es war absolut meine Welt, die englischen Punk-Lyrics mitzulesen, während parallel dazu laut die Platte lief.

    Mit jeder Bestellung kamen neue Highlights, so auch die erste LP von The Partisans, die mir ein ganz neues Lebensgefühl vermittelte. Ebenso die erste Chaos U.K.-LP, die mir mit ihrem blauroten Cover wegen meiner Rot-Grün-Blindheit schmerzhaft in die Augen stach. Ich war nicht in der Lage, das Cover mit meinem Blick zu fixieren. Meine Pupillen weiteten und verengten sich im Rhythmus meines Pulses – ein unglaublicher Effekt. Immer wenn ich die Maxi-Single Politicians and Ministers von The Threats hörte, wäre ich am liebsten Teenage-RAF-Terrorist geworden. Solche Gefühle vermochte diese rote Hochglanz-Maxi mit dem tanzenden Gerippe vor dem Palace of Westminster auf dem Cover in mir auszulösen.

    Obwohl ich mittlerweile eine hochgestellte Punkfrisur, zerschlissene Jeans, Springerstiefel, eine bemalte, mit Nieten besetzte Lederjacke, einen selbstgebastelten Nietengürtel und ein ebenso aufwendig selbsthergestelltes Nietenarmband besaß, fühlte ich mich von den meisten auf dem Spielplatz allenfalls akzeptiert. Allerdings konnte ich diese Aufmachung nicht in meiner damaligen Schule tragen, der Hebbelschule Kiel. An diesem Gymnasium, ganz in der Nähe des Marinestützpunktes, wehte erwiesenermaßen immer noch ein ziemlich militärischer Geist. Das sogenannte „Gymnasium für Jungen und Mädchen" galt als eines der besten der Stadt. Es war ursprünglich ein reines Jungengymnasium, doch seit Ende der 60er-Jahre durften dort auch Mädchen den Unterricht besuchen. Es war ein humanistisches Gymnasium, und gerade die Lateinlehrer galten als besonders streng. Vom Zentrum aus war die Schule mit der Linie 1 schnell zu erreichen, allerdings kamen auch viele Schüler von außerhalb.

    Die Kegel- und Pyramidennieten kaufte ich mir in großen Mengen bei türkischen Schneidern irgendwo in der Stadt. Die Springerstiefel besorgte ich mir für einen Appel und ein Ei second-hand an einem Rampenladen in der Werftbahnstraße in Gaarden. Eigenhändig nach Augenmaß übertrug ich den verschnörkelten Conflict-Schriftzug vom Cover der It's Time to see who is who auf die zerschlissene Jeanshose.

    Niemand traute sich damals, seine bemalte Lederjacke mit in unsere Schule zu nehmen, denn es gab ein paar Lehrer, die das nicht duldeten. Einige Punks besaßen eine Zweitlederjacke, die unbemalt blieb. Doch selbst die trauten sie sich anfangs nicht in der Schule zu tragen. Nur auf Schulfesten, wenn viel Alk im Spiel war und die wenigen Aufsichtspersonen den Überblick verloren, wurden wir kleidungstechnisch mutig.  

    Jedes Mal, wenn ich mit meiner Nietenjacke jemandem den Rücken zukehrte, war ich oberstolz, denn ich wusste, dass die Person mit Sicherheit den großen Schriftzug Chaos U.K. lesen würde, den ich dem Originalemblem der ersten beiden Singles nachempfunden hatte. Diese Form von Exhibitionismus besaß wohl jeder Punk, der den Namen seiner Lieblingsband auf dem Rücken trug. Regelmäßig kamen Punks deshalb miteinander ins Gespräch: 

          „Hast du die LP von Chaos U.K. schon gehört?", 

    oder: 

          „Was ist denn Mayhem?"

    Einige Punks bemalten sogar ihre Stiefel mit einem Lackstift oder Tipp-Ex.   

    Die Gespräche in der Holzhütte auf dem Penny-Spielplatz waren außerhalb der Hütte wegen des Sounds des Kasi-Rekorder schlecht zu verstehen. An den Satzfetzen ließ sich erkennen, dass sich die meisten um Punkmusik oder ums Saufen drehten. Die Punks zeigten viel Situationskomik – auch beim Urinieren und Entsorgen von Leergut. Einzelne Leute wurden provoziert, es wurden szenetypische Songs gesungen. Wenn eine Palette Billigbier zur Verfügung stand, war die Welt in Ordnung. Allerdings bekam nicht jeder etwas davon ab, deshalb tat man gut daran, sich eigenes Bier mitzubringen, das man sich möglichst nicht abnehmen lassen sollte. Wer sich nicht traute, nach einem Bier zu fragen, galt ruckzuck als Pseudo, also als Pseudo-Punk oder sogar als Mitläufer. So hatten auch Punks ihre Eigenart, andere zu schikanieren und zu Außenseitern unter Außenseitern abzustempeln.

    Und wenn es bei Fehlverhalten mal wieder ironisch hieß:

          „Was ist das überhaupt für eine Einstellung?"

    spielte sich daraufhin ein kleines Psycho-Drama unter den Punks ab, das der gegenseitigen Erquickung und Erbauung diente.

    Frappierend war der Hang der Punks zur Destruktivität. Nicht nur, dass wir gerne Gegenstände malträtierten, wir litten auch unter einer typischen Form von Autodestruktion, die sich im Suchtverhalten und speziell in der Sprache widerspiegelte. Viele entwickelten einen bösartigen Zynismus und den dazugehörigen Verzweiflungswortschatz. Besonders den Wortschatz der Alkies und Kaputtniks imitierten und parodierten wir in jungen Jahren brillant, obwohl wir selbst schon halbe Alkoholiker waren:

          „Meine Leber piert!"

          „Der Bierbauch platzt!"

          „Was zum Süppeln!"

          „Hast mal ’nen Hief!"

          „Nur noch den Klapperschluck!"

          „Muss den Nachdurst bekämpfen!"

          „Mein Kopf platzt gleich!"

          „Oben Dose rein und gut!"

    Auch runterkippen, Abgabe, Kopp wegsaufen, Birne wegknallen, in den Rachen kippen, wegschmettern und antrinken gehörten dazu. Das klingt zwar alles recht düster, doch der Spaßfaktor war trotzdem ungemein hoch. Außerdem waren kleine Abziehdelikte typisch für die Kieler Punkszene. Es kam nicht selten vor, dass Platten entliehen wurden mit der vollen Absicht, sie zu behalten oder weiterzuverschenken. Darunter hatten besonders junge Punks zu leiden, die noch nicht etabliert waren – auch Töle und Monko-Rolf wurden abgezogen.

    Eines Tages kreuzte unser Brandy bei Töle zu Hause auf und lieh sich sage und schreibe 20 bis 30 neuwertige LPs, darunter Scheiben von Vorkriegsphase, Varukers, Chaotic Dischord, F.U.’s, Tervet Kädet, die Riistetyt mit blauem Vinyl und den ersten Propaganda-Sampler. Er versprach hoch und heilig, die Platten schnellstmöglich wieder zurück zu bringen, sobald er sie aufgenommen hatte. Doch stattdessen verlieh er die Platten skrupellos an Leute aus der Wiker Punkszene, die das Gros der Platten nicht mehr rausrückten. Töle schaffte es zwar, von Barne eine einzige LP zurückzubekommen, aber der Rest ging unwiederbringlich verloren.

    Deshalb waren viele Punks keine wirklichen Freunde. Viele trafen sich lediglich zum Saufen und Terz machen. Aber vielleicht war das ja auch eine Art von kaputter Freundschaft in Punkzeiten?

    Im April ’82 spielten Slime im großen Saal der Pumpe. Ich peilte das gar nicht und war nicht vor Ort, was meinen Pseudo-Status weiter untermauerte. Ich erhielt später einen kurzen Konzertbericht von Brandy. Slime starteten mit A.C.A.B, und es gab gleich einen unglaublichen Pogo-Mob mit Brutal-Pogo. Nach nur wenigen Songs kam es zu handfestem Ärger. Die Konz-Brüder, Krake und Konsorten suchten sich zusammen unter den Konzertbesuchern immer wieder Opfer, auf die sie sich schlagend und prügelnd stürzten. Dabei gingen sie zu dritt oder zu viert auf einen los. Der Slime-Sänger fand das nicht so toll, kam von der Bühne und versuchte lautstark den Stress zu unterbinden. Das gelang ihm schließlich und das Konzert ging weiter.

    Auf dem Penny-Spielplatz dauerte es nicht lange, bis eines Samstags zum ersten Mal die Schergen auftauchten und die Punks aufforderten, doch bitte den Spielplatz zu verlassen. Da sich die Punks in der Überzahl befanden, waren anfangs vorsichtige Diskussionen möglich. Aber am Ende mussten die Punks die Segel streichen, um einen anderen Ort zum Feiern aufzusuchen – immer mit der Angst im Rücken, observiert zu werden. Meistens nahmen die verscheuchten Punks in solchen Fällen die Straßenbahn und fuhren in die Innenstadt, wo sich die Gruppe nach und nach desorientiert auflöste. Manchmal trafen wir uns in der Waschhalle wieder, wo wir weiter zechten, manchmal fuhren wir einfach nur mit der Straßenbahn bis zur Endstation oder landeten sinnlos im Schrevenpark oder bei Hertie, wo Kiels beste Spraydosenaktion zu lesen war – eine eindeutige Kapitalismusschelte:

          „Gefühl und Hertie".

    Ich fand es superlustig, dass der Punk Smike aus Mettenhof genau wie ich den Bandnamen Blitz auf den Oberarm seiner Lederjacke gesprüht oder gemalt hatte, als hätten wir dieselbe Schablone verwendet. Wahrscheinlich hatte er genauso wie ich den Schriftzug von der LP abgepaust, auf ein Stück Pappe übertragen und ausgeschnitten. Wir unterhielten uns nie über diese Kuriosität. Echt krass. Ich zog mit irgendwelchen Punks aus ganz Kiel los, die für mich Seelenverwandte waren, und wechselte mit einigen nicht ein einziges Wort. Smike tauchte immer mit diesem Bonny auf, ein Punk mit blonden, hochgestellten Haaren, ebenfalls aus Mettenhof, ein ziemlicher Brecher, versehen mit einer bemalten und mit Nieten übersäten Lederjacke, dessen Aknenarben auch den letzten aufrichtigen Bürger in Angst und Schrecken versetzten.  

    Es ging um nichts. Wir wollten unseren Spaß, und als die Schergen sich immer häufiger auf dem Spielplatz blicken ließen, war dieser Treffpunkt plötzlich passé. Doch wir wollten uns unser Recht zu feiern nicht nehmen lassen.

    Bald blieb uns nichts anderes übrig, als unsere Partys in stets wechselnder Gruppenzusammensetzung an anderen Orten, wie Bierautomaten, fortzusetzen. Hier standen wir stundenlang auf dem Bürgersteig und tranken heiter unser Bier. Es kam häufig zu partyähnlichen Treffen und Verbrüderungsszenen. Jedoch fühlten sich auch an diesen Orten viele Anwohner in ihrer Privatheit gestört, besonders, wenn jemand Flaschen zerwarf oder zu laut gekreischt wurde. Und die Schergen mussten wieder nach dem Rechten schauen, wobei sie inzwischen nach Schema X vorgingen. Es blieb nicht aus, dass dabei die Personalien aufgenommen wurden. Das war natürlich ätzend. Gerade bei den Jungbullen hatten wir verstärkt den Eindruck, sie müssten ihre persönlichen Kisten mit den Punks austragen.

    Die Kieler Schergen waren leicht zu provozieren, und sie zahlten uns jede noch so geringe provokative Äußerung oder Geste heim – auch irrtümlich für Provokationen gehaltene Missverständnisse. Wer jedoch angetrunken „Herr Wachtmeister sagte oder auf Anweisungen mit „Jawoll oder sogar mit einem militärischen Gruß und Yes Sir! reagierte, hatte mit leichten Konsequenzen zu rechnen, die meistens im Rahmen des rechtlich Zulässigen blieben. Die Schergen beließen es in den meisten Fällen bei Drohungen und Einschüchterungen. Aber es gab auch Ausnahmen. So konnte es passieren, sofern du auf die berüchtigte Falkwache verfrachtet wurdest, dass jemand dich „aus Versehen" die Treppe herunterstieß, was meinem Cousin – damals Rocker – passierte. Bekannt war die gängige Drohung auf diesem Revier:

          „Pass auf, dass du nicht die Treppe runterfliegst."

    Das entsprach nicht der Idealvorstellung von der Polizei, die wir noch im Kindesalter in unseren Köpfen pflegten. Mit Mr. Correct schlossen wir als Punks in Reihen der Kieler Schergen keine Bekanntschaft. Die meisten Unflätigkeiten versuchten sie uns konsequent und kompromisslos abzugewöhnen. Und wenn wir als Gruppe besoffen und stolpernd wie betäubte Theaterkomparsen einer Endzeittragödie durch die Gegend zogen, hätte sicher so mancher Revierleiter am liebsten irgendeinen Psychisch-Kranken-Gummiparagrafen angewendet, um uns aus dem Verkehr zu ziehen – Verfahren mit denen sonst „gefährliche Junkies und andere als „asozial Betitelte ausgeschaltet wurden.

    Ich fühlte mich damals in der Gruppe wie ein kleiner Punkrebell. War ich jedoch in voller Montur allein auf der Straße, fehlten mir häufig Selbstvertrauen und Mut. Außerdem verspürte ich die konkrete Angst, dass meine Eltern mich in der bemalten Lederjacke sehen könnten. Diese Jacke gehörte meinem Vater und war ursprünglich ein kurzer Mantel, den ich aus dem Schlafzimmerschrank meiner Eltern entwendete und skrupellos auf Hüfthöhe mit einer langen Schere abschnitt.

    Immer wenn ich das Haus verließ, um mich mit meinen Punkkumpels zu treffen, zog ich es vor, entweder die Jacke umzudrehen oder abends unbemerkt aus dem Kellerfenster zu fliehen, um nicht die Haustür benutzen zu müssen. Auch die Haare formte ich mir in meiner Anfangsphase erst unterwegs mit Bier, da ich mich in dem Alter noch bei meinen Eltern in der Wohnstube abmelden musste. Beim Hochstellen der Punkfrisur probierte ich fast alles aus. Auch die Haarsprays und Haarlacke meiner Mutter testete ich. Etliche Leute griffen mir in die abstehenden Haare, um zu prüfen, was für Material ich verwendete und wie hart sie waren. Das ließ ich mir nicht von jedem gefallen.

    Als ich einmal mit Punkfrisur und Chaos U.K.-T-Shirt im Garten meiner Eltern stand, kam meine Tante zu Besuch und erblickte mich von der Terrasse aus. Sie musterte mich kurz und schrie entsetzt:

          „So, jetzt ist er ein Punker!"

    Da witterte auch meine Mutter allmählich das sich anbahnende Unheil. Mein schwierigster Lernprozess bestand darin, dass ich mir neben den neu gewonnenen Punkfreunden auch Feinde einhandelte. Die Jugendlichen aus der Rocker-Szene waren mir nicht wohlgesonnen, und sie wurden mitunter gefährlich, wenn sie in Gruppen auftraten. So hieß es häufig: 

          „Da, ein Punker!"

    oder ich wurde zur Rede gestellt: 

          „Was willst du darstellen, einen Punk oder was?" 

    Und es gab regelmäßig Schläge. Ich hatte jedoch häufig noch Glück und es erwischte andere, da ich in vielen brenzligen Situationen flüchtete. 

    Mein erstes Silvester als Punk war schon extrem dramatisch. Es fand eine Party im Jugendtreff Buschblick in Pries-Friedrichsort statt. Die wurde vom Motorradclub Toxavit organisiert, in dem mein Cousin Mitglied war. Ich wagte mich mit meinen Kumpels Vielmann und Wisent am Silvesterabend zum Buschblick. Als ich am Eingang nach meinem Cousin fragte, störten sich schon die ersten Rocker an meinem Punk-Outfit. Ich erhielt keine wirkliche Antwort und ging einfach hinein. Es waren überall nur aggressive, angetrunkene Rocker zu sehen. Plötzlich schrie jemand:

          „Da steht ein Punker!", 

    und eine Gruppe von Rockern setzte sich in Bewegung und hetzte mir gnadenlos hinterher. Einer von ihnen hatte einen Baseballschläger dabei. Mit meiner Flasche Mischung in der Hand sprintete ich geistesgegenwärtig los und ab nach rechts durch die Reihenhaussiedlung. Nach hundert Metern warf ich die Flasche ins Gebüsch, als die Rocker-Meute schrie:

          „Bleib stehen, du Schwein!"

          „Tötet ihn!"

    und

          „Hol' ihn Dir!"

    Die Rockerbrut verfolgte mich dermaßen ordinär pöbelnd und fluchend, dass es sogar Zelluloid-Rockern wie Marlon B. und Dennis H. übel aufgestoßen wäre. Jetzt kam ich an einer Stelle vorbei, an der ich mich in die Büsche schlagen konnte. Realisierend, dass auch der letzte Rocker an meinem Versteck vorbeigehechelt war, kauerte ich dort einen Moment wie in Schockstarre. Und als die Luft wieder rein war, verpisste ich mich unbemerkt. Kurze Zeit später traf ich meine beiden Kumpels wieder, die mir aufgebracht erzählten, dass einer der Rocker deren Köpfe nahm und gegeneinanderschlug. Ich stand wegen meines Auftritts im Treff mit Punk-Outfit als Schuldiger da. Es sollte nicht das letzte Silvester sein, an dem ich mit Rockern Probleme bekam. Mein Hass auf diese Spezies hätte größer nicht sein können.  

    Das gesamte Alltagsleben als Punk war damals total gefährlich. Wir mussten häufig wegen unseres Aussehens leiden, und ich, der in Friedrichsort eine Art Vorreiterrolle abseits der vielen Hard-Rock-Kids einnahm, war wiederholt Leidtragender der Anfeindungen. Wir bewegten uns im Jahr 1982, und die erste große Punkwelle lag bereits fünf Jahre zurück. Dennoch wurden Punks in einigen Regionen gejagt wie Karnickel. Es kam immer häufiger zu Beleidigungen, Drohungen, Angriffen, Schlägen, Benachteiligungen und Diskriminierungen. Du wurdest aus vorbeifahrenden Autos angepöbelt, beim Überqueren der Straße gaben einige Gas und im Vorbeifahren wurde bei kürzester Entfernung grundlos penetrant gehupt. Auch als Radfahrer wurde ich von Autos fies geschnitten. In vielen Situationen glotzten mir besonders Weltkriegsrentner provokativ mit übelster Mine hinterher oder musterten mich. Es gab Hundehalter, die ihren angeleinten Vierbeinern im Vorbeigehen Angriffskommandos gaben, sodass sich die Tiere wild fletschend und kläffend, fast selbststrangulierend beinahe losrissen. Das waren natürlich unvergessliche Schockmomente. Ein Leben als Punk war mitunter lebensgefährlich. Da in Kiel zu der Zeit Skinheads noch keine Rolle spielten, waren für Punks ausschließlich Rocker die

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