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Das Blühen der Finsternis
Das Blühen der Finsternis
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eBook363 Seiten4 Stunden

Das Blühen der Finsternis

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Über dieses E-Book

Camping, Bier und Rock 'n' Roll – dafür steht das Monster-FM, ein legendäres Musikfestival. Bugneat, Brenda und Chad
genießen das Event in vollen Zügen. Doch als der Auftritt der Band Stretched näher rückt, werden sie Zeugen unheimlicher Vorkommnisse.

Der junge Rockstar Mickey Hutton, Gitarrist der Band Stretched, ist ein Ausnahmetalent. Die Ausdruckskraft seiner Musik gleicht einem gespenstischen Bann, der das Publikum in Ekstase versetzt. Sein Geheimnis ist ein Buch, aus dem Dämonen sprechen. Das ›Collum Hermes Trismegistos‹ entführt ihn auf eine Seelenreise, deren Ausgang im Ungewissen liegt. Was wird der Preis sein für das ultimative Rockkonzert, welches Mickeys Namen unsterblich machen soll?

Indessen gelangt der Dämonologe Doktor Price zu einer frappierenden Erkenntnis: Das sagenumwobene ›Collum Hermes Trismegistos‹, die verheerendste aller dämonischen Schriften, existiert tatsächlich. Er begibt sich auf die Jagd nach dem Buch. Doch er ist nicht der Einzige ...

Und Sie? Ja, Sie.
In diesem Moment halten Sie Mickey Huttons geheimes Buch in Ihren Händen. Sie können mit ihm lesen im ›Collum Hermes Trismegistos‹. Sind Sie bereit?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum31. Mai 2021
ISBN9783946381907
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    Buchvorschau

    Das Blühen der Finsternis - Florian Lang

    Kapitel 1

    Hope – das war ein verschlafenes Nest, halb verloren im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten. Viele kleine Häuser mit Veranden, rechteckigen Gärten mit weißen Zaunpfählen, das Spiegelbild der abendlichen Glut in den Fenstern, wenn die Sonne hinter dem Tal verschwand. Hier kam der Strom noch aus Hochleitungen, die sich träge über die schnurgeraden Straßen zogen, von den baumgrünen Wohngegenden bis hinüber zum alten Industrieviertel mit seinen verlassenen Fabrikhallen, bröckeligem Asphalt und dem dreckigen Güterbahnhof. Der Verfall des Stahlpreises hatte das Gesicht der Stadt gezeichnet. Die alten Metallbetriebe, die das arthritische Skelett der Stadt waren, hingen am Tropf der staatlichen Subventionen. Die neuen Firmen residierten außerhalb entlang des Highways. Man konnte nicht behaupten, dass Hope so etwas wie ein Aushängeschild hatte. Es gab keine große Sportmannschaft, keine bekannten Persönlichkeiten, über die man auf Wikipedia hätte lesen können, und die Architektur war im sachlichen Stil der Siebzigerjahre stecken geblieben. Der Bahnhof mit gerade mal einem Kiosk-Container und tief zernarbten Holzbänken aus den Tagen der Prohibition galt sogar als der schäbigste in Mellow County. Die ganze Anlage wirkte ebenso provinziell wie die Streitigkeiten des Stadtrates über eine Erneuerung. Eine Station weiter, drüben in Eddisen, hatten sie ein brandneues Gebäude, das vor Glas und Stahl nur so blitzte. Dafür hatte Hope einen neuen Park – wenngleich niemand etwas damit anzufangen wusste. Die Leute waren nun mal vorstädtisch geprägt. Die meisten hatten ihr eigenes kleines Grün vor dem Haus, und so etwas will gehegt und gepflegt werden – nicht zuletzt aus rein repräsentativen Gründen. Aber vielleicht auch, um der Welt mit bescheidener Harmonie ein wenig auf die Sprünge zu helfen. Und so schien es oft, als läge das Leben in Hope unbeweglich da; als schwebte die Zeit über der Stadt wie eine Wolke, die alles mit einem feinen Anachronismus berieselte.

    In der Innenstadt gab es wenig Verkehr. Nicht einmal zu den Stoßzeiten, denn die meisten Fahrzeuge flossen vom Highway direkt in die einzelnen Stadtteile hinein. Die Autos, die man sah, fand man fein säuberlich geparkt am Straßenrand. Es gab keine nervösen Taxifahrer, kein schrilles Gehupe, keine fliegenden Schimpfwörter, keine zuckenden Neonlichter, Spielhallen, Diskotheken, keine Unruhe, die sich in den Nischen einer Skyline tummelt – nein, nicht in Hope. Pulsierende Urbanität war an diesem Ort nicht mehr als ein fernes Schauermärchen. In Hope hatte jegliche Urbanität die freundliche Mürbe von Pastelltönen angenommen.

    Wer hätte ahnen sollen, dass ausgerechnet dieses Städtchen zum Austragungsort eines der größten Festivals zeitgenössischer Rockmusik werden sollte, wenn nicht einmal Ken Garwith es geahnt hatte. Denn vor dem Monster-FM hatte es nur Ken und dessen Gespür gegeben – was bis Mitte der Achtzigerjahre so gut wie gar nichts bedeutete. Damals hatte Garwith als Dienstbote beim lokalen Radiosender Hope Melody angeheuert. Hauptberuflich, so nannte Ken es jedenfalls der Tage, war er Roadie. Er arbeitete für Bands aus ganz Mellow, die meisten davon waren mittelklassige Rock- oder Punkbands, die solide Shows in Bars und Striplokalen abliefern konnten und hinterher sämtliche Schnapsbestände trockenlegten. Ken war immer der Mann für alles gewesen – von Schraubereien am Schlagzeug, dem Besaiten der Gitarren bis hin zum Bestatten von Whiskeyleichen. Sein Repertoire umfasste die gesamte Palette an kleinen Problemen, die im Leben einer Band so auftraten. Trotzdem fehlte ihnen allen etwas – genauer gesagt das gewisse Etwas: der feine Unterschied, ob das, was man tat, Kunst war oder nur das Abbild einer gewissen Geschicklichkeit, die man mehr oder minder zufällig an einem Instrument auslebte. Und Ken konnte das fühlen – von der ersten Sekunde an, von der er sie hörte. Aber bis dahin war es ihm recht egal. Er war ein glühender, wenngleich untalentierter Hobbymusiker, und von jedem dieser Typen konnte er sich den einen oder anderen Kniff abschauen. Vor allem von einem, dem einzigen wahren Künstler, für den er je die Saiten aufgespannt hatte: Joey Sola.

    Anfangs war dieser Joey ein ruhiger, aber auch total verlotterter Kerl gewesen. Einer, von dem die Leute sagen, er könne nur Künstler oder Säufer werden. Joey hatte irgendwie beides hinbekommen. In seinen guten Jahren, Anfang der Achtzigerjahre, hatte er für einige talentierte Bands im Studio gearbeitet. Darunter Vertreter wie The Fresh Titans oder die Jungs von The Olliest aus Templeton, die, neben einer Tournee in Übersee, sogar einen Song in den Top 200 vorzuweisen hatten. Ken hatte den Gitarristen, den es damals von L.A. nach Mellow verschlagen hatte, für gerade noch zwei Jahre gekannt. Denn länger als bis zum Alter von siebenundzwanzig hatte Joey nicht durchgehalten – Todesursache unbestimmt, wie aus dem Nichts. Manche jedoch, die wenigen, die er bis zum Ende an sich heranließ, hatten seinen Tod auf eine unterschwellige Weise kommen gesehen; vielleicht so, wie man manchmal ein nahendes Unwetter in der Luft fühlt. Letzten Endes konnte niemand genau sagen, was die Veränderungen in Sola auslöste, oder ob es gar so etwas wie eine kausale Entwicklung hin zu seinem Tod gab.

    Eines war für Ken jedoch klar: Joey war ein wahrer Künstler gewesen. Wenn er spielte, spielte er nicht einfach nur Gitarre. Er spielte die Gitarre mit sich selbst. Seine Zerrissenheit zwischen Sehnsüchten und Realität, sein Schmerz aus einer Kindheit zwischen Gewalt und Drogen – all dies hatte er nie in Worte fassen, jedoch aus seiner Fender holen können. Er vertonte Emotionen. Er konnte sie zuspitzen zu einem Bündel an berauschenden Gefühlen, konnte beim Hörer bis auf den Grund der Seele stoßen wie eine Fingerspitze, die in eine stille Wasseroberfläche tupft. Es war seine Magie, verborgene Gefühle, die in uns allen schlummern, anzurühren, sie mit den seinen schwingen zu lassen. Kein Schmerz war einsam vor der Musik von Joey Sola. Auch der geheimste nicht.

    »Du musst eine Vision haben für jeden Ton«, hatte er einmal zu Ken gesagt.

    Sie waren zusammengesessen, beide mit ihren Instrumenten.

    »Hier, schau her!« Joey glitt mit dem Finger die Saite hinauf, um einen Ton zu greifen. Der Verstärker gab ihn als ein erstauntes Summen wieder.

    Allein dieser einfache Griff hörte sich bei ihm schon an wie richtige Musik, fand Ken. »Ja, das ist stark«, sagte er.

    Joey lachte sein schnoddriges, etwas dümmlich wirkendes Lachen. »Was ich meine, Kenny: Es reicht nicht, einfach so in einen Ton hineinzurutschen.«

    Er wiederholte den Griff. Diesmal begannen seine Finger beim Greifen des Tons eine Schwingung aus dem Handgelenk auszuführen, und er zog die Schultern hoch, als der Sound aus dem Verstärker in einer intensiven, flehenden Färbung wimmerte. Ken hatte automatisch die Schultern mit hochgezogen.

    Joey sagte: »Jeder Ton, den du spielst, ist dein Ton – er ist ein Teil von dir, du gibst ihn hinaus in die Welt. Und du kannst nicht unendlich viel geben. Also gib dein Bestes.«

    Dann hob er die Gitarre an, verband drei schnelle Töne zu einem Jauler, ließ die Phrase die Tonleiter förmlich hinabpurzeln, bis er sie in einem immer schnelleren Abwärtsfall austrudeln ließ.

    Ken sah ihn staunend an. Ihm fiel nichts darauf ein, er war überwältigt.

    »Deine Greifhand, Mann«, sagte Joey. »Gib Leben in die Saiten! Lass sie schnaufen, lass sie keuchen, lass sie taumeln. Das ist die Einstellung, die du brauchst. Ansonsten machst du Schulchor, keinen Rock ’n’ Roll.«

    Solche Dinge sagte er oft: Ansonsten machst du Schulchor. Oder auch: Ich mach dich Krankenhaus. … Das war Joey! Er war langsam, lachte bisweilen dümmlich und hatte eine kindliche Ausdrucksweise. Dafür war er ehrlich. Meistens betrunken oder stoned, aber ehrlich. Joey war okay, fand Ken. Er erzählte gern, dass er ihn kannte.

    Was das Zwischenmenschliche betraf, veränderte Joey sich nicht. Seine Kontakte wurden nicht schlecht, sie wurden nur dünner, bruchstückhafter. Manchmal hörte man wochenlang nichts von ihm, bis er in irgendeinem Club auf der Bühne auftauchte.

    Offensichtlich wurde die Veränderung bei seiner Musik. Natürlich spielte er die gleichen Songs, aber mit der Zeit bekamen sie ein dunkles, psychedelisches Flair. Seine Soli wurden zu Arien. Seine Intensität war nicht zu sagen unglaublich, doch zugleich überspannt von wachsender persönlicher Verzweiflung. Die Clubs wurden immer kleiner, die Gagen zerknüllte Bündel, die aus Hosentaschen gezogen wurden.

    An einem Sonntagmorgen endete Joey Sola in seiner Badewanne.

    Einmal, als Ken für ihn arbeitete, spielten sie mit einer Band in Blue Berry. Ken hatte mächtig zu tun gehabt, denn in dem hiesigen Club gab es eine kleine Bühne, die aufgebaut werden musste. Anderthalb Stunden hatte er Muttern festgezogen und Kabel verlegt. Zu Beginn der Show – er war gerade noch fertig geworden – saß er verschwitzt am Bartresen bei einem Light-Bier. Nach der zweiten oder dritten Nummer trat ein Typ neben ihn.

    »Dieser Sola hat’s drauf. Daran gibt’s keinen Zweifel.«

    Ken stimmte zu, drehte sich aber nicht zu dem Mann um, der weitersprach.

    »Hab ihn schon letztes Jahr hier gesehen. Hatte das Vergnügen, ihn kennenzulernen. Feiner Kerl. Kann saufen, als hätte er Kiemen im Hals.«

    Ken wandte sich um. »Das kann man wohl sagen, das kann er.« Er sah, dass der andere etwa Anfang zwanzig war, gerade in seinem Alter.

    »Stell dir vor«, sagte der andere, »wir hatten mal Frank Zappa im Studio. Sogar der konnte was von Sola erzählen.«

    Auf der Bühne begann Joey mit einem intensiven Solo.

    »Was?«, fragte Ken.

    »Frank Zappa!«, rief der andere. »Er hat uns Sola für Aufnahmen empfohlen, obwohl keiner kapiert hat, von wem er redet.«

    Joeys Solo ging zurück.

    »In eurem Studio?«, fragte Ken.

    »Radio Studio.«

    »Ach ja?«

    »Mellow-FM. Du kennst vielleicht unsere neue Morning-Show

    Ken nickte verhalten, auch wenn morgendliche Radiosendungen mit seinem Lebensrhythmus kaum vereinbar waren. Dennoch formte sich der Name des Senders wie ein Mantra in seinem Kopf: Mellow-FM

    Der Sound auf der Bühne bäumte sich erneut auf, und Ken musste sich zu seinem Nebenmann durchbrüllen. Aber er hatte kapiert.

    »Mellow-FM, sagst du? Sind das nicht diese neuen Leute aus San Antonio, die kürzlich Mellow 92,1 geschluckt haben?«

    »Genauer gesagt sind diese Leute die Angestellten meines Vaters! Ich will ihn überreden, eine kleine Rocksendung einzubauen für das Spätprogramm oder so. Mit lokalen Bands!«

    In Kens Oberstübchen brannte auf einmal ein helles Licht. »Wie wär’s mit einem Drink?«, fragte er.

    Im Frühjahr 1987 kündigte Ken seinen Aushilfsjob bei Hope Melody, weil er nun einen richtigen Job hatte. Das Ganze ergab sich aus der Freundschaft zu seinem neuen Kumpel. Huey Stratman war der Sohn des Geschäftsführers von Mellow-FM, und er hatte Ken zum Assistenten für seine Sendung Rock Eve ernannt. Die Show lief zweimal die Woche abends von neun bis zwölf. Gespielt wurde hauptsächlich Independent Rock – jene Art, die damals vom Nordwesten über das Land schwappte. Zwischendurch gab es ein paar Neuigkeiten aus der Musikwelt, gepaart mit mehr oder weniger sinnfreiem Geplapper von Huey. Mittelpunkt jeder Sendung war die Vorstellung einer lokalen Band aus Mellow. Für jede gab es ein Interview, in das je zwei Songs in voller Länge untergebracht wurden. Bald siebte Ken aus ihnen eine Handvoll heraus, um sie regelmäßig ins Programm aufzunehmen. Die Mischung machte sich gut. Sie verschaffte Rock Eve eine staatsweite Stammhörerschaft, und nicht zuletzt bildete sich aus ihr ein Kreis an Bands, der zu einer eigenständigen Szene in Mellow aufstieg. Es gab nun den Mellow-Sound. An und für sich war es eine Musik, die später irgendwo zwischen Grunge und Skateboards verschwinden sollte. Aber zu jener Zeit löste sie von Hope bis hinunter nach Brighton einen regionalen Boom aus. Innerhalb eines Jahres war Ken so etwas wie der Pate dieser Szene geworden. Er kannte jeden Einzelnen von ihnen. Er kannte ihre Hintergründe, ihre Ambitionen, er kannte ihr Talent; ja, er hätte jedem Gesicht ein Gitarrenmodell, eine Jeansmarke oder sogar einen Mundgeruch zuordnen können. Bevor irgendwer bei Rock Eve auf Sendung ging, musste seine Musik die Labyrinthe in Kens Gehörgängen bestehen.

    Huey war derjenige von beiden, der in größeren Zusammenhängen dachte. Vielleicht weil er sich die Achtung seines Vaters zurückerobern wollte, nachdem er vom College geflogen war. Auf jeden Fall hatte er die Idee angestoßen, ein Festival zu veranstalten. Dies war im Frühjahr 1988 gewesen.

    Kapitel 2

    Der Fahrer fuhr das Taxi rechts ran. Eine Schwade Zigarettenqualm schwebte durch die Sonnenstrahlen an das Taxameter heran; die verheißend leuchtenden Ziffern auf dem Display zeigten achtzig Dollar.

    War eine gute Fahrt, dachte der Fahrer, dafür lässt man sich gern den Wagen vollstinken.

    Wieder kam eine Schwade Qualm von der Rückbank nach vorn. Das Gesicht mit der Designer-Sonnenbrille und den locker gegelten Strähnen huschte durch den Rückspiegel. Das Knarren von Leder vermengte sich mit dem Geklapper von Nieten und Schmuck, dann saß der Gast wieder gerade, mit seinem Portemonnaie in der Hand.

    Der Fahrer wandte sich nach hinten. »Sie sind sicher, dass Sie hier aussteigen möchten?«

    Der Gast zog einen abgegriffenen Notizzettel aus seiner Jeans, die mit den stilisierten Waschflecken und den Bleichstreifen dermaßen ›used‹ aussah, dass es schon beinahe einem Witz glich. Gemächlich hob er sich das Papier vor die Nase, während seine Finger es entfalteten. Das hatte nichts mit Genauigkeit oder Langsamkeit zu tun; es wirkte wie der Ausdruck eines Mannes, der es gewohnt war, dass die Zeit sich nach ihm richtete … Und wenn er einen Kater hatte, dann würde die Welt artig warten, bis er in aller Ruhe so weit war. Schließlich wartet das ganze Stadion auf den Rockstar, nicht wahr?

    »Sechsundfünfzig Carlington Road«, las er vor. »Das ist doch hier.«

    »Ja, Mister. Aber das ist eine echt heruntergekommene Gegend.« Der Fahrer deutete auf den offenbar leer stehenden Altbau, vor dem er gehalten hatte. »Diese Adresse … Ich meine, sehen Sie sich das Gebäude an. Da finden Sie höchstens ein paar Ratten. Vielleicht erlaubt sich da jemand einen Scherz mit Ihnen. Ich kann Sie nach Manhattan bringen, oder wohin Sie wollen. Ist kein Problem.«

    Der Gast nahm die Zigarette aus dem Mundwinkel. Er schob die Brille hinunter und warf seinen grünen Blick tief in die Augen des Fahrers. Dabei lehnte er sich vor, sodass er dem anderen ganz nahe kam, als hätte er ihm etwas unheimlich Persönliches mitzuteilen. »Lassen Sie mal die Scheiben runter, guter Mann.«

    Der Fahrer stimmte schrägmündig zu. Seine Hand langte nach dem Knopf in der Mittelkonsole, der die Öffnungsautomatik auslöste. Das Geräusch der Fenstermotoren begann allmählich einem anderen, von draußen kommenden Geräusch Platz zu machen.

    »Und jetzt halten Sie mal den Rüssel an die Luft und stellen Ihre Lauscher auf«, sagte der Gast und rückte seine Brille wieder zurecht.

    Der Fahrer hielt den Kopf nach draußen, horchte. Von nicht weit her drang ein eigenartiges Rumpeln an seine Ohren, aber er konnte es nicht gleich zuordnen.

    »Da ist irgendein Krach«, sagte er. »Vielleicht Musik. Da ist ein Schlagzeug zu hören und ein Brummen, oder?«

    Der Gast lümmelte mit den Ellbogen auf den Lehnen der Vordersitze. Er grinste bis über beide Ohren, als er sagte: »Ja, guter Mann! It’s Rock ’n’ Roll, Baby! Hier sind wir genau richtig!« Er zupfte Scheine aus seinem Portemonnaie, als wären es ein paar Kleenex. »Hier sind Hundert für die Fahrt. Zudem noch mal Hundert für Sie. Kaufen Sie Ihrer Frau was Schönes.«

    Nachdem er ausgestiegen war, steckte er noch einmal den Kopf in das Taxi. Erneut der Griff zur Brille, erneut die aufblitzenden Augen. Dann ein überspitztes Zwinkern als Trostpflaster eines bedeutenden Abschieds. »Ich bin Dave del Potro. Einen schönen Tag noch!« Er zog den Kragen seiner Lederjacke zurecht, dass die Nieten klirrten, schnippte die Zigarette auf den Bordstein und verschwand breitbeinig in Richtung des Gebäudes.

    »Vielen Dank Mister del Potro, Ihnen auch einen schönen Tag!«, rief der Fahrer hinterher, aber seine Worte verloren sich. Er war erstaunt, wie merkwürdig berühmte Leute sein konnten. Und das, wo er diesen Mister del Potro überhaupt nicht kannte.

    Der Eingang stand offen. Daves del Potros Stiefel hallten durch den Flur, an dessen Ende es schummrig wurde. Er peilte die hinterste Tür an, dort ging es hin – er konnte es hören, denn von dort kam die Musik. Er lief an der Wand entlang, vorbei an hängenden Tapetenfetzen und gesprungenem Kitt, während das Tageslicht sich hinter ihm schloss.

    Aus der Welt des Lichts hinein in die Welt des Rock, dachte Dave und grinste sich eins.

    Mit jedem Schritt näher zur Dunkelheit formte sich das dumpfe Dröhnen zu einem Spiel. Es war ein Schlagzeuger mit einem Bassisten. Es klang, als übten sie, Dave aber wusste, was sie wirklich taten: Sie spielten vor – der Bassist spielte vor. In irgendeiner Ecke würde Mickey stehen – gegen die Wand gelehnt mit einer Tasse Tee – und mit aller Kraft den Anschein verbreiten, als langweile er sich zu Tode. Zur Sache tat das nichts. Mickey war immerhin der musikalische Kopf von Stretched. Er war der Gitarrist, er musste den neuen Bassisten für die Band auswählen, ob er nun Lust hatte oder nicht.

    In einer anderen Ecke würden die Kandidaten sitzen, die die Plattenfirma hergeschickt hatte. Allesamt gute Jungs, da war Dave sich sicher. Er würde jeden von ihnen nehmen. Aber gut, er hatte auch keine Ahnung, sondern einfach nur Lust, etwas herumzufeixen, Spaß zu machen; er freute sich darauf, Mickey Hutton wiederzutreffen, hatte er den Gitarristen doch seit zwei Monaten nicht gesehen.

    Als Dave eintrat, erfolgte gerade der Schlusstakt, und Bradey, der Schlagzeuger, endete mit einem klirrenden Beckenschlag. Es war genau so, wie Dave es sich vorgestellt hatte: In dem Winkel neben der Tür hatte Bradey sein Drum-Set aufgetürmt, daneben standen hüfthohe Bass-Lautsprecher – einer verschwenderischer als der andere. Obenauf waren Verstärker- und Effektgeräte, aus denen eine Menge Kabel flossen. Die Kabel krochen über den Estrich hin zu einer Leiste mit Fußpedalen, vor der ein Typ mit einem Viersaiter stand. Dave verstand von dieser Leiste nur so viel: Mit einem der Pedale konnte man ein Wah-Wah auslösen, einen Effekt, der den Ton der Gitarre zu einer Art Blöken dehnte. Er nahm das Ganze mit Verwunderung zur Kenntnis; Mickey verwendete für sein Spiel grundsätzlich keine Effekte, und er hasste Wah-Wah, ja er verabscheute es geradezu. Wer auch immer damit angekommen war, hätte gleich damit zu Hause bleiben können.

    Die Kandidaten saßen auf Stühlen gereiht neben der Tür. Abgesehen von dem Typen an der Pedalleiste waren gerade noch zwei übrig. Der erste kümmerte sich überhaupt nicht um Daves Eintreten, er war vollauf in seine Bassgitarre und seine Fingerübungen versunken. Der andere, ein Langhaariger mit Schirmmütze, sah von seinem Instrument auf und zeigte Dave ein erschrockenes Gesicht.

    Als der Sänger ihn passierte, rief er: »Hey, du bist Dave del Potro!«

    »Heute bin ich Doctor Feelgood, mein Guter«, gab Dave kurz angebunden zurück. In der hinteren Ecke hatte er bereits Mickey entdeckt. Als ihre Blicke sich trafen, begann Dave unwillkürlich zu lächeln und zeigte Mickey nach herrschender Sitte den Mittelfinger.

    Der wiederum stieß einen freudigen Laut aus, besann sich aber sogleich wieder auf seine Langeweile, indem er sich seinen Finger demonstrativ in den Hals hielt.

    Dave wechselte in eine Art Tanzschritt. Er zog die Schultern hoch und wackelte mit dem Oberkörper. Dann sang er in seiner angenehmen, genau auf den Punkt abgetakelten Rockstimme:

    »Look at me, I’m Doctor Feelgood.

    Look at me and just feel fine ...

    Was macht das Gehänge, Häuptling Atmende Hand?«

    Mickey johlte ihm entgegen. »Doctor Feelgood! Old Man!«

    Er war nicht ganz zehn Jahre jünger, jedoch mehr als genug, um Dave ständig mit seinem Alter aufzuziehen. Er sprang auf, und im nächsten Moment klatschten die beiden Frontmänner von Stretched – jeder mit einer großspurigen Ausholbewegung – einander ab.

    »Gut, dich zu sehen! Ich sitze hier schon seit zwei Stunden!«, sagte Mickey.

    Drüben bei den Stühlen hob der Langhaarige neugierig die Nase.

    Mickey dämpfte seine Stimme. »Hab sie alle rausgeschmissen. Bis jetzt.« Er stupste Dave mit dem Ellbogen. »Hat mir einer doch glatt ’nen Vortrag über die Achtziger gehalten. Dann fängt er an, mir was mit seinem Wah-Wah-Pedal vorzuschnarchen. Kannst du dir das vorstellen?«

    »Hab’s mir schon vorgestellt. War mir klar, dass du noch keinen genommen hast.«

    Der Kandidat an der Pedalleiste meldete sich zu Wort. »Hey Mickey, bin ich fertig, oder was?«

    Mickey schlürfte ausgiebig an seinem Tee, bevor er antwortete: »Jaja, ähm – danke Mann. Unser Typ von der Plattenfirma gibt dir dann Bescheid.«

    Der Kandidat nahm den Bass ab. Er winkte Dave zu. »Hey, del Potro, cool, dich mal zu sehen!«

    Dave entgegnete ein freundliches Nicken. »Gut gespielt, Mann, gut gespielt!«

    Als Nächster war der Langhaarige mit der Schirmmütze an der Reihe. Mickey sah sein T-Shirt: Metallica – ›Kill ’Em All‹. Sein Mund verzog sich. »Nicht schon wieder«, raunte er vor sich hin. »Das nächste Mal lassen wir die Effektgeräte zu Hause!«

    »Na, komm schon«, sagte Dave. »Das sind alles Profis. Jeder hat eine Chance verdient.«

    »Das ist es ja!« Mickey seufzte gedrückt aus dem Mundwinkel. »Ich will keinen Profi. Ich will jemanden, der seinen eigenen Kram macht.« Er lächelte Dave an und klopfte ihm auf die Schulter. »So wie du. Du machst, dass die Leute sich in Ordnung fühlen. Nicht mehr und nicht weniger!«

    »Ich weiß, Kleiner: Sie richten sich zugrunde, und ich richte sie wieder auf. So hat jeder seinen Platz im Leben, hehe.«

    »Mann, Old Man. Du bist wirklich dein eigener Profi.«

    Dave sah das Leuchten im Gesicht des Jüngeren. Er schüttelte die Bewunderung von sich ab, indem er eine lapidare Kopfbewegung zur Seite machte. »Hören wir uns den Nächsten an. Was macht Bradeys Laune?«

    »Unterirdisch wie immer. Vielleicht bringst du ja Licht ins Dunkle.«

    Der neue Kandidat hatte inzwischen vor der Pedalleiste Stellung bezogen.

    Mickey rief ihm zu: »Also gut! Was hast du denn von unserer Set-Liste so drauf?«

    »›Lullabies Go By‹, ›Your Bell Is Tolling‹ – solche Sachen.«

    »Schon okay. Womit willst du anfangen? ›Lullabies‹ wie die anderen?«

    »Kann ich machen.«

    Im Hintergrund leerte der Schlagzeuger eine Bierdose. Er zerdrückte sie und ließ sie mit einem Wurf über die Schulter über den Jordan gehen.

    »Bradey«, rief Mickey, »noch mal ›Lullabies‹, hast du kapiert?«

    Bradey ließ ein ungehemmtes Aufstoßen hören, ehe er seinem Gitarristen ein gleichgültiges Schulterzucken zukommen ließ. »Meinetwegen, Kleiner.«

    Dann war es Dave, der dazwischenrief. »Wartet mal!« Er deutete zu dem Kandidaten. »Wie heißt du, Kumpel?«

    »Matt.«

    »Also Matt, wie wäre es, wenn du uns deinen Lieblingssong vorspielst?«

    »Ich hab keinen Lieblingssong, Mister del Potro.«

    »Dann irgendwas aus deiner Jugend – etwas, das dich geprägt hat.«

    »Okay …«

    Der Kandidat wechselte ein paar gedämpfte Worte mit Bradey. Ein Kopfnicken hier, ein Grunzen da und der Drummer wusste, wie der Hase lief. Also zählte er den Song ein – was an sich nicht bedeutete, dass er im eigentlichen Sinne zählte, etwa um sich zeitlich abzustimmen, denn was er da als Zahlenfolge aus seinem Mund schleuderte, war eine Art belangloses Gebell, eine ins Gegenteil verkehrte Konvention, deren schludriges Selbstverständnis an Zumutung kaum zu überbieten war. Und dennoch, der Bass war sofort zur Stelle, die Töne kamen praktisch wie aus der Hüfte geschossen – der Mann am Viersaiter schien offenbar schneller zu

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