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Platz der Befreiung
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eBook381 Seiten4 Stunden

Platz der Befreiung

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Über dieses E-Book

Zwischen Liebe, Aufbegehren und Punkrock: Eine Nahaufnahme von der Entstehung des modernen Sloweniens.

Als bei einer politischen Kundgebung ein zögerlicher Konformist einer entschlossenen Rebellin auf die blauen Samtschuhe tritt, nimmt eine verzwickte Liebesgeschichte ihren Lauf. Die beiden gehen Eis essen, besuchen Punk-Konzerte und reden, reden, reden. Wortreich begleitet auch der Vater des jungen Mannes die Umwälzung der späten Achtzigerjahre. Mit skurrilen Seitengesprächen versucht er den Sohn auf die aufziehenden neuen Zeiten einzuschwören und Kapital daraus zu schlagen. Am Ende stehen die slowenische Unabhängigkeit und Ratlosigkeit.
SpracheDeutsch
HerausgeberFolio Verlag
Erscheinungsdatum21. März 2023
ISBN9783990371459
Platz der Befreiung
Autor

Andrej Blatnik

Andrej Blatnik, geboren 1963 in Ljubljana, spielte als Bassist in einer Punkband; mit 20 veröffentlichte er erste Erzählungen. Heute arbeitet er als Verlagslektor und unterrichtet Kreatives Schreiben. Er ist einer der beliebtesten slowenischen Autoren seiner Generation, wobei er laut eigener Aussage lieber lebt als schreibt.

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    Buchvorschau

    Platz der Befreiung - Andrej Blatnik

    Platz der Revolution

    Die Kundgebung war für zwei Uhr nachmittags angesagt. Er kam gut fünfzehn Minuten früher, und auf dem Platz war fast niemand. Die Organisatoren liefen nervös von einem Ende zum anderen. Die Bühnenarbeiter sahen sich fragend an: so eine Bühne, so eine Riesenbeschallung – für ein paar Dutzend Leute?

    Darko lief an ihm vorüber und sah sich um, als ob es helfen würde, jeden Moment nachzusehen, ob vielleicht doch noch jemand kommt, damit die ganze Kabelei nicht umsonst ausgelegt worden war. Ein paar Dutzend Leute, das war zu wenig. Alles umsonst. Er fing seinen fragenden Blick auf und hob die Arme. Ich habe mein Bestes getan, mehr kann ich nicht tun, hieß das. Sie schienen beide gleichermaßen überrascht. In den letzten Tagen hatte es so viel Wirbel gegeben, so viele Leute hatten davon gesprochen, dass etwas getan werden müsse, und jetzt waren alle zu Hause geblieben! So kann man die Welt nicht verändern. Nicht mal die eigene Straße.

    Dann ging es los. Aus allen Seitenstraßen strömten die Menschenmassen herbei. Von links, von rechts, von überall. Unaufhaltsam. Hippies, Punker, Studenten, Stadtstreicher, Gewerbetreibende, Arbeiter, Professoren, Bauern. Alle. Innerhalb weniger Minuten war der Platz bis in die letzten Ecken gefüllt. Wildfremde Menschen nickten einander zu und grüßten sich. Wir stehen zusammen, sagten sie einander ohne Worte. Wir sind nicht allein. Wir sind viele, und es kommen noch mehr. Wir werden noch mehr.

    Auch auf der Bühne ging es los. Die Gitarren dröhnten. Die Pankrti, die Band aus dem Arbeiterviertel Moste, die vor sechs Monaten aufgehört hatte zu spielen, hatten extra für diesen Anlass wieder zusammengefunden. Pero rief von der Bühne herunter, dass es nicht um Politik gehe, sondern dass sie ihre Freunde aus der Fußballmannschaft zurückhaben wollten, die jetzt im Militärgefängnis säßen. Privates ist politisch. Politisches ist privat. Glück kann dem Menschen weder der Staat noch das System, noch eine politische Partei geben – sie können es ihm aber nehmen.

    Diese fernen Zeiten

    Die Pankrti waren mehr als zehn Jahre zuvor entstanden und hatten ihr erstes Konzert in der Turnhalle des Vorstadt-Gymnasiums gegeben. Einer Schule, die von jenen, die als künftige Stützen der Gesellschaft vorgesehen waren, nicht besucht wurde. Und doch, oder vielleicht gerade deshalb, hatte dort vieles begonnen.

    Er war bei diesem Konzert einer von vielleicht zweihundert Zuhörern gewesen; später sollten mehrere Tausend behaupten, sie seien dort gewesen. Sie seien dabei gewesen. Aber sie waren es nicht. Damals nicht. Sie kamen erst später. Wie immer, wenn etwas Großes beginnt – dann sagen alle, sie seien von Anfang an dabei gewesen.

    Er hatte auf ein handgeschriebenes Plakat vor dem Haus reagiert. Mehrere Mädchen, die nicht ahnten, was sie erwartete, richteten sich so her, als handelte es sich um einen der zahlreichen Tanzabende. Es war die Zeit des verordneten Vergessens der Realität mit den Disco-Hits Night Fever, You Should Be Dancing, Stayin’ Alive … Aber in der Turnhalle in Moste war es anders. Zwischen Band und Publikum lagen Turnmatten auf dem Boden, Pero warf sich abwechselnd hin und stand wieder auf. Aber zuerst warf er dem obersten Musikkritiker, der später den Rock ’n’ Roll aufgab und sich einem ruhigeren Leben widmete, Blumen zog und Esel züchtete, seinen Schuh an den Kopf. Woanders hätte das schon gereicht, um eine Schlägerei auszulösen, aber die Stimmung beim Konzert war gut. Lebhaft, kumpelhaft, ironisch. Niemand, auch nicht die Band auf der Bühne, ahnte, dass eine Geschichte begonnen hatte, die Jahrzehnte dauern würde.

    Als die erste Single herauskam, empfahl der führende Hofdissident, „da müsst ihr drüber weghören, und kam zu dem Schluss, dass der Punk ein „interessantes und relativ tragisches Phänomen von Anti-Musik sei. Er wurde mit einer höheren Umsatzsteuer belegt, der sogenannten Steuer auf Schund, wie sich eine andere, ähnlich geartete Band dann auch gleich nannte. Der Vorsitzende des zuständigen Ausschusses bemerkte im Scherz, das sei deshalb geschehen, weil man ihm gesagt habe, beim Punk seien die Texte die Hauptsache, er habe aber das Genuschel des Frontmanns überhaupt nicht verstehen können.

    Diese fernen Zeiten. Die Musik schien zu passen, aber was ist danach, wir hüpfen noch ein paar Mal auf und ab, und alles bleibt, wie es war. Wir sind auf Linie, daran kann sich nichts ändern. Und doch änderte sich alles, Tag für Tag, und immer schneller. Vierzig Jahre später, drei Jahrzehnte nach ihrer Selbstauflösung, sangen die Pankrti, fast die gleichen, mit der Patina der Jahre, ein neues Lied: Das ist nicht mehr Slowenien. Die Gletscher schmelzen, weil uns die Tycoons bestohlen haben, lautete die kurze Zusammenfassung. Alles ist miteinander verbunden. Der Markt ist global geworden. Schmetterlingsflügel in China, Fledermausflügel in China, jeder kriegt alles frei Haus. Was du bestellt hast, das kriegst du, alles hat seinen Preis, für alles wirst du bezahlen.

    Aber das erste Konzert lag mehr als zehn Jahre zurück, bevor die Pankrti, zum ersten Mal wiedervereinigt, was danach regelmäßig geschah, auf der Bühne auf der Zvezda standen, auf dem „Stern", wie die Leute den Platz bei all den Namenswechseln gern nannten. Das war in jenen fernen Zeiten, als es noch hieß: Du darfst nichts verpassen, sonst verpasst du alles. Sonntagabends Radio Študent, wo Darko neue Musik präsentiert, wie könntest du das verpassen, wenn die Sendung doch Sei jetzt hier oder Rock fronta heißt, du willst dabei sein, an der Front, in der ersten Linie, wie könntest du das verpassen, wie so ein geiles Stück überhören, so eine geile Band, die gut klingt und auch etwas zu sagen hat? Und freitags musste man unbedingt in die Mensa des Studentendorfs, dort spielte es sich live ab. Nicht tagsüber Schlange stehen um sozialistisch schmeckende Mahlzeiten, sondern abends kommen, wenn die Gitarren von Bands mit seltsamen Namen dröhnen, Klinska pomora, Trobecove krušne peći, Termiti, Problemi, wenn verschwitzte Sänger ohne T-Shirt Schweiß und Spucke über die hüpfenden Zuhörer in den ersten Reihen sprühen.

    Manche der Auftretenden sind im Laufe der Jahre in die Geschichte eingegangen, andere in persönliche Mythologien, es gab auch solche, die sich am nächsten Tag selbst vergessen hatten. Den einen wurde während des Auftritts der Strom abgedreht, weil man sie anders nicht von der Bühne herunterbrachte, andere zogen sich beim wilden Herumspringen und Fuchteln mit den Gitarren die Kabel selbst raus. Unplugged gegen ihren Willen! Auf viele Teenager warteten nach den Konzerten noch lange Fußmärsche nach Haus, bei denen sie in der Stille der Nacht das Gehörte noch einmal Revue passieren lassen und überdenken konnten. Sie kehrten zurück, zu jenen Minuten voller Energie, die von der Bühne ins Publikum und wieder zurück gesprüht war. Und wieder zurück.

    Diese fernen Zeiten, in denen Musiker und Zuhörer einander so nahe, in denen sie einander in Lärm, Spucke und Schweiß verbunden waren, in denen man auf die Bühne sprang und sich von ihr herunterwarf, wo es keine Barrieren und keine Sicherheitsleute gab, um sie voneinander zu trennen. Damals hast du dich freitagabends in Klamotten geworfen, die du, wenn es einmal richtig wild wurde, auch getrost in den Müll werfen konntest.

    Diese fernen Zeiten, in denen man so manches wegwerfen konnte, als es aber hieß, dass du dabei sein musst, dass du nicht wegwerfen darfst, dabei zu sein. Dass du jetzt hier sein musst, dass du nichts verpassen darfst, denn sonst verpasst du alles.

    Unter der Decke

    Der Dichter rezitierte von der Bühne herab, dass die Raben im Dunkeln schreien, sie werden alle Vögel erschlagen, auch die unter der Schädeldecke. Er kannte das Gedicht auswendig, viele im Publikum kannten es und lauschten ihm aufmerksam, damals wurde Poesie massenhaft gelesen, es ist schwer zu erklären, warum, Politikwissenschaftler sagen, es habe daran gelegen, dass wir keinen Staat hatten, Wirtschaftswissenschaftler sagen, es habe daran gelegen, dass es keinen Markt gab oder zumindest nichts auf dem Markt, Staatswissenschaftler sagen, es habe daran gelegen, dass man nicht nach eigenem Gutdünken wirtschaften konnte, die Geistlichkeit sagt, es habe daran gelegen, dass man heimlich glauben musste – jeder hat seine eigenen Gründe, warum damals, und noch mehr Gründe, warum heute nicht mehr.

    Damals wurde Poesie gelesen und gefühlt, bis zu diesem Tag war dieses Gedicht eine ferne Metapher gewesen, aber jetzt klang es sehr wahrhaftig. Man sprach davon, dass die Armee in den Kasernen in Kampfmontur schlafe, dass sie nur auf den Befehl warte, um auf die Straße hinauszustürmen. Man sprach davon, dass es Listen mit den Namen derjenigen gab, die man sich zuerst holen werde. Und immer werde man sich zuerst jene holen, deren Beispiel zur Rebellion verleite. Jene, die zu den Massen sprechen können und von den Massen gehört werden. Ihr wisst doch von der Reichskristallnacht, wurde gesagt, leise, weil du nie wusstest, ob nicht auch jemand zuhört, der etwas weitertragen würde, in falsche Ohren. Und ihr habt doch vom armenischen Roten Sonntag gehört: Nach langen Listen wurden in einer Nacht Hunderte der einflussreichsten Personen aus ihren Betten gezerrt und in Lager gesteckt, um ihre nationale Bewegung zu stoppen. Auch bei uns gibt es solche Listen, bestimmt, es kann nicht anders sein, es war nie anders. Habt ihr keine Angst, dass ihr darauf steht und dass ihr mitten in der Nacht geweckt werdet, wenn diese Nacht kommt? Oder habt ihr Angst, dass ihr nicht auf der Liste steht und der Staat offensichtlich keine Angst vor euch hat?

    Angst, der gegenseitige Austausch der Angst – ein starkes Bindemittel. Die an der Macht haben Angst, nicht mehr an der Macht zu sein und vom Volk zermalmt zu werden. Die unten haben Angst, von der Macht zermalmt zu werden. Angst ist keine Einbildung, sie zermalmt, langsam, Tag für Tag. Vorsichtig, damit es nicht an ausländische Beobachter gelangt, in ausländische Zeitungen, damit keine Diplomaten protestieren, damit die Finanzkanäle nicht austrocknen, das Ausland mischt sich immer in die inneren Angelegenheiten ein. Vorsicht ist geboten, für den Moment. Aber so kann es nicht bleiben; wenn es losgeht, wird so mancher nicht wieder aufstehen.

    Mit jedem Wort von der Bühne bröckelte die Angst und wuchs die Entschlossenheit. Der Platz war voll. Unbekannte nickten einander zu: Wir sind auf dem richtigen Weg. Auf unserem Weg. Endlich.

    Er drängte sich nicht in die vordersten Reihen durch, wie bei den Punkkonzerten in der Mensa des Studentendorfs. Er stand hinten und sah zu. Diesmal war es nicht so wichtig zu sehen, was die auf der Bühne taten, wichtiger war es, den Puls der vielen Menschen zu fühlen, die den Platz der Befreiung füllten.

    „Das war einmal der Platz der Revolution", sagte ein alter Mann, der sich neben ihm auf einen Stock stützte.

    „Noch früher war es der Kongressplatz. Vielleicht wird er es wieder", bemerkte ein Altersgenosse neben ihm.

    „Wenn die Befreiung vorbei ist?"

    Sie grinsten, sahen sich an und hielten sich die Hand vor den Mund.

    Tritte

    „He, pass auf, wo du hintrittst."

    Er drehte sich um.

    Wütend sah ihn ein Mädchen an.

    Hübsch.

    Ihre blauen Wildlederschuhe waren ausgelatscht.

    „Sorry. Ich habe nicht geschaut."

    „Natürlich hast du nicht geschaut. Wer schaut schon zurück? Keiner. Warum auch? Man schaut nach vorn. Pass trotzdem auf. Das sind meine blauen Wildlederschuhe. Das Symbol meiner Individualität und meines Glaubens an die persönliche Freiheit."

    Uff. Große Worte. Ist es schon Zeit für so große Worte?

    „Glaubst du an die persönliche Freiheit?"

    „Und an nichts anderes."

    Will sie mich provozieren? Eine Provokateurin? Vermutlich gibt es in dieser Menge viele, die zum Schnüffeln gekommen sind, was jemand denkt. Zum Horchen, wie jemand redet.

    „Und hilft es? Hast du sie?"

    „Wenn ich sie hätte, bräuchte ich nicht an sie zu glauben, oder? Ich würde sie einfach leben."

    „Uff. Studierst du Philosophie?"

    „I wo. Das ist eine gewöhnliche Phrase. Für gewöhnliche Menschen. Du kannst mir bestimmt was Besseres sagen."

    Bestimmt will sie mich provozieren.

    „Würde ich gern, aber der Lärm würde mich übertönen."

    „He, das ist der Lärm der Befreiung."

    „Wenn du es sagst. Aber es ist anstrengend, nicht wahr?"

    Das Mädchen sah ihn erstaunt an.

    „Anstrengend? Weichei! Du hast doch nicht etwa Dario Diviacchi auf VHS aufgenommen und hörst ihn noch immer? Und schaust ihn natürlich."

    „Dario who?"

    Sie schnaubte.

    „Wo bist du aufgewachsen? Ich sehe, ich muss dir mal ein paar Kassetten mitbringen."

    Sie trat einen Schritt zurück und maß ihn mit dem Blick.

    „Natürlich nur, wenn du was zum Abspielen hast. Sonst musst du zu mir kommen."

    Was geht hier ab? Okkupation in kurzen Zügen?

    Dario Diviacchi

    Visok pritisk beziehungsweise Alta Pressione startete Ende 1979, MTV kam erst zwei Jahre später. Die Sendung wurde von Televizija Koper-Capodistria in italienischer Sprache ausgestrahlt, sie reichte auch über die damals feste und sehr reale Grenze hinaus. 1981 wurde daraus Videomix und überschwemmte ganz Italien. Da wurden Musikvideos gespielt, damals etwas völlig Neues. Duran Duran wurden zu Stars, zu ihrer Musik bewegten sich im Glitzerlicht der Bildschirme schöne, langbeinige Mädchen, Aufnahmen von sich langsam drehenden Deckenventilatoren in tropischen Restaurants brachten die Exotik sogar hinter den Eisernen Vorhang.

    Jeden Donnerstagabend, wenn dieser Luxus live übertragen wurde und Dario zwischendurch etwas sagte, waren die Straßen leergefegt. Die Zuschauer riefen im Studio an, um mit dem freundlichen Moderator zu sprechen, als Gast kam der schwedische – und dank der Skier, auf denen er gewann, auch ein wenig slowenische – Ski-Hero Ingemar Stenmark und sang Waterloo, das Lied, mit dem die schwedische Gruppe ABBA 1974 den Eurovision Song Contest gewonnen hatte und an den Sternenhimmel der Berühmtheiten versetzt worden war.

    Agnetha, Björn, Benny und Anni-Frid, in der Zeit der Triumphe praktischerweise zu zwei Paaren verbunden, vermarkteten ihren Eurovisionserfolg in der Geschichte am besten. Sie vermieden es erfolgreich, in die übliche Falle zu tappen und mit der Zeit zu den schwächsten Imitatoren ihrer selbst zu werden. Sie verstanden es, in Würde zu altern. Die anfänglich unbeschwerten Schlager nahmen immer düsterere Töne an, je mehr sich die Paare auseinanderlebten. Die Texte begannen alles offen zu benennen, die Wünsche (gebt mir einen Mann nach Mitternacht), die Verzweiflung (einer von uns beiden musste gehen und weint jetzt allein im Bett), die Feststellung des Endes (wenn der Sommer vorbei ist und dunkle Wolken die Sonne verdecken, können wir keinem von uns die Schuld geben, wenn alles gesagt und getan ist) und die Geständnisse (wir sind ein bisschen abgetragen, aber nicht würdelos und nicht zu alt für Sex).

    Obwohl er Italiener war, wurde Dario Diviacchi für manche der beliebteste Slowene. Slowene? Italiener? Noch jahrelang wurde in den Kneipen darüber debattiert, dass Dario väterlicherseits Istrianer und mütterlicherseits ein Bric aus dem Collio sei, eine neue Nationalität für neue Zeiten, eine Mixtur, das ist besser so, ihr wisst ja, wie es ausgegangen ist, als sie da oben irgendwo im Norden anfingen, auf Rassenreinheit abzufahren? Dario Internazionale, das ist besser, viel besser. Ansonsten sind wir aber alle Jugoslawen, oder nicht, wer es noch nicht ist, wird es der noch werden? Nein, das sagte keiner, wenn die Kneipe abgelegen genug war, hätten wir uns schnell prügeln können, und bevor die Polizei da gewesen wäre, wäre es schon vorbei gewesen. In den Schmieden der Brüderlichkeit und Einheit war das Feuer längst erloschen.

    Im Jahr 1986 lief auch Videomix aus. Ein Jahr später erschien die 57. Nummer der Nova Revija.

    57

    Die neue Zeitschrift kam nicht einfach zustande, das geschah auf eine Art und Weise, die einige Jahrzehnte später fast idyllisch anmutet: Einige Intellektuelle unterzeichneten 1980 eine Petition, im Namen der Demokratie eine neue Zeitschrift für Philosophie und Poesie zu gründen, die höchsten politischen Gremien diskutierten eine Zeit lang über diese Frage, Meinungen prallten aufeinander, und schließlich, zwei Jahre später, floss das Geld. Goldene Zeiten für Debatten über Philosophie und Poesie, selbst in höchsten politischen Kreisen, würde ein Zyniker sagen.

    Die entscheidende Ausgabe war die Nummer 57 mit dem Leitartikel „Beiträge zum slowenischen Nationalprogramm. Als Ausgangspunkt wurde konstatiert, dass sich die Slowenen in Jugoslawien in einer Krise befinden, die sich „in besonderem Kleinmut, in Massenauswanderung und einer hohen Selbstmordrate äußert. Vom Unterschied im Bruttosozialprodukt, der später in das Vokabular der Sezessionisten Eingang fand, war nicht die Rede. Es waren Zeiten, als sich Denker und Dichter nicht durch die Ökonomie des Mehrwerts rechtfertigen mussten; auch andere Gerüchte waren berücksichtigenswert. Die Erlangung der staatlichen Selbstständigkeit begann mit der Selbstständigkeit des Geistes, nicht des Geldes.

    Obwohl die Nova Revija über Dinge schrieb, die schon lange in der Luft lagen, kamen auf ihren Seiten diese kaum vorstellbaren Ideen wie aus allen Wolken gefallen aufs Papier. Panik brach aus. Überall in der Republik trafen sich die politisch Organisierten und interpretierten einander, was auf diesen von Hand zu Hand weitergereichten Fotokopien stand und was mit dem, was da geschrieben stand, in Wirklichkeit gemeint war. Es lasen auch jene, die sonst nicht lasen.

    „Hast du diese Zeitschrift?", fragte ihn sein Vater.

    „Welche Zeitschrift?"

    „Komm schon. Du weißt, was ich meine."

    Ein paar Tage später brachte er sie ihm zurück.

    „Interessant", sagte er.

    „Wie fandest du es?"

    „Ich sag doch."

    „Komm schon. Sag ein bisschen mehr."

    Sein Vater lächelte.

    „Ich bin es nicht gewohnt, ein bisschen mehr zu sagen. Das ist etwas für euch Jungen."

    „Das heißt, du stimmst zu, dass mehr gesagt werden muss."

    „Ich sage auch, dass du die Zeiten fürchten musst, wo du alles sagen kannst. Dann wird vielleicht keiner mithören. Das ist jetzt anders."

    Er deutete zur Zimmerdecke hinauf und nickte. Damit war das Gespräch beendet.

    Das Mikrofon in der Wand

    Wer sich an die Achtziger erinnert, ist nicht dabei gewesen, feixten jahre- und jahrzehntelang die in den Sechzigern Geborenen. Und doch sprachen sie gern über die Achtziger, die Zeit ihrer Jugend, die, je weiter sie wegrückte, immer idealer wurde. Sie sprachen vom Auslaufen der Zeit des marxistischen Opiums fürs Volk (solange es Tito gab, gab es auch Shit, stand an der Wand eines beliebten Lokals, und Shit war der Deckname für Haschisch) und von dem zunehmenden Gefühl, dass die Welt, in die sie hineingeboren worden waren, zerfiel und eine neue aus dieser Transformation vielleicht nicht entstehen werde. Dass es das – gewesen sei. Alles, was möglich ist. Dass der Augenblick genossen werden müsse, dass es keine Vergangenheit mehr gebe, dass das Morgen zu weit weg sei.

    Diejenigen, die früher geboren waren, glaubten etwas anderes: dass nichts vergessen sei, dass alles aufgezeichnet, aufgeschrieben und dokumentiert sei. Dass der Mensch nirgends, auch nicht zu Hause, zu laut denken dürfe, weil man nie wisse, wer hört, was man denkt. Der in seine Wohnung gesperrte Dichter, ein ehemaliger Minister und Parlamentspräsident, war nach der Enthüllung seiner Angst und seines Mutes zum ungewollten Pensionär geworden. Zwei Jahre nach dem erneuten Erscheinen seines Kriegstagebuchs mit dem Sehnsuchtstitel Tovarišija, Kameradschaft, den Erinnerungen eines Amateurs unter Professionellen, deretwegen er bei den Kameraden endgültig in Ungnade gefallen war, veröffentlichte er in dem Band Poročilo („Der Bericht) ein Gedicht, in dem es heißt: „Mein Schweigen ist beredt, in ihm bist du verurteilt zum Abgrund der Wahrheit. Und an Berichten über ihn gab es keinen Mangel, Dutzende von Informanten produzierten Tausende Seiten von Dokumenten.

    Wurden sie jemals gelesen? Oder erreichten diese Berichte ihren Zweck allein schon damit, dass sie existierten? Dass man wusste, dass sie existieren?

    Blaue Wildlederschuhe

    „Also?"

    „Also – was?"

    „Du hast mir nicht geantwortet, ob du was hast, wo du die Kassette reinschieben kannst."

    Spricht sie konkret oder metaphorisch? Wenn metaphorisch, ist sie furchtbar banal.

    „He, ich steh nicht auf diesen Pop."

    Sie nickte.

    „Ich hatte gehofft, dass du das sagst. Bravo."

    Sie kam näher.

    Und was ist mit dem Abstand? Gibst du nichts mehr auf dein Symbol der Individualität und persönlichen Freiheit?

    Sie zog Notizblock und Kuli aus der Tasche. Sie blätterte darin, und er sah, dass er vollgekritzelt war, zwischen die Notizen hatten sich Vignetten geschoben, gelegentliche Kaskaden von Zahlen, eingeklebte Zeitungsausschnitte.

    Die persönliche Geschichte in einem Band?

    Nachdem sie ein Blatt zweimal umgeblättert und überprüft hatte, ob es wirklich leer war, schrieb sie eine Zahl darauf und zeigte sie ihm.

    „Hier findest du mich."

    „Soll ich die Nummer auswendig lernen?"

    „Das wäre schön. Das würde beweisen, dass du wirklich interessiert bist!"

    Sie sah ihn prüfend an.

    „Aber ich weiß nicht, ob ich dir eine so schwere Prüfung zumuten kann. Gleich am Anfang, meine ich."

    Entschlossen riss sie den Zettel ab und hielt ihn ihm hin.

    Ich müsste jetzt sehen, wie viele schon fehlen –

    Macht sie das jeden Tag?

    Oder nur an besonderen Tagen, wie es dieser einer ist?

    „Du brauchst ihn nicht zu nehmen, wenn du nicht willst", sagte sie.

    „Wahlfreiheit?"

    Sie nickte.

    „Natürlich. Immer."

    „Deshalb sind wir hier, nicht?"

    „Auch deshalb. Privates ist politisch, und Politisches ist privat, sozusagen. Du weißt schon."

    „Jetzt weiß ich, dass du wirklich Philosophie studierst."

    „Du hast keine Ahnung."

    „Und was soll ich tun, um eine zu kriegen?"

    „Nimm den Zettel. Das ist ein Anfang."

    Er nahm ihn und faltete ihn sorgfältig zusammen. Er dachte, dass sie ihn absichtlich ganz am Rand gehalten hatte, damit sich ihre Finger nicht berührten – außer er hätte es versucht.

    Wenn ich gezeigt hätte, dass ich es absichtlich tue.

    „Wie ich sagte – meine Nummer. Aber nicht ganz meine. Ich habe mich noch nicht verselbstständigt. Du weißt ja, dass ich bei Papa und Mama wohne?"

    „Wie kann ich das wissen?"

    „Sehe ich für dich nicht so aus?"

    „Wie sehen denn solche aus?"

    „Nun – ordentlich. Zurückhaltend. Still und schüchtern."

    „Aha, ja, wirklich. Du bist so, danke, dass du mich darauf aufmerksam gemacht hast."

    Sie nickte zufrieden.

    „Du bist nicht so ein verlorenes Exemplar, wie ich befürchtet habe. Wenn dich jemand auf den richtigen Weg bringt, verstehst du, die Richtung zu halten."

    „Ich bin froh, dass du Hoffnung in mich setzt."

    „Ich auch. Du weißt, warum ich dir ausdrücklich gesagt habe, dass ich bei Papa und Mama wohne?"

    „Um mir auf Umwegen zu sagen, dass du noch nicht verheiratet bist?"

    Unbändiges Lachen.

    „Jetzt mach mal halblang! Ich, verheiratet? Nie. Du hast keine Beobachtungsgabe. Du hast mich nicht gesehen, als du auf mir

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