Die Kunst des Verhungerns: Drei Novellen
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Buchvorschau
Die Kunst des Verhungerns - Yves Rechtsteiner
Verhungerns
1.
«I know it’s only rock ’n’ roll but I like it»
THE ROLLING STONES
Vaters Chillum
Der Postbote kommt gegen zehn Uhr morgens vorbei, bleibt vor den sandfarbenen Briefkästen der Lucretia Apartments in der Sonne stehen und scheint ein letztes Mal einen kleinen Stapel Briefe zu kontrollieren. Er lächelt mich freundlich an, überreicht mir meine Post und wünscht mir beim Gehen einen wundervollen Tag und viel Glück.
Ich grüße ihn zurück und gähne dabei, blicke dem Mann eine Weile wie verwirrt nach, unsicher, warum er so ungewöhnlich freundlich zu mir gewesen ist.
Ich bin noch nicht sehr lange und auch noch nicht richtig wach und in der Nacht zuvor erst sehr spät und ziemlich betrunken nach Hause gekommen.
Margaritas mit Mike und Kevin.
Der Postbote winkt mir lächelnd von seinem Scooter aus zu.
Ich weiß, dass mein schulterlanges Haar verstrubbelt ist und mein T-Shirt zerknittert, aber mir ist das eigentlich vollkommen egal.
Der Postbote scheint es lustig zu finden. Ich mag ihn.
Unser Haus ist das letzte im Block; ich blicke dem Davonfahrenden nach, sehe wie er langsam und leise knatternd die von Palmen gesäumte Straße unter dem blauen kalifornischen Himmel davon zieht.
Der Postbote hat mir neben dem kleinen Stapel Briefe auch ein Paket in Buchform überreicht. Es steht keine Absender-Adresse drauf.
Ich wiege das Paket in Händen und schüttele es, halte es an mein Ohr, schnuppere daran, kann aber weder erhören was drin ist noch etwas Besonderes riechen.
Dass das Paket von meinem Vater stammt, wird mir dann aber sofort klar, denn das Adressfeld hat er mit seiner schnörkeligen Handschrift geschrieben – einer Handschrift, die es kein zweites Mal auf der Welt geben könnte.
Das ist mehr Kunst als Kommunikationsmittel.
Obwohl Kunst ja in erster Linie Kommunikationsmittel ist.
Alles ist Kunst.
Das sagt mein Vater immer.
Ich reiße das Paket, vor der Haustüre stehend, auf.
Im Paket finde ich ein Paul-Bowles-Taschenbuch sowie zwei Postkarten, die auf der Schreibseite aneinander geklebt sind.
Es riecht ein klein wenig verdächtig, das Ganze, wie ich mittlerweile finde.
Ich zerre die beiden Postkarten auseinander, und da liegen, ganz flach ausgewallt und platt, ein paar Gramm schwarzes Haschisch.
Laut muss ich lachen und sehe das liebevoll grinsende Gesicht meines Vaters vor mir.
Seine langsam ergrauenden, langen, wirren Haare umranden das schon etwas faltige Gesicht, in dem edle Züge, bergseeblaue Augen und Schalk miteinander vereint sind.
Ich gehe ins Wohnzimmer und setze mich aufs Sofa. Ich blättere ein wenig im Paul-Bowles-Taschenbuch, über das ich mich sehr freue. Ich liebe diesen Schriftsteller, mein Vater auch, mit einer beinahe schon obszönen Heftigkeit. Und das Haschisch passt natürlich sehr gut zu allem.
Danke Vater, denke ich.
Dann rufe ich laut: Hey Todd, komm mal, wir haben was zu rauchen!
Er antwortet nicht.
Ich höre, dass jemand unter der Dusche steht. Das muss er sein, denn Tanja ist ja in der Schule.
Ich teile die Wohnung mit Tanja und Todd. Tanja ist meine Freundin, meine Geliebte, Todd mein Gitarrist. Tanja will mit mir leben und mich lieben und mit mir durch dick und dünn gehen, Todd will einfach mit mir zusammen berühmt werden.
Lovers.
Rockstars.
Tanja hat ganz große himmelblaue Augen, ein unglaublich helles, weißes Lächeln und langes kastanienbraunes Haar, Todd ist lang und dürr und zwei Jahre jünger als ich.
Mit Tanja bin ich nun schon seit drei Jahren zusammen, und ich weiß mittlerweile schon seit einer Weile, dass sich unsere Wege eher früher als später trennen werden müssen. Aber ich habe ihr das noch nicht gesagt, vielleicht weil ich es selber auch noch nicht so richtig weiß. Und der Grund dafür liegt wohl irgendwo sehr nahe an der Angst, niemals wieder lieben zu können und beim nächsten Mal bei einer schrecklich kalten Frau zu landen, die mich in eine Welt aus Langeweile und Todessehnsucht treibt.
Ob ich mit Todd und unserer Musik jemals einen Schritt weiter kommen werde, scheint mir auch unwahrscheinlich, irgendwie ist das doch sowieso alles ein ganz falscher Traum, der nirgendwohin führt. Das denke ich in letzter Zeit immer mal wieder.
Das mit der Musik nimmt täglich mehr ab. Zuhause waren wir in einer Band, haben die Songs gemeinsam geschrieben, jeden Tag geübt, hatten immer wieder kleine Gigs. Hier in Kalifornien spielen wir anfangs zwei bis drei Stunden täglich gemeinsam auf unseren Akustik-Gitarren. Ich singe dazu mit kräftiger Stimme meine auf Englisch verfassten, düsteren, fast apokalyptischen Texte.
Sometimes I want to put a gun to my head.
And fill it all up with lead.
Irgendwann spielen wir nur noch ungefähr eine Stunde pro Tag zusammen, manchmal auch gar nicht. Hin und wieder gehen wir an Jams und open stages.
Mit der Zeit schleiche ich mich immer öfters davon und gehe alleine an irgendwelche Jams.
Ja, irgendwie werden sich wohl auch unsere Wege trennen müssen, das sehe ich eigentlich auch schon seit einer Weile kommen.
Mit ihm werde ich es niemals schaffen. Ohne ihn wahrscheinlich auch nicht.
Vielleicht sollte ich einfach nach L.A. abhauen, ohne Begleitung, mit meiner Gitarre, und schauen, ob es alleine nicht alles besser geht.
Todd sieht mich manchmal etwas grimmig an. Viel öfters aber sieht er mich richtig traurig und enttäuscht an.
Ich glaube er spürt, dass dies alles nur ein Konstrukt ist, das einstürzen wird und eventuell von Anfang an kein richtiges Fundament hatte.
Wir wohnen nun seit einem Monat an der Saratoga-Avenue in der San Francisco Bay Area in einem vorwiegend von Mexikanern bewohnten Apartment-Block.
Viele der jungen Mexikaner tragen die obligaten weißen Wife-Beaters, kurze Kaki-Hosen und hochgezogene weiße Strümpfe in ihren Basketballschuhen. Einige von ihnen tragen Damenstrümpfe wie ein Käppi auf dem Kopf. Sie sehen alle wie gewaltbereite Gangster aus, einige sind es vielleicht auch, zu uns jedenfalls sind sie aber immer sehr freundlich und lächeln immer ganz lieb und oft mit blitzendem Gold zwischen den Zähnen.
Noch nie hat mich hier jemand schlecht behandelt oder mich gar bedroht, alle winken und zeigen mir die Daumen nach oben oder machen das Victory-Zeichen.
Ich mag die Gegend irgendwie, man kriegt großartige Burritos und Fajitas gleich ums Eck, ein wenig weiter die Straße runter zudem vorzügliches Kung-Pao-Chicken und Mongolian Beef.
Es gibt im Quartier auch ein Bowling-Center und einige kleine Bars mit Pool-Tischen und altmodischer Juke-Box.
Am Mittwoch gibt es im Bowling-Center 50-cent-hot-dogs und 1-dollar-beer.
Wir leben uns langsam ein, wir sind hier akzeptiert, wir fallen schon kaum mehr auf.
Das Paket von meinem Vater ist meine erste richtige Post seit ich in den USA lebe.
Mein Vater raucht seit ich denken kann Haschisch. Bei uns zu Hause war der schwere und würzige Geruch nichts Außergewöhnliches, sondern entsprach vielmehr der Norm. Er rauchte es aus Joints, Pfeifen, Bongs und Chillums.
Als ich aufwuchs, waren immer irgendwelche seltsamen Menschen bei uns zu Hause auf Besuch. Männer mit langen Haaren und Bärten, bunten Hemden, selig lächelnde Frauen in losen Röcken und dicken Ketten um den Hals. Es wurde getrunken und gelacht, musiziert und gemalt.
Und der Geruch von Haschisch oder Gras in der Luft war ganz normal für mich.
Genau wie der Anblick eines Joints.
Oder eines Chillums.
Rote Augen.
Rauch.
Herrlich lachende Gesichter.
Meine Eltern brachen in den späten Sechziger Jahren mit Chantal und Hanspeter, einem befreundeten Pärchen, in Richtung Indien auf. Sie waren allesamt 19 Jahre alt und wollten das Leben in allen Facetten und Zuständen erleben.
Ihre Augen glühten, ihre Herzen schlugen wild und heftig vor Aufregung.
Sie wollten sich selbst finden, einander finden. Andere, die wie sie waren, treffen. Die Fesseln der Spießigkeit ihrer Elternhäusern zerbrechen und abwerfen. Sie wollten leben und nicht überleben.
Atmen, einatmen, ausatmen.
Jauchzen, tanzen, frohlocken.
Sie waren Hippies und Freaks, sie trugen bunte Kleider und Sandalen, hatten alle lange Haare. Mein Vater trug eine Halskette mit Glöckchen daran, an den Füssen zertretene Mokassins, er spielte Mundharmonika und sang den Blues, meine Mutter las Sartre und vergötterte die Rolling Stones.
Chantal und Hanspeter besaßen einen VW-Bus. Hanspeter fuhr immer, er war der einzige mit einem Führerschein. Er saß ganz gerade in seinem Fahrersitz und blickte immer zielgerichtet nach vorne, in allen Belangen des Lebens. Er sprach mit tiefer Stimme und der Kadenz eines Akademikers, seine Entschlossenheit bestimmte das Timbre.
Meine Mutter und mein Vater saßen hinten und rauchten Joints, gedreht mit dem mitgebrachten schlechten Gras aus der Schweiz. Abends machte manchmal ein Chillum die Runde.
Mein Vater sagte: Bald gibt es richtig guten Shit, wartet es nur ab, bald gibt es den allerbesten Shit!
Sie fuhren durch den Balkan, wo alle Leute unglaublich gastfreundlich waren und sie willkommen hießen, ihnen Wurst und Schnaps gaben. Dort wurde getanzt und viel gelächelt.
Irgendwann erreichten sie schließlich Istanbul und saßen in Sultanahmet vor der Blauen Moschee, unter einem blauen, leuchtenden Himmel, aus dem wundervoll gesungen wurde.
Sie spazierten über den Bosporus und wieder zurück. Sie hingen tagelang im berühmt-berüchtigten Pudding-Shop herum, tranken Tee und rauchten alles, was ihnen gerade in die Finger kam.
Hier trafen sie viele Gleichgesinnte. Hippies. Freaks. Aussenseiter.
Leute, die in Indien waren, in Persien, in Kabul. Leute, die ihnen von den Sadhus erzählten, den Yogis, den Stränden in Goa. Dem Haschisch aus Rishikesh, aus Manali. Sie erzählten vom Himalaya, von den Gurus, von Puna mit seinem Osho.
Aber hauptsächlich ging es um Haschisch.
Um den Rock n Roll.
Um Jimmy Hendrix. The Doors. Janis Joplin.
Die Türkei war schnell durchreist. In Kappadozien wohnten sie ein paar Tage in einer feuchten Höhle. Sie freundeten sich mit Ali an und mit Mustafa, rauchten Haschisch mit ihnen, blödelten herum.
Ali und Mustafa wollten schließlich die Brüste meiner Mutter sehen, auch diejenigen von Chantal, aber dann kam es natürlich zum Streit.
Meine Mutter sagte wütend: Euch Schweine zeige ich nicht einmal meinen Fuß. Ihr seid der allerletzte Dreck, ihr seid nichts wert, ihr seid gottlos, ihr seid sogar viel schlimmer als alle Schweine der Welt zusammen.
Ali und Mustafa schrien und brüllten und drohten.
You fucking woman, we kill you!
Mein Vater prügelte sich mit Ali und dann mit Mustafa. Mein Vater, der von seinem großen Bruder das Boxen gelernt hatte, teilte kräftig aus.
Ali und Mustafa steckten beide einige Treffer ein, konnten meinen Vater dann aber beinahe überwältigen, und dann fing Chantal auch einen Schlag ins Gesicht ein, meine Mutter kratzte sich mit ihren Fingernägeln den Weg frei, aber schliesslich war es Hanspeter, der Mustafa mit einem Schwinger ins Land der Träume prügelte.
Soviel zu den Hippie-Weisheiten.
Love, peace, happiness.
Schnell war alles vergessen. Ali und Mustafa lächelten am nächsten Morgen wieder freundlich.
Nichts für ungut.
Come on, we are all brothers and sisters.
Erst als meine Eltern und ihre Freunde über hundert Kilometer weiter waren, fiel ihnen auf, dass ihnen hundert Dollar fehlten.
Das war viel Geld damals, sehr viel Geld.
Ein stolzer Preis für eine Prügelei und ein wenig Haschisch.
Aber schließlich kamen sie ein paar Wochen später in Persien an, das damals noch nicht der Iran war, und dort spielte das alles überhaupt keine Rolle mehr, die Türkei blieb in der Türkei und die hundert Dollar halt auch.
Persien war das Land des Lichtes, der Poesie, der sich darbietenden Möglichkeiten.
Damals gab es noch keinen unterjochenden Götterstaat. Die harten Ajatollahs hatten noch nicht die ganze Macht an sich gerissen. Die Frauen lächelten