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Boulevard Ring
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eBook84 Seiten51 Minuten

Boulevard Ring

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Über dieses E-Book

Der Boulevard Ring ist der innerste Ring Moskaus, entstanden aus der abgetragenen Befestigungsmauer der Weißen Stadt, dem ältesten Teil der russischen Hauptstadt. Fabian Saul umrundet diesen ersten Ring immer und immer wieder. Sein passagenhafter Essay – zwischen 2016 und 2018 entstanden – spiegelt die Verwerfungen in der Wahrnehmung des Stadtraums. Saul trägt Fragment über Fragment zusammen, um das Bild einer Stadt entstehen zu lassen, in der sich Vergangenheit und Zukunft treffen. Der Leser schreitet den Ring mit dem Text ab und entdeckt das Raumgefüge einer Stadt, in der alle Wege in die Irre führen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum22. Okt. 2018
ISBN9783957576521
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    Buchvorschau

    Boulevard Ring - Fabian Saul

    Abbildungen

    01

    In der dritten Nacht in Moskau erscheint mir eine Katze im Traum. Sie klettert auf den Turm aus Büchern, der neben meinem Bett steht. Mit schnellen Bewegungen ihrer Tatzen öffnet sie das oberste Buch und zerreißt es dann Seite für Seite. Ihre Tatzen bewegen sich zu schnell für meine Augen, aber ihr Blick ist regungslos, auf mich gerichtet. Erst als der ganze Turm zerstört ist, lässt sie ab. Dann läuft sie den Raum im Rechteck ab, vermisst ihn und beginnt in vertikalen Sprüngen die Tapeten herunterzureißen. Nur wenige Fetzen bleiben zurück. Und erst jetzt, da das Zimmer fast entkleidet ist, achte ich zum ersten Mal auf das Muster der verschwindenden Wände.

    02

    Ich wache auf und kippe das Fenster, weil die Heizung nie nachlässt. Der Verkehr auf dem Prospekt Mira rauscht stetig; an der Wand hängt ein Bild, das Fischer beim Einholen der Netze zeigt. Die Sterne am Космос Hotel blinken vor dem Fenster und hinterlassen ein Gitter von Punkten, die kommen und gehen, auf vereisten Scheiben.

    03

    Das Космос Hotel hat die Form eines Rings, der in der Mitte durchtrennt ist und sich gegen Westen zum Denkmal für die Eroberer des Weltraums, einer aufsteigenden Rakete, öffnet. Jedes Mal, wenn wir am Hotel vorbeilaufen, frage ich dich, ob wir bei dem Licht wohl schlafen könnten. Wir gehen nie hinein.

    04

    Zur Eröffnung des Космос Hotels 1979 singt der französische Sänger Joe Dassin: Dis-moi pour qui j’existerais / Des passantes endormies dans mes bras / Que je n’aimerais jamais / Et si tu n’existais pas / Je ne serais qu’un point de plus / Dans ce monde qui vient et qui va (Und wenn du nicht existierst / sag mir, für wen ich existieren sollte? / Für flüchtige Bekanntschaften, die in meinen Armen einschlafen / die ich niemals lieben würde? / Und wenn du nicht existierst / wäre ich nur ein weiterer Punkt / in dieser Welt, welcher kommt und geht)

    05

    Ach Gott, ich träume jede Nacht von Moskau, ich bin schon ganz verrückt, sagt Irina in Tschechows Drei Schwestern und in ihrem Elend: Nach Moskau! Nach Moskau! Nach Moskau!

    06

    Die baltoslawische Wurzel des Wortes Moskwa, mēzg- oder muzg-, stammt von dem indoeuropäischen meu-, das nass bedeutet. Der Name Moskwa bezeichnet demnach einen Fluß in einem Feuchtgebiet oder Sumpf.

    In einem Sumpf ist der Boden weich und feucht. Nur wer den Ort kennt, kennt auch die Stellen, die tragen, und jene, an denen man einsinkt. Sinkt man ein, kann man sich ohne fremde Hilfe nicht befreien.

    07

    In Moskau kannst du in riesigen Restaurants sitzen, wo du niemanden kennst und wo dich niemand kennt, und du fühlst dich nicht fremd, schreibt Tschechow später. Und so sitzen wir, Fremde unter Fremden, und wenden uns unserem eigenen Unbekannten zu. Nach Moskau! Nach Moskau! Nach Moskau!

    08

    Ich folge dem Prospekt Mira ins Zentrum, überquere erst den dritten Ring, dann den Gartenring und stoße schließlich am kleinen Ikonenladen der Petschatniki-Kirche auf den Boulevard Ring. (Der alte Graben, der einst die Innenstadt schützte, wurde zu einer Mauer aus weißem Stein und die Gebäude darin wurden die Weiße Stadt genannt. Später dann: Die Mauern wurden abgerissen, ein Band von zehn Boulevards ersetzt sie nun, lose zu einem Ring verbunden durch die Moskwa.)

    09

    Die Stadt erzählt sich mir ohne Parenthesen. Die Seitenstraßen, in denen es besonders jetzt im Schnee still ist, artikulieren sich kaum: Dort, in den Falten der Stadt, überwintern die russischen Dörfer, aus denen die Menschen in die Stadt kamen. Sie unterbrechen an keiner Stelle den Fluß des Materials, die Logik der Hauptsätze, die die Ringe und Prospekte bilden. (Die Parenthese: Fluchtlinie bei Deleuze und Guattari; der Machtstruktur ausweichend bei Barthes.)

    10

    Die konzentrischen Ringe der Stadt lassen alles stets zurück zu ihrem Nullpunkt fließen: der Festung des Kremls. Einem blinden Fleck gleich ist er als Ahnung überall in der Stadt spürbar. Wir umkreisen ihn auf Umlaufbahnen.

    11

    Das Wort Boulevard ist im Französischen vom mittelniederländischen Wort bolwerc entlehnt und wird bis 1803 ausschließlich in der militärischen Bedeutung Bollwerk, Befestigungsmauer oder auch verallgemeinert als etwas, mit dem man sich beschützt, verwendet.

    12

    Im Frühling einmal, in der Dämmerung am Tag der Arbeit, betrete ich den kleinen Laden an der Kreuzung Tschistoprudny und Pokrowka. Der Typ vor mir feiert mit einer Boombox um den Hals, einer amerikanischen Flagge um die Schulter und

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