punctum
Von Fabian Saul, Emmanuel Carrère, Josef H. Reichholf und
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Über diese Serie
Titel in dieser Serie (12)
- Die Balkanroute: Fluch und Segen der Jahrtausende
1
"Die Balkanroute ist dicht" kann man heute mit kaum versteckter Erleichterung allenthalben hören. Doch die Balkanroute, die seit tausenden Jahren von Menschen bereist wurde, ist nicht dicht, sie war es nie, und sie wird es nie sein. Najem Wali war im September 1976 auf dieser Route mit dem Bus unterwegs. Allerdings nicht auf der Flucht, sondern auf dem Rückweg von Frankreich in seine Heimat, den Irak. Sein Traum, an der Sorbonne Filmregie zu studieren, war geplatzt. Angeregt durch die Flüchtlingsströme bereist Wali abermals die Route und begibt sich im Gebiet zwischen der Türkei und Griechenland an die Nahtstelle zwischen Orient und Okzident. In seinem sehr persönlichen Bericht erzählt er von seinen Eindrücken, seinen Begegnungen mit Vertriebenen, Schutzsuchenden und Zurückgebliebenen und von der bewegten Geschichte der Levante, in der sich seit jeher reicher kultureller Austausch mit blutigen Vertreibungen abwechselten. Die Balkanroute war vieles, nur geschlossen war sie nie, denn so wie Tragödien keine Grenzen kennen, lassen sich auch Träume über Zäune schmuggeln.
- Wohin mit den Mittelklassen?
4
In den Statistiken ein schwarzes Loch, besessen von Abstiegsängsten und Wohnstrategien, mit einem ausschließlich materialistischen Verständnis von Kultur, einer entpolitisierten Sicht auf Politik, einer absurden Zahlenversessenheit, einem erotischen Verhältnis zum Ressentiment, nicht aber zur Selbstkritik ist die Mittelklasse eine unzuverlässige Größe. Wie kommt es dann, dass sich diese wunderliche, zur Revolte unfähige Bevölkerungsschicht selbst als Norm betrachtet und andere als anormal abstempelt? Sind die Mittelklassen die wahren Feinde der Demokratie? Nathalie Quintanes Text tut weh, wo es nötig ist. Und gerade wenn sie behauptet, dieser Text wolle nicht zum Lachen bringen, tut er es. Denn was die Mittelklasse kennzeichnet, "ist eine strikte Trennung zwischen dem, was wir leben, und dem, was wir behaupten". So ist "Wohin mit den Mittelklassen?" weder Chronik noch Pamphlet, sondern eine scharfe Bestandsaufnahme der heutigen Klassengesellschaft.
- Weiblichkeit im Aufbruch
6
Bei einem ihrer Spaziergänge durch Kairo wird sich Nora Amin unvermittelt bewusst, was es bedeutet, sich als Frau im öffentlichen Raum zu bewegen. Sie versteht plötzlich, was sie mit ihrem Körper repräsentiert, sie begreift die ewige Faszination durch den weiblichen Körper, und wie er von je durch Gewalt und Dominanz sozial zugerichtet wird, wie er mit Vorurteilen, Verachtung und Angst belegt ist. Ihre Gedanken bündelt sie in diesem leidenschaftlichen politischen Essay, in dem sie über die Rolle der Frau in arabischen Gesellschaften hinaus über Privatheit, Intimität und Körperlichkeit reflektiert. Überraschende, teilweise erschreckende Erinnerungen an traumatische Ereignisse auf dem Tahrir-Platz durchziehen diesen originellen und intensiven Text ebenso wie Erinnerungen an die Kindheit bis hin zu ihren Erfahrungen als Frau in westlichen Gesellschaften.
- Vergleichende Anatomie: Eine Geschichte der Liebe
5
"Du bist mir zu alt!" Mit diesen unvermittelten Worten beendet die Lebensgefährtin Thomas Palzers eine langjährige, überwiegend glückliche Beziehung, an die er viele Erinnerungen an gemeinsam verbrachte Nächte, Reisen und Gespräche knüpft. Der Verlassene tritt daraufhin aus dem Bett und nackt vor den Spiegel, wagt einen schonungslosen Blick auf seinen Körper und beginnt über das Verhältnis von Sex und Alter zu reflektieren. Mit Anfang 60 fühlt er sich nicht alt, aber erkennt, dass sich etwas verändert hat, doch auch die Sexualiät? Was bedeutet überhaupt Sex im Alter, wenn das gesellschaftliche Bild von Sexualität mit jungen, schönen Körpern verknüpft ist? In seinem sehr persönlichen und zarten autobiografischen Essay geht Palzer diesen Fragen nach, versuchte eine neue Verortung der Sexualiät und eröffnet auf kluge und nachdenkliche Weise einem tabuisiertes Thema Möglichkeiten des offenen gesellschaftlichen Diskurses.
- Boulevard Ring
7
Der Boulevard Ring ist der innerste Ring Moskaus, entstanden aus der abgetragenen Befestigungsmauer der Weißen Stadt, dem ältesten Teil der russischen Hauptstadt. Fabian Saul umrundet diesen ersten Ring immer und immer wieder. Sein passagenhafter Essay – zwischen 2016 und 2018 entstanden – spiegelt die Verwerfungen in der Wahrnehmung des Stadtraums. Saul trägt Fragment über Fragment zusammen, um das Bild einer Stadt entstehen zu lassen, in der sich Vergangenheit und Zukunft treffen. Der Leser schreitet den Ring mit dem Text ab und entdeckt das Raumgefüge einer Stadt, in der alle Wege in die Irre führen.
- African Dream
11
Offen für zufällige Begegnungen lässt sich Linda Tutmann neun Monate durch die unterschiedlichsten Viertel Kapstadts treiben. Die Migranten aus dem Kongo, Simbabwe und Kenia träumen in der Dudley Road von einer Rückkehr in ihre Heimat, während in der City Bowl die dünne schwarze Mittelschicht Karriere macht. An den Stränden für Hunde, Hipster und Gays organisiert sich ein Flashmob der Schwarzen zum Protest, während die Style Directorin der afrikanischen Glamour in der Bar La Perla ihren Abend gemeinsam mit Eskapisten der Oberschicht mit Champagner beschließt, bevor diese sich wieder hinter Mauern und elektronischen Zäunen verschanzen. In der Corner Bar bekämpfen derweil die weißen Apartheidsverlierer beim Castle-Lager Bier ihre Angst vor dem Aufstieg ihrer schwarzen Nachbarn und schwelgen in Erinnerungen an eine einst goldene Zeit. Tutmann fängt Lebensgeschichten und Haltungen, Orte und politische Ereignisse ein, die wie die Splitter eines Kaleidoskops die vielen Schattierungen der südafrikanischen Gesellschaft, ehemals Hoffnungsträger des gesamten afrikanischen Kontinents, ausmachen.
- Iran, Ordibehescht 1396
8
Eine Reise als Herausforderung, Ordibehescht 1396: Drei Wochen Iran im Mai 2017, ein Land, überfrachtet mit Klischees, Behauptungen, politischen und religiösen Vorstellungen. Drei Wochen gegen die Unzulänglichkeiten des eigenen Wahrnehmungsapparates anrennen wie gegen eine Mauer. Drei Wochen Begegnungen mit Menschen, Städten, Landschaften, die alle Klischees, Behauptungen und Vorstellungen Lügen strafen. Ordibehescht: Der iranische Frühlingsmonat verspricht Aufbruch in eine neue Zeit – die Jahr um Jahr auf sich warten lässt. Ordibehescht: drei Wochen Stau, Taroof und Grillfleisch, drei Wochen Fußballverrücktheit, Kinobesessenheit und flatternde Tschadors. Ordibehescht: ein Aufruf zum Dialog mit dem vermeintlichen Feind, ein Plädoyer für einen neuen Frühling. Welzbachers Reisebilder erzählen von historischen und gegenwärtigen Beziehungen zwischen Persien und dem Westen; vom Vielvölkerstaat Iran; vom Nutzen und Nachteil der Kultur- und Wirtschaftspolitik; von den Nöten und Wünschen einer Mittelschicht im Wartestand – deren Probleme man erstaunlicherweise auch aus Europa zu kennen scheint.
- Bonn. Atlantis der BRD
10
Früher war Deutschland kleiner, und auch die deutsche Hauptstadt war von deutlich zurückhaltender Anmutung als das sich im eigenen Schmuddelglamour sonnende Berlin. Bonn ist bodenständig, sachlich und vielleicht ein bisschen zu leer. Vieles dort scheint zu groß geraten für das bescheidene Flair. Bonn ist das Museum der jungen Bundesrepublik. Dieses Buch versammelt Erinnerungen an diesen märklinhaften Zaubergarten, und zugleich taucht es ab in die Schattenwelt unter dem Heiligen Hügel. Damals in Bonn: Es gab Telefonapparate, Nachkriegstraumata und eine große starke SPD. Joachim Bessing und Christian Werner porträtieren in Wort und Bild die Schaltzentrale eines versunkenen Lands, seine Vergangenheit, Träume und Aussichten - nostalgisch, wo es angemessen, und bissig, wo es nötig ist.
- Klima|x
17
Nach der Krise ist vor der Krise ist in der Krise. In seinem hellsichtigen Essay, geschrieben in Berlin in den Wochen des Lockdown, der nicht nur Deutschland im Frühjahr 2020 zu einem abrupten Stillstand zwang, wirft der Klimaaktivist und Humanökologe Andreas Malm die entscheidenden Fragen auf: Wie war es möglich, dass die Staaten des globalen Nordens angesichts der COVID-19-Pandemie so effektiv und entschlossen handelten – und im Hinblick auf die Erderwärmung immer noch nichts tun? Woher kommt die Sehnsucht nach einer Rückkehr zum Normalzustand, der längst schon keiner mehr ist? Und welche Schlüsse lassen sich aus der Kriegsrhetorik, in der über die Pandemie gesprochen wurde, für den Kampf gegen den eigentlichen Krankheitserreger ziehen? Jenem Krankheitserreger, der in Corona nur eine seiner Formen fand, die zeigt: Es gilt, der Zeit der Untätigkeit in Anbetracht des globalen Feindes namens Klimakrise ein entschlossenes Ende zu bereiten.
- Zurückgeben: Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter
13
Mit der Veröffentlichung des von Präsident Macron beauftragten Berichtes zur Rückgabe des in französischen Museen befindlichen afrikanischen Kulturerbes entflammte im November 2018 sofort eine kontroverse Debatte, die weit über Frankreichs Grenzen hinausging und bis heute anhält. Nicht von ungefähr, zeigt die Untersuchung doch klar, dass ein großer Teil der afrikanischen Sammlungen in den ethnologischen Museen Europas gewaltvoll im Zuge des Kolonialismus oder durch die Übervorteilung der Einheimischen angeeignet wurde ‑ heute befinden sich ca. 90 Prozent des afrikanischen Kulturerbes außerhalb des Kontinents. Nötig ist eine radikale Revision der bisherigen Sammlungspraxis, die auch deutsche Museen und nicht zuletzt das geplante Humboldt Forum berührt. Die deutsche Übersetzung des hitzig diskutierten, aber nur wenig gelesenen Berichtes soll helfen, die Debatte um Geschichte, Restitution und die Zukunft der Museen, die hierzulande erst an ihrem Anfang steht, für die breite Gesellschaft zu öffnen und sie gleichzeitig zu versachlichen. Denn letztlich geht es um viel mehr: Die Debatte über die Rückgabe des afrikanischen Kulturerbes kann der Anstoß sein für ein neues Gespräch zwischen Afrika und Europa und möglicherweise ein erster Schritt hin zu einem neuen Verhältnis auf Augenhöhe.
- Die Bereinigung der Natur
Nach der Freigabe Ende 2017 verschärfte sich der Streit um das Vertilgungsmittel Glyphosat. Während der Einsatz der Wunderwaffe gegen Unkräuter boomt, kommen der Politik mittlerweile doch Zweifel, ein Verbot wird in Aussicht gestellt. Grundlage sowohl der Zulassung als auch des angekündigten Verbots ist jedoch eine beschränkte Sicht auf die Wirkung des Herbizids, die dazu führt, dass die eigentlichen zerstörerischen Effekte in ihrer ganzen Breite außen vor bleiben. Der Biologe Josef H. Reichholf und der Chemiker Hermann Petersen erklären kundig und anschaulich, dass Glyphosat für sich nicht allein das Problem ist, sondern das landwirtschaftliche Umfeld, in dem es eingesetzt wird. Die Fokussierung auf die vermeintliche Giftigkeit des Mittels für den Menschen missachtet nicht nur, dass die Totalherbizide die Lebensbasis einer Vielzahl von Tieren zerstören und ein massives Insektensterben, also auch das Bienensterben mit verursachen; die Verkennung der tieferen Zusammenhänge macht auch den Weg frei, dass bald ein neues, vielleicht noch schädlicheres Mittel seinen Platz einnehmen wird. Die Angst der Verbraucher wird kurzzeitig genommen, das Desaster der bereinigten Natur bleibt.
- Hamburg. Sex City
18
Hamburg, das scheint aus Berliner Perspektive heute nur noch schwer vorstellbar, war zur Erzählzeit, den frühen Neunzigerjahren, das popkulturelle Zentrum Deutschlands. Hier saßen die wichtigen Verlage und Werbeagenturen, die es damals tatsächlich noch gab. Vor allem aber die Musikindustrie – und unterhalb dieser Corporate Culture war in St. Pauli aus dem Erbe von Hafenstraße, Punk und Roter Flora eine die deutsche Musiklandschaft prägende Subkultur entstanden: die sogenannte Hamburger Schule. Radikal feministische Diskurse, Gender Trouble, Riot Girls und die ständige Sorge, wie man von Hamburg aus mit kulturellen Mitteln dem wütenden Mob in der ehemaligen DDR, zwei Jahre nach dem Mauerfall, begegnen könnte; also all das, worum es in der Berliner Republik 27 Jahre später noch immer geht. Im Hamburg der frühen Neunziger wurde all dies bereits durchlebt – und ausgiebig diskutiert. Die Bilder, die Christian Werner in einem Visual Essay beiträgt, zeigen beide Seiten dieser Stadt: das bürgerlich-saturierte der libertären Hanse und das harte Pflaster des Milieus; das ist der Humus, auf dem einst, es ist noch gar nicht lange her, eine der wichtigsten kulturellen Strömungen des 20. Jahrhunderts entstanden ist.
Fabian Saul
Fabian Saul, 1986 geboren, ist Autor, Komponist und Chefredakteur des vielfach ausgezeichneten Magazins Flaneur. Das Magazin, das sich in jeder Ausgabe einer Straße der Welt widmet, verfolgt einen kollaborativen und interdisziplinären Ansatz, der sich auch in Sauls Arbeit wiederfindet. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit arbeitet er als Komponist und Songwriter. Seine Musik erscheint unter seinem Künstlernamen SAUL. Seine Arbeit wurde u. a. mit der Alfred-Döblin-Medaille, dem Stipendium der Roger-Willemsen-Stiftung und dem Harald-Gerlach-Stipendium ausgezeichnet.
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