Die letzte Metro: Junge Literatur aus Tschechien
Von Voland & Quist
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Über dieses E-Book
Achtzehn Autorinnen und Autoren sind vertreten, oft erstmals ins Deutsche übersetzt. Mit Texten von: Bianca Bellová, Ondřej Buddeus, Dora Čechova, Vladimíra Čerepková, Irena Dousková, Emil Hakl, Petr Hruška, Václav Kahuda, Dora Kaprálová, Hana Lundiaková, Igor Malijevský, Jaroslav Rudiš, Tereza Semotámová, Petra Soukupová, Alžběta Stančáková, Michal Šanda, Filip Topol und Eva Turnová.
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Buchvorschau
Die letzte Metro - Voland & Quist
Martina Lisa/Martin Becker (Hg.)
Die letzte Metro.
Ein Erfahrungsbericht
Es gibt da diesen einen Satz. Vielleicht sollte ich mit ihm anfangen. Jeder, der schon mal in Prag war, kennt ihn. Seit mehr als dreißig Jahren dieselbe Stimme, die uns bittet, das Einsteigen und Aussteigen zu beenden. Und seit über dreißig Jahren ist das auch mein Satz. Manchmal höre ich ihn bis in mein Wohnzimmer hinein. Manchmal werde ich von ihm geweckt. Wenn die erste Metro des Tages gerade eingefahren ist.
Der Satz ist ein Versprechen. Ein Versprechen, das eingelöst wird. Hundertfach am Tag, tief unter der Stadt. Da wohne ich. Im grünen Bereich. Ein Stück hinter der Metrostation Jiřího
z Poděbrad. Auf der Linie A. Vielleicht haben Sie schon von mir gehört, in einer langen Nacht in irgendeiner Prager Spelunke. Der Mann, der die Metro kennt wie niemand sonst. Der Mann, dem die Metro ein Zuhause ist.
Die klaffenden Mäuler dieser Krake, die im Prager Untergrund ihre Glieder ausbreitet, schlucken und speien jeden Tag anderthalb Millionen Menschen aus. Abertausende im Minutentakt. Du irrst im eisernen Ungetüm durch die Tunnel, getragen von den Wellen des menschlichen Gedränges und Gemurmels, aus einzelnen Wörtern und zerfetzten Sätzen wird eine Melodie, du verstehst sie nicht, summst aber dennoch sofort mit und suchst einen Halt auf dem in bunten Farben gemalten Plan. Drei Farben. Drei Richtungen. Drei Generationen. Die Türen schließen sich, die Bahn fährt an. Der unvergessliche Sound der Stadt unter der Stadt.
Vor über dreißig Jahren bin ich deshalb in den Untergrund gegangen. So hat man es Ihnen in der Prager Spelunke erzählt. Aber geglaubt haben Sie die Geschichte nicht. Einer, der im Tunnel lebt? Mit Wohnzimmer und echtem Bett? Und sie haben ihn nicht rausgeworfen, den Jiří vom Jiřího z Poděbrad? Aber mir können Sie das ruhig glauben. Es gibt mich wirklich. Sie müssen schnell sein, wenn Sie zu mir wollen. Zwischen zwei Bahnen in den Tunnel steigen, sich nicht erwischen lassen, dann die erste Tür fest aufdrücken, Notausgang, ganz fest, und dann ein Stück durch den finsteren Gang, erste Tür rechts, zweite Tür links. Und Sie stehen in meinem Wohnzimmer. Eine komplette Wohnung. Ein Zimmer, provisorisches Bad, Plastikblumen, Porzellan und ein riesiges Bücherregal. Wenn ich nicht der Metro nachschaue, dann lese ich. Eine Zeit lang hatte ich auch einen Fernseher, aber der ist mir zu langweilig geworden. Eine Zeit lang hatte ich auch Ratten, aber denen ist es mit mir zu langweilig geworden.
Vor über dreißig Jahren bin ich in den Untergrund gegangen. Weil sie mich beruhigt, die Metro, die minütlich an meinem, nennen wir es ruhig so, imaginären Wohnzimmerfenster vorbeirumpelt, die gerade erst Fahrt aufnimmt auf dem Weg zum nächsten Halt. Was wäre wohl passiert, wenn sie die Metro nie gebaut hätten? Wo würde ich heute leben? Vielleicht in einer ausrangierten Straßenbahn. Aber das wäre nicht dasselbe. Das wäre einfach nicht dasselbe.
Damals hielt man die Ingenieure für Fantasten, als sie die Idee einer Prager Untergrundbahn ins Spiel brachten. Man lachte sie aus für ihre versponnenen Pläne. Eine Untergrundbahn in Prag? Bei dem sandigen Boden? Und was ist mit dem Fluss? Diese Bahn wird es nie geben. Tatsächlich sollte es von diesem Augenblick an noch einige Jahrzehnte und einige historische Umwälzungen dauern, bis sich die ersten Wagen ihren Weg durch den Untergrund bahnten. Am 9. Mai 1974 wurde die Prager Metro eröffnet.
Am Anfang, da fuhr sie nur wenige Meter tief. Mangelnde Erfahrung im Tunnelbau. Den hat man aber ziemlich schnell erlernt. Die brauchten ja Bunker für den Ernstfall, den es nie gab. So entstand im Laufe der Zeit nicht nur die tiefste europäische Untergrundstation überhaupt, die den Frieden im Namen trägt, sondern auch ein ausgeklügeltes System aus Tunneln und Gängen. Und dann kam die Samtene Revolution, und viele Stationen wurden umbenannt, Lenin verschwand, und Moskau, die ganzen Fučíks und Gottwalds und mit ihnen auch die Erbauer der neuen Welt und die Kosmonauten. Die prächtigen Orte da unten hießen nun »Florenz« oder »Engel«. Wenn man ausstieg, roch es jedoch wie eh und je nach Kohle und Malz, die Luft war trüb, die Straßen voller Dreck und in der Kneipe an der Ecke wurde der Tag mit einem frisch gezapften Bier begrüßt. Die Namen änderten sich, aber das Bier schmeckte genauso bitter wie immer. Aus der Küche roch es nach verbrannten Zwiebeln und der alte Pianist stimmte wie aus dem Nichts den Brežněv-Blues an. Das Lokal schwankte mit. Später dann kam die Flut. Und wieder wurde alles anders. Mir hat es damals auch mein Hab und Gut weggespült. Ich habe geholfen, den Schlamm zu schippen. Tagelang. Freiwillig. Und dann bin ich wieder eingezogen, in meine frisch renovierte Bude unter der Erde.
Vor über dreißig Jahren bin ich also in den Untergrund gegangen. Und ich habe keinen einzigen Tag davon je bereut. Es gibt Geheimnisse, die kennt niemand außer mir. Weil die Planer des Systems längst unter der Erde sind, aber anders als ich. Hier vom Jiřího z Poděbrad aus, zum Beispiel, dem Tor zur Hölle des legendären Kneipenviertels Žižkov, führt ein Geheimgang. Das dürfen Sie aber niemandem erzählen, sonst kommen bald die Touristen. Dieser Geheimgang, und das schwöre ich bei der Metro, führt direkt in den Hinterhof des Planeten Žižkov. Das ist meine Lieblingskneipe. Da gehe ich hin, wenn mir der Sinn nach Gesellschaft steht. Aber erst nach Mitternacht. Ich genieße es, wenn sie mir nach dem zweiten, dritten oder vierten Bier meine eigene Geschichte erzählen. Und dann sage ich: Ein Typ, der in den Tunneln lebt? Das gibt es nicht, das kann es gar nicht geben. Denkt doch mal nach.
Vor Jahrzehnten bin ich in den Untergrund gegangen. Und vorher, da bin ich mit der Metro gefahren, von morgens bis abends, ich saß da und schaute mir die Gesichter an, von Endstation zu Endstation. In der roten Linie C, zum Beispiel, unter sandigem Grund und unter Wasser. Denn Sie wissen ja bestimmt, dass die Metro auch unter dem Prager Fluss fährt, der Vltava, der Moldau. Aber was Sie bestimmt nicht wissen: Man kann den Fluss auch hören. Wenn man es schafft, auf die Sitzbank zu steigen und ganz unauffällig sein Ohr an die Decke zu pressen, dann kann man es hören, das sanfte Schlagen der Wellen. Und sogar die alten Karpfen, die leise die Moldau-Sinfonie summen.
Und die letzte Metro ist die schönste Metro von allen. In der letzten Metro, da ist man melancholisch und will nicht, dass die Fahrt aufhört. In der letzten Metro, da ist man oft verliebt und mit dem Kopf ganz woanders. In der letzten Metro, da bleiben manchmal Gedichtbände liegen oder gleich ganze Romanmanuskripte. In der letzten Metro bleibt nur noch die zufriedene Müdigkeit oder die müde Unzufriedenheit, es gibt keine Fortsetzung mehr, denn die Geschichten des Tages sind geschrieben, die wir uns am nächsten Morgen erzählen werden. Die letzte Metro gehört den Originalen. Gestalten, die den Büchern entspringen könnten, die ich lese. Ich sehe die Gesichter nur kurz, wenn die Bahn ganz langsam vorbeifährt oder vor meiner Haustür für einen Moment stehen bleibt, und doch kommt es mir so vor, als würde ich ihre Geschichten kennen. Da war zum Beispiel ein alter Herr mit Saxofon in der Hand, ich stellte mir vor, wie sie ihn schon lebendig beerdigen wollten und wie er im letzten Moment doch noch aus dem Sarg sprang. Da war diese Frau, die einen ganzen Kleiderschrank dabeihatte, und ich malte mir aus, wie sie darin lebt. Da war dieser Mann, der trug ein neues Jackett unter dem abgewetzten Mantel und hatte eine Kerze in der Hand, und ich stellte mir vor, dass er ein Hotelportier aus der Kleinstadt ist, der die Kerze am Wenzelsplatz anzünden will für seinen Helden, für Václav Havel, den Dichterpräsidenten. Da war mal ein Kerl, der hatte tatsächlich seine Bergmannskluft an, und ich dachte mir, der ist bestimmt gerade aus Ostrava hierhergekommen, um in der letzten Metro allen die Geschichte von seiner schlimmsten Schicht unter Tage zu erzählen. Die letzte Metro fährt nach Mitternacht, und dann ist sie weg, und dann ist es für Stunden still in den Tunneln und Gängen des Prager Untergrunds. Wer die letzte Metro verpasst, der muss eine Odyssee auf sich nehmen, der irrt mit Nachtbussen und Nachttrams durch die schlafende Stadt. Wer die letzte Metro nicht kriegt, der kommt vielleicht gar nicht mehr nach Hause. Der geht wieder in die Kneipe und bestellt ein Bier und dann noch eins. Bis zum Anfang des neuen Tages, bis zum Ende der Nacht.
Wahrscheinlich bin ich wegen dieser letzten Metro überhaupt in den Untergrund gegangen. Weil ich weiß, dass ich sie dort alle sehen kann, die anderen Verlorenen, die Einsamen, die der Nacht und dem Bier entflohen sind. Manchmal, wenn die letzte Bahn des Tages abgefahren ist, dann lege ich mich in mein Bett und träume von ihnen. Ich träume ihre Geschichten weiter. Und dann geht es um die letzte Nacht in Freiheit. Dann geht es um Paare, die sich aneinanderklammern wie Schiffbrüchige. Dann geht es um Tauben und Mauersegler, die einander eigentlich nichts abgewinnen können, aber sich doch den Himmel über uns teilen. Und einmal, ich weiß es noch genau, da habe ich von mir selbst geträumt: Von diesem Typen, der im Seitenarm eines Tunnels der Prager Metro lebt und von unten aus die Welt betrachtet, den jeden Morgen immer wieder derselbe Satz weckt, den er dann hundertfach am Tag hören wird. Und er freut sich manchmal schon am frühen Morgen wie ein Kind auf die letzte Metro. Auf all die Gesichter und Geschichten. Und vielleicht geht er dann in die Kneipe und lauscht seiner eigenen Geschichte, die dort wieder mal erzählt wird und die selbst nach dem sechsten Bier kein Mensch dort oben glaubt.
Vladimíra Čerepková
Die Metro
Metro wie die flackernde Falle
bewacht beim Einstieg ein Biest
Gekrümmte drängen im Getümmel
Gestrandete speisen aus endlosen Säckchen
bloßer Fuß beschuht mit Krempel
streichelt den Schmutz
Igor Malijevský
Das Goldene Glöckchen
Mein dritter Tag in der neuen Arbeit. Da kommt meistens die Krise. Ich sitze mit weiteren zwanzig Menschen in einem Großraumbüro, niemand redet. Stattdessen wird gechattet. Dutzende Tastaturen klappern, das zarte Klackern ist voller Emotionen, Gleichgültigkeit wechselt sich mit Aufregung ab, wird zum lakonischen Schäkern, die Tastaturen schnurren, mal lacht einer kurz auf, mal greift sich ein anderer an den Kopf. Mir, zum Beispiel, schreibt in letzter Zeit immer Lenka. Allerdings am liebsten spät in der Nacht. So piepst es mal um zwei Uhr nachts:
schlafen sie schon? Sie mag das Siezen. Ich tue so, als schliefe ich, und lese dann am nächsten Morgen: es tut mir leid, ich war so einsam. Ich antworte, ich könne für Zerstreuung sorgen, am Abend zum Beispiel, wie wäre es denn mit Schwimmen, Kino, Theater oder Eistanz, worauf sie erwidert, es sei sehr lieb von mir, sie habe aber abends keine Zeit. Darauf folgen üblicherweise etwa fünf Tage Ruhe.
In einer halben Stunde ist Feierabend. das war das schlimmste jahr meines lebens, es tut schon sehr weh, wenn man sich so sehr um etwas bemüht und am ende wirds nichts. verstehen sie? nicht dass ich noch vulgär werde, schreibt Lenka, ich packe zusammen, Rechner, Kamera, Handy, und ab an die frische Luft. Feierabend.
ich fühl mich richtig elend …, piepst meine Hosentasche auf der Rolltreppe. Ich antworte nicht. Ich stehe an der weißen Linie, starre in die Unendlichkeit des Tunnels, die muffige Luft zerzaust mein Haar. Als Kind hatte ich oft einen Albtraum, ich stehe am Bahnsteig, und plötzlich bricht Panik aus, alle rennen, in die Station fährt eine gepanzerte Militärmetro ein, keine Fenster, nur Schießscharten, alles in mir schnürt sich zusammen, zum Abhauen ist es viel zu spät, merke ich und wache auf. was machen sie heute abend?, piepst meine Tasche erneut, dann ist der Empfang weg. ich warte auf sie im cross, schreibe ich in der nächsten Station zurück.
Rundherum nur Rohre, einige enden in einem komisch angeleuchteten Gefäß, wo eine verdächtige Flüssigkeit blubbert. Die Mädels an der Bar haben nur mäßigen Spaß, aber meinen Wein kriege ich dennoch. Und den zweiten auch. Von der Decke blättern Wörter ab, aber nur einige, das Wesentliche bleibt unausgesprochen. Ich notiere sie auf die Rechnung. Zwischendurch piepst hin und wieder mein Handy. das war der schlimmste sommer meines lebens! und dann: ich schaffs heute abend wohl nicht mehr.
»Ich nehm noch einen und werd gleich zahlen.« Das nächste Wort fällt ins Glas.
nicht zu ende gesprochene sätze
bluteten aus an bars
röteten das meer
der straßenbahninseln
huschten durch schlafzimmer
und in allerletzter agonie der sinne
küssten sie den trunkenen
auf die schläfe …
Die Straßenbahn kommt gleich, und ich steige ein. Der Wagen stößt mit Kraft von der Insel ab, die Stadt beginnt fröhlich zu blinken, die Schienen schwanken, und der Mond strahlt auf die Ränder der Wolken. Der Typ gegenüber fängt meinen Blick und lässt ihn nicht mehr los. Ich versuche ihn so nebenbei einzuschätzen. Leicht ergrautes Haar, um die vierzig, schlechte Zähne, nach seiner Kleidung zu urteilen wohl ohne Frau, ein gealterter Rocker vielleicht oder ein Hippie, den alle aus der Clique schon verraten haben, doch er bleibt seinen Idealen – jeden Abend ins Jericho oder in ein ähnliches Loch – treu. Vorsichtig richte ich meinen Blick auf etwas anderes. Da steht der Typ auf, setzt sich auf den Sitz vor mir und streckt mir seine Hand entgegen.
»Ahoj, ich bin Jirka. Schöne Kamera, eine Flexaret?«
Unsere Daumen verhaken sich. Jirka hat raue Hände, an zwei Fingern fehlt die Kuppe.
»Yashica«, antworte ich lustlos.
»Yashica, ach so, na, die hat schon ’ne bessere Linse.«
»Hmm.«
»Ich hab immer mit der Flexaret geknipst. Sag mal, kann ich dich was fragen?«
Ich schaue aus dem Fenster und spüre Druck auf der Blase. Jirka deutet es als Zustimmung.
»Haste zehn Kronen für mich?«
»Nein.«
»Dann sorry, Mann.«
Die Straßenbahn schaukelt hin und her, aber die Großstadt leuchtet plötzlich ganz anders, irgendwie müder, irgendwie gedämpfter. Als wir Čechův most erreichen und über die Brücke fahren, kommt mir wieder die gepanzerte Metro in den Sinn, mitsamt allen Details der Ummantelung. Die ist zackig, vermutlich habe ich damals Zeichentrickfilme von Karel Zeman geschaut.
»Geld kriegste nicht, aber ich lad dich auf ein Bier ein, im Rudolfinum«, sage ich zu meiner eigenenen Überraschung.
»Dein Ernst, Mann? Na,