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Die Behinderung oder Gabriels letzte Sendung: Roman
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eBook205 Seiten2 Stunden

Die Behinderung oder Gabriels letzte Sendung: Roman

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Über dieses E-Book

Gabriel Ender - ehemaliger Rundfunksprecher - nimmt an einem Therapieseminar für Eltern mit behinderten Kindern teil. Die Veranstaltung findet auf einem süditalienischen Campingplatz statt, dessen Padrone Felice Belli einen Dachboden-Radiosender betreibt. Ender - bei den Selbsterfahrungssitzungen bloß autistischer Außenseiter - lässt die "Geschichte der letzten Zeit" Revue passieren: Seine Frau hat nach mehreren Fehlgeburten von einem prominenten Spezialisten eine „Zellimplantation“ vornehmen lassen und ist von Enders Klon entbunden worden. Bald nach der Geburt des behinderten Kindes ist sie durch einen Autounfall ums Leben gekommen, wobei der Verdacht auf Selbstmord besteht.

Felice Belli - als Neapolitaner in dieser lucanischen Provinz ein ungeliebter Eindringling - hat einst "den Dschungel von Briezza" zu einem "Europacamp" gemacht, um Kultur, Zivilisation und Wohlstand hierher zu bringen. Selbst Vater eines behinderten Sohnes, hat er nicht nur die deutsche Selbsterfahrungsgruppe eingeladen, sondern beherbergt auch Flüchtlinge. Es kommt zu Anfeindungen und Drohungen seitens der Dorfjugend, die Autos der Deutschen werden beschädigt, ein krankes Flüchtlingskind stirbt, nachdem die ärztliche Hilfe hintertrieben worden ist.

Felice lädt Ender ein, mit ihm im Dachbodensender "den Tag zuende zu senden", was der betrunkene Ender nur allzu wörtlich nimmt. Während der Sendung, die parallel mit einem Marienfeuerwerk abläuft, werfen die Dorfjugendlichen Molotow-Cocktails. Die Flüchtlingszelte bleiben unbeschädigt, Enders Zelt - in dem er ursprünglich sein Kind zurücklassen wollte - geht hingegen in Flammen auf.

Der Text variiert den Mythos vom Erzengel Gabriel, der am Jüngsten Tag durch einen Trompetenstoß den Weltuntergang verkünden soll. Das Camp ist eine Miniaturwelt, eine "zweite Schöpfung" im Sinne Thomas von Aquins. Der Campingsender steht für Humanität, der "Dschungel, der das Camp umgreift", für Barbarei. Die beiden Welten - jene "drinnen" und jene "draußen" - verbinden sich letztlich in Enders Bewusstsein (dem eigentlichen "Sender"). Die vorgebliche "Rettung" des Kindes - das der betrunkene Ender während des Feuers im Zelt geglaubt hat - bewegt ihn, die Rolle als Vater seines „Ebenbildes“ endlich zu akzeptieren.
SpracheDeutsch
HerausgeberSisyphus
Erscheinungsdatum30. Dez. 2011
ISBN9783901960475
Die Behinderung oder Gabriels letzte Sendung: Roman

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    Buchvorschau

    Die Behinderung oder Gabriels letzte Sendung - Ludwig Roman Fleischer

    1. KAPITEL

    Ich habe mein Leben im Sender beendet! Gabriel Enders Mikrophon wird zur beschworenen Schlange. Er weiß sich als bloß ehemaliger Rundfunksprecher und ahnt sich als bloßer Träumer, der den Auftrag des Intendanten – weiterzusenden – nicht befolgt.

    Das Fenster der Erinnerung ist mit Traumtau beschlagen. Ender hofft noch, anderswo und anderswann, anderswie und anderswarum kein anderer zu sein als er. Vogelzwitschern, Grasgeraschel, Knacken im Geäst. Ein leichter Wind wischt über das Zelt, und Ender vernimmt Atemzüge, die nicht die seinen sind. Er streckt den Arm aus, seine Hand fühlt kühle Haut, der Schock stößt ihn ins Übliche: in die Geschichte der letzten Zeit. Das Leben im Sender beendet. Auf Reisen gegangen. Gestern hier angekommen: Europacamp Briezza, Region Basilicata, mit eigenem Radiosender. Gestern: das war, als ein gewisser Karlheinz aus Köln vor dem Büro an einem Klapptisch saß, an seinem Laptop herumklapperte, Dateifragmente kontrollierte und wissen wollte, ob man man war.

    „Du bist Ender Gabriel, Gabriel Ender?"

    „Ich sei Ender," variierte Ender bei sich, nickte aber bloß. Karlheinz fuchtelte sich Fliegen von der schweißbenetzten Glatze, beorgelte seinen Computer und sagte schließlich, ohne Ender angesehen zu haben:

    „Ender, ja, da hab ich ihn."

    Auf dem Klapptisch lag ein Stapel jener Werbebroschüren, von denen man ihm, Ender, seinerzeit im Jugendamt ein Exemplar gegeben hatte. Hochglanzsee in Grün, geblähte Segel, Wasserlilien, von Balkenlettern überwachsen: SELBSTERFAHRUNG IM EUROPACAMP BRIEZZA, daneben das Selbsterfahrer–Logo: über einem stilisierten Rollstuhl zwei einander gereichte Hände, (die eine behindert, die andere unbehindert, wie Ender dachte), Untertitel: WIR SUCHEN EINEN NEUEN ANFANG.

    Ender öffnet den Zippverschluss und reißt damit ein Loch in die Düsterkeit des Zeltes. Das Zelt stammt aus der Zeit vor der letzten Zeit, wie Ender sich erinnert: ein silberner Tunnel mit blauem Saum, wie immer in der Kühle der Nacht ein wenig geschrumpft und runzelig geworden. Im Schlafsack neben jenem Enders wird noch geschlafen, Ender wirft sich im Knien eine Trainingsjacke um die nackten Schultern, greift nach Waschzeug, Handtuch, Thermosflasche, kommt auf die Beine und macht sich auf in einen neuen Tag, der von der letzten Zeit regiert wird. Die letzte Zeit begann, als Enders Familienstand sich änderte und er diese Veränderung besiegelte, indem er zwei Kreuze auf ein Formular strichelte, weil ihn die Sekretärin nach einem verkrampften Mitgefühlsausdruck sachlich auf die neue Steuersituation aufmerksam gemacht hatte.

    Dem Endertunnel gegenüber eine sorgsam angeordnete Gasse aus Zelten, davor Autos, Kinderbuggies, Traggestelle, neben einem Wohnmobil ein leerer Rollstuhl. Die Zelte scheinen sich im Atemrhythmus ihrer Bewohner zu heben und zu senken, Ender geht auf Zehenspitzen. Vor einem trockenen Brunnenbecken, in dessen Mitte eine steinerne Muttergottes steht, ihren schielenden Erlösersäugling im Arm, hält Ender an: zu seiner Linken das geweißelte Blockhaus, ebenerdig Bar, Büro und Laden, im ersten Stock die Wohnung des Padrone, im Dachgeschoss mit den zwei Fensterschlitzen ein Tagesrest aus Enders Traum: der Sender, wie eine in der Morgensonne silbrig glänzende Antennenapplikation vermuten lässt. Wir bieten zwei Varianten: Seminar eins auf Schloss Castiglione, Toscana, Seminar zwei auf dem Campeggio Europa in Briezza, Basilicata, beste Ausstattung, warme und kalte Duschen, Koch– und Grillgelegenheit, Sportplatz, beste medizinische Versorgung und als besondere Attraktion die private Radiostazione Briezza, die von der Direktion betrieben wird und von den Seminarteilnehmern bei Bedarf benutzt werden kann.

    Es war wohl der Sender, der den Ausschlag für Briezza gab, eine kleine Sentimentalität: benutzen dürfen statt müssen.

    „Du bist Rundfunksprecher? Na, das is ja `n Ding. Da ham wir ja nen Vollprofi unter uns."

    „Ich war," wollte Ender sagen, doch schwieg er, weil man niemals etwas anderes ist als was man war.

    „Da werden wir zusammen mal auf Sendung gehen, so richtig unter kundiger Führung, was? Is gar nich so übel, der Kasten, wirst sehen."

    Ender wurde durch lautes Gemecker und Geblöke abgelenkt: An das Blockhaus grenzte eine Weide, man sah einige Schafe grasen, und einen angepflockten Ziegenbock, den es zu ihnen hinzog – der Strick war zum Zerreißen gespannt, das Pflöckchen bog sich. Ein trotz der Hitze ungeschoren gebliebener Widder stand vor dem Ziegenbock aufgepflanzt, die Hörner gesenkt, bereit, seine Herde zu verteidigen. Drei Kinder am Holzzaun begannen, das Gemecker und Geblöke nachzuahmen, ein Knabe presste seine Fäuste an die Schläfen, mit vorgestreckten Zeigefingern, die Hörner darstellen sollten, und stürzte sich auf seine beiden Spielgefährten. Sie ergriffen kreischend die Flucht.

    „Also, das is ja jäck, nich? freute sich Karlheinz in kehligem Kölsch, „`n richtiger Profi.

    Ender war aufgestanden, hatte sich routinemäßig an den Rücken gegriffen: die Schnalle des Snugly war verschlossen gewesen. Es konnte nichts passieren: kein Sturz, keine Verletzung drohte, kein Schädeltrauma, keine bleibende Behinderung, sein Fleisch und Blut, das Ebenbild, hing sicher wie in Abrahams Schoß an seiner Brust.

    „Herzlich willkommen," rief Karlheinz ihm nach, als Ender – Snugly an der Brust – auf die steinerne Maria zuging, die er jetzt – auf die Waschbaracke zuhaltend – hinter sich lässt.

    Ender in einem säuberlich schwarz–weiß gekachelten Raum. Es riecht andeutungsweise nach Urin und eindeutig nach Desinfektionsmittel. Ender hält seinem Spiegelblick nicht stand, greift in die Tasche seiner Trainingsjacke und erfühlt das Fläschchen, das er in der letzten Zeit immer bei sich trägt wie einen Talisman: Symbol der steten Möglichkeit, die Wirklichkeit zu schwänzen. Er schaufelt sich kaltes Wasser ins Gesicht und schüttelt heftig den Kopf.

    2. KAPITEL

    Ender rasiert und erinnert, erinnert und rasiert Ender. Auch damals einen neuen Anfang suchend, nahm Ender die Rasierschaumdose zur Hand, wie Ender jetzt. Limonenfrische, elektronisch getestet, biologisch abbaufähig, gibt babyweiche Haut. Es floss Blut, wie immer, wenn die Klinge neu ist. Schaum aufgetragen, sich Rasiergrimassen und Blutmuster geschnitten. Den bevorstehenden Morgen memoriert: Die Zeit – in fünf Minuten ist es. Sie hören die Weltnachrichten, dachte es in Ender, denkt Ender. Morgendliche Üblichkeit. Worte wie Weltnachrichten. Gegen einander austauschbar, ohne Sinnverlust oder Sinngewinn. So oft verwendet, dass sie sich auf nichts Bestimmtes mehr beziehen.

    Ender ertastete den Knopf des Badezimmerradios und suchte nach dem Popsender. „Ich kenn den Kerl im Spiegel zwar nicht, putz ihm aber trotzdem die Zähne." Enders Radio klang anders: der seriöse Sender, der Kulturkanal, Weltgeschehen zwischen Inventionen von Bach, und wenn schon Humoristisches, dann von Byron, Lichtenberg oder wenigstens Karl Farkàs.

    Das Eichhörnchen im Badezimmerfenster saß vor seinem Kobel und putzte sich. Birgitt wartete im Spital, gefügiggespritzt für den harmlosen Eingriff. „Eine reine Routineangelegenheit, hatte Professor Demeter gesagt, „seien Sie völlig unbesorgt. Ihre Frau wird wieder hundertprozentig fruchtbar sein und dann sind Sie an der Reihe.

    Ender rasiert sich die zweite Maskenhälfte vom Gesicht und versucht, das Blut abzuwaschen. Immer wieder besetzen sich Hals und Kinn mit roten Kügelchen, die langsam über die Haut rollen.

    Er suchte nach dem Blutstiller: Alaunstein, Zellstoff und rosa Plastik. Das Eichhörnchen war an der Wand des Fensterkastens emporgeklettert und saß nun auf dem oberen Rahmen des äußeren Fensterflügels, den Birgitt und Ender immer einen Spalt offenließen, damit der Fluchtweg zugänglich blieb. Das Eichhörnchen kämmte sich mit zierlichen Klauen das nussbraune Fell, drehte Ender den Rücken, den Schweifbusch aufgestellt, sodass das Geschlecht erkennbar gewesen wäre, hätte er sich auf das Aussexen von Eichhörnchen verstanden. Ein rosa Zäpfchen am Fellbauch: falls das primäre Merkmal, dann männlich, wenn bloß sekundär, dann weiblich.

    „Wollen Sie es wissen?" hatte Professor Demeters gynäkologischer Vorgänger gefragt, und da wusste man es, ohne zu wollen.

    „Ansonsten würde er nicht fragen," sagte Birgitt und das auf dünnes Glanzpapier gedruckte Bild bestätigte das bereits gemachte Bild.

    Der Stiller brennt.

    Er brannte ein rotes Krustenmuster in Enders Haut. Das Eichhörnchen kämmte sein Fell. Beim ersten Rundgang durch die neue Wohnung hatte Birgitt den kleinen Wall aus Heu, Geäst und Laub entdeckt, im Badezimmerfenster: „Wahrscheinlich ein Dichtungsversuch der Vormieter." Ender hatte das trockene Zeug herausreißen wollen, was ihm aber nicht gelungen war. Eines Tages dann der Kobel, wie Birgitt später im Großen Lexikon der Tiere nachlesen würde: eine Kugel aus Zweigen, Heu, Watte, Nylonfolie. Birgitt und Ender hatten von Steinmardern gehört, die in dieser Gegend ihr Unwesen trieben (oder auch ihr Wesen in dieser Ungegend), die Kabelstränge geparkter Autos zerbissen und Verteilerköpfe fraßen. Dass es ein Mittel gebe, hatte die Nachbarin gesagt, man erhalte es an der Tankstelle gleich um die Ecke. Es sehe aus wie ein Säckchen Mottenkugeln und werde unter der Kühlerhaube befestigt. Der Geruch vertreibe die lästigen Viecher.

    Ender stand hinter Birgitt und betrachtete das knabenhaft kurzgeschnittene Schwarzhaar, das sich in ihrem Nacken als ein Dreieck aus dunklem Flaum fortsetzte. Ein Schatten kam die Fassade herabgehuscht, schnellte durch die offene Oberlichte und herein in den Fensterkasten. Birgitt klatschte in die Hände: „Gabriel, ein Eichhörnchen!"

    Eines, das Nylonfolien verwendete, um seinen Kobel abzudichten: Kompromiss zwischen natürlichem Instinkt und unnatürlicher Gegebenheit. Damals, vor der Konsultation des Großen Lexikons der Tiere, war der Kobel im gemeinsamen Sprachgebrauch noch kein Kobel, sondern etwas Unbenanntes, später Wohnmugel, Hörnchenhaus, Brutkugel, etwas jedenfalls Unvergleichliches.

    Vielleicht war dies der Anfang, denkt Ender Ender zu, im Spiegel. Oder erst zwei Eichhorngenerationen darauf: Ender sah das damals gerade jetzige Eichhörnchen auf das Blechsims springen und dort eine Zeitlang rasten, sodass sein Schweifbusch über die Oberkante des Fensters hing. Dann floh es: dachwärts, über die Fassade.

    Ender beugt den Rücken und wirft sich nochmals kaltes Wasser an den Kopf. Er richtete den Oberkörper auf und betrachtete sich im Spiegel: ein blonder Wust von Haaren um ein schmales Gesicht, halbwegs blaue Augen („Babykateraugen" laut Birgitt). Er musterte den Rest: schlanke Burschenhaftigkeit, ein Anflug von Athletik, ein Körper mit noch etwas mehr Zukunft als Vergangenheit. Kein Fett. Die Haut vielleicht ein bisschen ledriger und fahler als bei einem wirklich jungen Mann, die Härchen borstiger als jugendlicher Flaum, die Kanten schärfer, die Poren tiefer. Mit einem Knaben in der Fußballphase würde Ender noch mithalten, mit einem Mädchen noch in die Diskothek gehen können, ohne lächerlich zu wirken. Er würde sich nicht väterlich gebärden müssen, um einem Bierbauch Würde zu verleihen. Noch nicht. Dann. Trotz. Trotz des Geburtsdatums, eines kleinen statistischen Handicaps, das nichts besagen musste, wie Birgitt und Ender sich und einander sagten.

    Ender gefiel sich damals. Er hat den Gefallen an sich selbst verloren, ihn mit Birgitt eingebüßt, die seinem Gegenstück im anderen Geschlecht am nächsten kam, jener Hälfte, auf die er sich ein Liebesleben lang zuhalbiert hatte.

    Er gefiel sich damals. Trotz der bevorstehenden Lächerlichkeiten hinter dem Mikrophon. Trotz der bevorstehenden Lächerlichkeiten an Professor Demeters Privatklinik. Trotz der bevorstehenden Lächerlichkeiten des Alterns, wenn man Anfänge sucht, weil man am Ende ist, und nicht umgekehrt, wie in der Jugend.

    Ender füllt seine Thermosflasche mit dem im Prospekt angepriesenen „reinen Gebirgswasser" und begibt sich Zeltdorfwärts. Der Dschungel drängt sich an das Camp, umgreift es, presst es an sich. Dunkles Baumgedränge, dichtes Buschwerk, einander wie in tierischem Paarungsakt umschlingende Gewächse. Vogelschreie, Krötengurren, Insektensirren, fauligfeuchter Brunstgeruch: es ist, als wolle die Natur mit ihrer Fruchtbarkeit prahlen, drohen und einschüchtern.

    Damals – an jenem Anfang – ging Ender ins Schlafzimmer, um sich anzukleiden. Im Weckerradio erwähnte der Kollege vom Popsender die Zeit und das Programm des Kulturkanals: Unser Vormittagskonzert mit Gabriel Ender. Drei Stunden Zeit bis dann.

    Nachdem er sich vom Schlafen im Zelt überzeugt und das Päckchen Milumil an sich genommen hat, zündet Ender vor seinem Zelt den Gaskocher an, um das reine Gebirgswasser zu reinigen.

    Über der Gasse lag noch ein wenig Nacht, im Grau des Morgens verblassend, als Ender sich in jenen Wagen zwängte, der jetzt neben dem Tunnelzelt geparkt ist, eine Erinnerung an die Erinnerung. Im Fahren kramte er die Kassette mit Haydns Sonnenaufgang aus dem Handschuhfach. Melancholisches Brummen des Cellos, das Echo der Bratsche, ein Klagen der beiden Geigen, das nach fragendem Schweben zwischen Trauer und Hoffnung in jubelnde Antwort umschlägt. Ein halbes Quartett lang unterwegs, eine von Gabriel Enders sendewürdigen Anekdoten im Sinn: dass der Vater der Klassik kinderlos geblieben sei. Dass ihn seine Gattin nicht verstanden und seine Partituren zum Lockenwickeln verwendet habe. Dass da aber jene Sängerin nach Esterháza gekommen sei, die neun Monate darauf einem Sohn das Leben geschenkt habe, dessen Vater eventuell doch der Vater der Klassik gewesen sein könnte. (Und wie hieß sie gleich? Pizzelli? Pulzani? Polzelli? Vor der Sendung nachschlagen!) Ender parkte den nunmehr neben seinem Silbertunnel stehenden Wagen vor dem Barockschlösschen Professor Demeters und begann, sich den Möglichkeiten hinzugeben, die uns die Medizin heute bietet. Im Foyer empfing ihn Schwester Hildegund und fragte ihn nach seinem Namen. Professor Demeter habe eine Operation, aber Doktor Dimi erwarte Ender bereits. Urologe Doktor Dimi – ein kleiner, dunkelhaariger Mann mit bekümmertem Jünglingsgesicht – hatte die muttersprachliche Endung seines Vaternamens Dimitrijevic geopfert, weil „die Patienten nicht gerne zu einem Ausländer gehen. Sein slawischer Akzent war ihm geblieben. Er gestikulierte Ender über die mit rotem Teppich belegte Treppe hinauf in das erste Geschoss. Vor der weißen Tür mit der Milchglasscheibe drückte er ihm einen Plastikbecher in die Hand: „Bitte da hinein, Herr Ender, und drehte das Schild herum, das an der Schnalle hing: BITTE NICHT STÖREN.

    Hinter der Tür zunächst ein Klosett, Duftente und Raumspraydose auf dem Wasserbehälter, dann ein helles Zimmerchen von strahlender Sterilität, die Fenster mit dichtgewobenen Gardinen verhangen. Ein Waschbecken, darüber ein Regal voller Desinfektionsfläschchen, ein Bett mit weißem Gummilaken, ein Videorecorder mit Vorhängeschloss: Wenn Sie das Video zu sehen wünschen, benützen Sie den Schlüssel und drücken Sie dann den grünen Knopf. Zeitschriften auf einem Glastischchen: MONDO EROTICO, IL SESSO, LA VIE SEXUELLE; pralles Gliedergerangel auf buntem Glanzpapier.

    „Da hinein." Doktor Dimi wies auf Enders Plastikbecher und den Schlüssel, der im Schloss steckte. „Und bitte die Handschuhe verwenden, damit

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