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Ocean Spray
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eBook454 Seiten6 Stunden

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Über dieses E-Book

Seit dem Tod seiner geliebten Schwester Hannah treibt Daniel Kornbrenner ziellos durch die Blase seines Hamburger Szene-Lebens. Als die Kinderhilfsorganisation Small People ihm den Besuch seines afrikanischen Patenkindes Nayla ankündigt, hofft Daniel auf einen Ausweg aus seiner Sinnsucher-Spirale.
Doch Nayla trägt nicht nur die Dämonen ihrer Vergangenheit mit sich, sondern hat auch eine tödliche Fracht im Gepäck. Denn der Ex-Warlord Ismael Thimbo missbraucht Small People seit Jahren als perfekte Tarnung für seine Drogengeschäfte. Und jetzt ist eine wichtige Kokain-Lieferung ungeplant im Koffer von Nayla unterwegs nach Hamburg. Als gleichzeitig mit Ella Hendriksen die einzige Zeugin eines von Thimbo befohlenen Mordes entkommt, entfesselt der Drogenbaron eine höllische Treibjagd auf die drei Unschuldigen. Ella, Nayla und Daniel geraten immer tiefer in einen tödlichen Sog aus Verrat und Gewalt. Erbarmungslos werden sie von Thimbos Syndikat in die Enge getrieben und müssen schnell lernen, dass sie nur gemeinsam eine Chance haben, diesen mörderischen Sommer zu überstehen. Doch die Schlinge ihres übermächtigen Feindes zieht sich unbarmherzig zusammen, und nur Daniels Jugendfreund Fritjof scheint ihnen in dieser aussichtslosen Lage noch helfen zu können. Als Fritjof von seiner eigenen dunklen Vergangenheit eingeholt wird und Thimbos kaltblütiger Profikiller Pavel Karenin sich in Ella verliebt, eskaliert die Situation in einem blutigen Showdown …
SpracheDeutsch
HerausgeberOCM
Erscheinungsdatum24. Sept. 2021
ISBN9783942672917
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    Buchvorschau

    Ocean Spray - Gerald Falkenburg

    DIE HÜTTE

    Wo bin ich nur, dachte Daniel Kornbrenner, als das Zwielicht des Julimorgens mit grauen Fingern über den morschen Boden der Fischerhütte nach ihm tastete und ihn unerbittlich wachrüttelte. Der kurze und unruhige Schlaf in der schwülen Nachtwärme hing noch klebrig und schwer an seinem Körper. Ich hätte nicht schlafen dürfen, durchfuhr es ihn. Ich hatte die Wache. Doch er fühlte sich benommen und zu erschöpft, um sich selbst große Vorwürfe zu machen. Verschwommene Muster zogen langsam kreisend hinter seinen Augenlidern vorbei. Halbschlaferinnerungen an einen Urlaub in seiner Kindheit.

    Ein Sommer in Spanien. Er sah seine Mutter, wie sie in einem rot geblümten Kleid entspannt im Schatten einer Pinie stand. Wie sie eine ihrer filterlosen Zigaretten rauchte, während sie seinen Vater mit einem spöttischen Lächeln aus katzenartig zusammengekniffenen Augen beobachtete. Er sah seinen Vater, wie er sich bei einer Autopanne schwitzend und in verbissener Hilflosigkeit unter der glühenden Hitzeglocke der Motorhaube vergeblich abmühte. Er sah seine Schwester Hannah, wie sie ihn vor Erleichterung weinend anschrie, nachdem sie ihn, den kleinen und sorglosen Bruder, soeben vor dem Ertrinken in der tückischen Strömung des Mittelmeeres gerettet hatte. Daniel schluckte schmerzhaft, und sein Hals fühlte sich wie Schmirgelpapier an. Mit geschlossenen Augen lauschte er aufmerksam in die Dämmerung hinaus. Er konnte nichts hören. Keine Schritte, die sich der Hütte vorsichtig näherten. Kein verdächtiges Knacken von Ästen aus dem nahen Wald. Daniel stützte sich auf die Ellbogen und schob seinen Rücken langsam über die rissige Bretterwand nach oben. Einen Moment lang saß er dort und beobachtete den alten Staub, der sich langsam im zunehmenden Tageslicht erhob und gemächliche Pirouetten zu drehen begann. Vor der Tür war alles still. Nicht einmal der Flügelschlag eines aufsteigenden Reihers, die so zahlreich im Schilf rund um den Bootssteg nisteten, war zu hören. Als hätte man diesen erbärmlich verfallenen Bretterverschlag herausgesaugt aus der wirklichen Welt, dachte Daniel. Herausgesaugt und in ein entlegenes Universum hineingespuckt. Ein Universum der Bösartigkeit. Draußen schien die Welt den Atem anzuhalten. Doch er wusste ganz genau, wer dort atmete, wer die Hütte beobachtete, sich die Nachtfeuchte von den Ärmeln strich und wartete. Daniels Finger schlossen sich reflexartig um die teilnahmslose Kühle des Revolvers. Dreimal hatte er ihn gestern abgefeuert. Er, der niemals zuvor eine Waffe in der Hand gehalten hatte. Und er hatte die Meute der Jäger um einen Mann dezimiert. Zumindest vermutete er es, da er den Mann am Bein erwischt hatte. Daniel lauschte in die Hütte hinein und glaubte, das Atmen der beiden Frauen zu hören. Sie vertrauen mir, dachte er. Warum? Er wusste es nicht. Er kannte die seltsamen, aberwitzigen Umstände ihrer Notgemeinschaft. Die meisten jedenfalls. Nur wenige Teile in diesem blutigen Puzzlespiel fehlten noch. Aber sie waren nicht mehr wichtig. Er konnte das gesamte Bild jetzt dennoch klar erkennen. Daniel schmeckte eine schale Bitterkeit. Wann habe ich mir eigentlich das letzte Mal die Zähne geputzt, dachte er plötzlich und musste fast lachen über diesen idiotisch banalen Gedanken. Seine Hand kramte dennoch in der Hosentasche nach einem Kaugummi. Meistens hatte er welche bei sich. Doch da war nichts zu finden. Mühsam fingerte er ein zerknülltes Stück Papier aus der Tasche. Er strich es glatt und betrachtete es im langsam hereinkriechenden Tageslicht. Ein Geldschein. Zwanzig Euro. Ausgerechnet, dachte er kopfschüttelnd. Was für eine Ironie. Aber vielleicht ein passender Schlusspunkt, nachdem alles damit irgendwie angefangen hat. Dann erhob er sich und ging zur hinteren Kammer, um die beiden Frauen zu wecken. Seine Schritte waren noch tastend und steif. Daniels linker Fuß blieb an der Kante einer der brüchig aufgeplatzten Planken hängen, die sich wie das Gerippe eines schiffbrüchigen Bootsrumpfes an allen Ecken der Hütte emporreckten. Er stolperte mit rudernden Armen vorwärts und wurde dabei für einen kurzen Augenblick am Fenster sichtbar. Bevor er noch den Knall und das Splittern der Scheibe in seinem Rücken hörte, traf der Schlag seine linke Schulter, als würde ein Meißel mit einem tonnenschweren Hammer hindurch getrieben. Die Wucht des Geschosses riss ihn zu Boden. Mühsam stemmte er sich auf die Knie hoch, den Mund im ungläubigen Schock aufgerissen, unfähig, seinen Schmerz herauszuschreien. Das Adrenalin pumpte wie eine rasende Flutwelle durch seinen Körper. Sein Herz hämmerte wie verrückt. Im Leuchten der ersten Sonnenstrahlen, die durch die Fenster über seinem Kopf sickerten, blickte er beinahe erstaunt auf die seltsame rote Blume hinab, die an der Schulter auf seinem Hemd ihre Blätter entrollte. Ein glühendes Netz aus pulsierendem Schmerz zog sich um seinen Kopf zusammen und machte ihn blind. Jemand schrie ganz in seiner Nähe. Eine Frauenstimme … Von draußen glaubte Daniel plötzlich, Musik zu hören. Ein stampfendes, schepperndes Triumphgelächter. Die Beute war erlegt. Die Jagd war vorbei. Dann verschwamm seine Welt.

    EINS

    Daniel

    Das Handy vibrierte fordernd in seiner Hosentasche. Daniel war gerade damit beschäftigt, die letzten verklebten Reste seines indischen Montags-Currys aus der Aluminiumschale des Lieferdienstes auf seinen Teller zu befördern. Er wischte sich die Hände an der Jeans ab, fingerte das Telefon aus der engen Tasche und schaute auf das Display. Eine Festnetznummer aus Berlin, ihm unbekannt. Kurz überlegte er, das Gespräch wegzudrücken, damit sein verspätetes Mittagessen nicht kalt würde. Aber es konnte ja doch vielleicht wichtig sein, auch wenn ihm beim besten Willen kein möglicher Zusammenhang einfallen wollte. Also entschied er sich für ein späteres Aufwärmen in der Mikrowelle. „Ja?", meldete er sich knapp. Eine Frauenstimme antwortete ihm. „Herr Kornbrenner? Hallo, hier spricht Judith Richter von Small People. Haben Sie einen Moment Zeit? Ihre Stimme klang warm und fröhlich, als würde die erwartungsvolle Lebendigkeit des Spätfrühlingstages direkt durch sie hindurchfließen. Für einen Moment fühlte Daniel sich an die Stimme seiner Schwester Hannah erinnert, aber er schob den Gedanken schnell wieder zur Seite und schenkte Judith Richter seine volle Aufmerksamkeit. War dieses leichte Vibrieren in ihrer Stimme vielleicht auch Nervosität? Er wurde neugierig. „Ja klar doch, kein Problem, sagte er und startete dabei mit der anderen Hand den aussichtslosen Versuch, das soeben auf dem Teller gelandete und in aller Breite verteilte Curry mit der zerbeulten Aluschale wieder abzudecken, um es warm zu halten. „Worum geht es denn?, fragte er. „Es ist wegen Ihres Patenkindes, das können Sie sich ja vermutlich schon denken. Daniel stutzte. Damit hatte er nicht gerechnet, eher mit der nachdrücklichen Bitte um eine zusätzliche Spende für eines der Entwicklungsprojekte von Small People. Seit er sich vor gut einem Jahr entschlossen hatte, die Patenschaft für ein Kind aus Afrika zu übernehmen, bekam er häufiger Post von der Organisation, in der sie für eine zusätzliche Unterstützung ihrer Projekte warb. Zwei- oder dreimal hatte er auch eine kleinere Summe gespendet, aber das war es dann auch für ihn gewesen. Schließlich leistete er ja regelmäßig seinen Beitrag. Daniel konnte sich noch sehr gut an den Tag erinnern, als er den Entschluss gefasst hatte, eine Patenschaft zu übernehmen. Er war einmal mehr alleine in die Mittagspause gegangen, grübelte über einer komplizierten Programmierung für eine Figur des neuen Online-Spiels, das sie gerade bei seinem Arbeitgeber MobyleStar entwarfen. Dass das Spiel die neue Cashcow des Unternehmens werden würde, da waren sich so ziemlich alle einig, vor allem Mads, der erst seit wenigen Monaten ihr Geschäftsführer war, aber mit jedem Tag gieriger auf den ganz großen Durchbruch zu werden schien, ihn in jedem internen Meeting zu beschwören und alle Mitarbeiter mit seiner rastlosen Energie anzustecken versuchte. Ich spüre es genau, hatte er immer wieder gesagt, in seiner typischen Haltung, die Arme schulterbreit auf den langen Holztisch gestützt, so dass seine vom täglichen Workout sorgfältig modellierten Muskeln für alle sichtbar unter seinen maßgeschneiderten meist schwarzen Designer-Hemden hervortraten. Sie steckt in euch, hämmerte er ihnen immer wieder wie ein yogisches Mantra ein, tief in euren verdammten, wunderschönen Herzen steckt sie, die eine, die ganz große Idee. Sechs Monate nach seinem Antritt hatte Mads vor der versammelten Mannschaft mit einem Magneten einen Scheck an das Whiteboard im großen Konferenzraum geheftet, mit aufforderndem Blick sein perfektes Zahnweiß-Reklamelächeln in die Runde geschossen und mit leiser Stimme gesagt: „20.000 Euro für eine Idee von euch, Leute, die ­RICHTIG fliegt. Eine echte Rakete, versteht ihr, was ich meine? Diese Ankündigung hatte die gesamte Firma unter Strom gesetzt, fast täglich marschierte einer der Programmierer und Webdesigner in Mads’ voll verglastes Penthouse-Büro und stellte eine neue Idee vor. Aber nichts schien zu treffen. Bis Mads eines Tages das Meeting betrat, an seiner Seite Debbie, eine zierliche Australierin mit grünen Augen und hohen Wangenknochen, die für das Figurendesign zuständig war. Dates mit Debbie waren aufgrund ihrer exotischen Schönheit ein begehrtes Gut, denn Debbie schlug praktisch nie eine Einladung zum Dinner oder After-Work Drink aus. Doch Daniel wusste um die Sinnlosigkeit dieser Verabredungen aus Perspektive seiner notgeilen Kollegen, seit er Debbie einmal in einer Bar an der Reeperbahn in inniger Umarmung mit einer Doppelgängerin von Demi Moore gesehen hatte. Mads legte seinen muskulösen Arm um die zierliche Designerin, drückte fast zärtlich ihre Schulter, nahm den Scheck vom Board, reichte ihn der leicht verlegen lächelnden Debbie und verkündete: „Also Leute, Debbie hat’s gemacht. Und jetzt spitzt mal bitteschön die Ohren. Eine gespannte und aufmerksame Ruhe legte sich über den Raum. „Also, eigentlich ganz easy. Und ich frage mich nur, sagte er mit einem süffisanten Grinsen, „warum noch keiner von den anwesenden Jungs darauf gekommen ist. Darauf gekommen, jaja, hehehe … Naja, egal. Passt mal auf: Fantasy ist immer IN. Porno ist MEGA-IN. Virtuelle Realität wird DAS DING. Das führen wir zu einer neuen Vision zusammen. Mads machte eine bedeutungsvolle Pause, und sein Lächeln unter den wasserblau glitzernden Augen wurde noch breiter. „Unser nächstes Top-Prio-Projekt, der kommende absolute Download-Chartbreaker heißt … ELFENLUST. Erobere exotische Länder, massakriere deine Gegner mit geilen Waffen und erlebe gaaanz entspannt erotische Abenteuer mit den Elfen oder Trollen deiner Wahl und Konfiguration! Whatever! You! Like! Er zwinkerte vielsagend in die Runde und grinste verschwörerisch. „Und alles, jetzt haltet euch mal ganz kurz fest: Hundertpro gefühlsecht! Durch ein mobiles Sensor-Gear für Virtual Reality Experience. Wofür wir natürlich auch schon einen strategischen Partner im Kopf haben… Das geht richtig, richtig steil, Leute. Sowas von! Rakete, ihr werdet es sehen! Bäm! Mads hob die Arme wie ein siegreicher Boxer nach einem spektakulären Knockout, lächelte überlegen und nickte nach allen Seiten, um den donnernden Applaus seiner Bewunderer entgegenzunehmen. Ach du Scheiße, dachte Daniel, hatte aber mechanisch mit geklatscht und dabei Debbie kurz angeschaut, die seinen Blick auffing, mit den Schultern zuckte und ihn schief anlächelte. Drei Monate später lief das Projekt auf Hochtouren, und als Daniel nun durch diesen ungewöhnlich warmen Frühlingstag spazierte und in Gedanken noch halb bei der vertrackten Code-Problematik für eine realitätsnahe Darstellung wogender Elfenbrüste unterschiedlicher Formen und Farben war, fiel ihm auf der anderen Straßenseite ein Plakat ins Auge, das fast von einem LKW verdeckt wurde. Auf dem Plakat war ein dunkelhäutiges Kind abgebildet, ein Mädchen mit kurzgeschnittenen und widerborstig abstehenden Locken in einem bunt gemusterten Kleid, es saß an einem Pult, hatte ein Schreibheft vor sich, einen Stift nachdenklich in der Hand, so dass dieser mit einem Ende ihren Mundwinkel berührte, und schaute mit neugierigen weit offenen Augen an der Kamera vorbei auf etwas oder jemanden dahinter. „20 Euro im Monat schaffen ihr eine Perspektive", stand als Slogan unter dem Bild. Daniel blieb stehen und schaute das Mädchen an. In ihren Augen lag etwas Erwartungsvolles, Hoffnung vielleicht, und gleichzeitig meinte er auch eine Spur von Traurigkeit darin zu erkennen. Klar doch, soll ich wohl auch so sehen, dachte er und ging weiter, fand über Umwege am Klinikzentrum vorbei zu seiner angestammten Dönerbude an der Hoheluftchaussee und füllte dort gedankenverloren seinen Magen für den Nachmittag. Als er später an diesem Abend in seine spärlich möblierte Altbauwohnung im Schanzenviertel zurückkehrte, machte er sich wie üblich ein Bier auf, gähnte herzhaft, nahm einen ersten tiefen Schluck und fühlte fast augenblicklich die einsetzende Entspannung. Er schaltete seinen Laptop noch einmal an und suchte nach Small People, denn den Namen der Organisation auf dem Plakat hatte er behalten, obwohl er zuvor noch nie von ihr gehört hatte. Als er die Website von Small People öffnete, schaute er wieder dem Mädchen von dem Plakat in die Augen. Diesmal blickte sie direkt in die Kamera und lächelte ihn an. Den restlichen Abend sammelte Daniel Informationen von der Website, recherchierte nach Presseartikeln über Small People und nach Kommentaren von Spendern. Mehrere tausend Paten hatte die Organisation allein in Deutschland, und nirgendwo waren bislang kritische Kommentare aufgetaucht. Small People versprach seinen Klienten eine individuelle und nachhaltige (was auch immer das heißen mochte) Förderung der Patenkinder, bei denen das Geld der Spender praktisch ohne Abzüge für Verwaltungsaufwand der Organisation dort vor Ort ankam, wo es benötigt wurde. Das klang doch eigentlich ganz gut, fand Daniel. Darüber hinaus sicherte Small People allen Mitgliedern den intensiven persönlichen Kontakt mit ihren Patenkindern zu. Daniel überlegte kurz, aber das Thema hatte ihn irgendwie gefangen, und sein Entschluss war bereits gefasst. Am Ende, dachte er, zählt doch eigentlich nur das Ergebnis. Und irgendwie war er auch auf diese versprochene Form des persönlichen Kontakts gespannt. Die Aussicht erfüllte ihn mit einer fast schon irritierenden, lebendigen Vorfreude. Er füllte kurzerhand den Anmeldeantrag aus, schickte ihn ab und erhielt bereits zwei Wochen später ein Willkommensschreiben, einen Bankvordruck zur Spendenüberweisung und die Information, dass sein Patenkind ein Mädchen sei und aus Sierra Leone stammte, aus einer Provinz nördlich der Hauptstadt Freetown. Von Sierra Leone wusste Daniel nichts, schwach erinnerte er sich, dass dort wohl einmal Bürgerkrieg geherrscht hatte. Das war eine Zeit lang in den Nachrichten gewesen, aber es konnte auch in einem anderen afrikanischen Land gewesen sein, und ob der Krieg zu Ende war oder der Bevölkerung nur eine Atempause gönnte, wusste er nicht zu beantworten. Sie war 14 Jahre alt, und ihr Name war Nayla. Nach wenigen Wochen hatte er auch tatsächlich einen ersten Brief von Nayla erhalten. Sie schrieb ihm auf Englisch, und ihre Schrift war überraschend schön und kraftvoll fließend. Mit höflichen Worten, die ihm noch recht zurückhaltend klangen, aber sie kannte ihn ja nun einmal auch nicht, schrieb sie ihm, wie sehr sie sich darüber freue, dass er nun ihr Pate sei. Wie sich die ganze Familie ihrer Tante, bei der sie wohnte, mit ihr gefreut habe und auch ihre Freundinnen in der christlichen Schule des Nachbarorts, die sie besuchte. Ein Bild lag ebenfalls in dem Briefumschlag. Es zeigte ein schlankes, wie Daniel fand, sehr hübsches Mädchen, das auf einem runden Platz aus rötlichem Lehm vor einer strohgedeckten Holzhütte stand. Im Hintergrund waren weitere Hütten zu sehen, dazwischen Palmen und hohes, leuchtend grünes Gras. Das Mädchen trug ein blaues, weiß gesäumtes Kleid und geflochtene Sandalen. Ihre Haare waren kurz geschnitten, nur bei genauerem Hinsehen konnte man die Ansätze von Locken erkennen. Sie wirkte groß gewachsen, mit langen Gliedmaßen, die ihr das schlaksige Aussehen eines noch unfertig proportionierten Teenagers gaben. Ihre bloßen Arme schienen Daniel sehr sehnig und kräftig für ein Mädchen ihres Alters zu sein. Vermutlich musste sie auch bei der Feldarbeit hart mit anpacken. Schon sah er Nayla vor sich, wie sie mühsam mit einem schweren Pflug hinter einem ausgemergelten Ochsengespann tiefe Furchen in den vertrockneten Boden zog. Ein Klischee, dachte Daniel kopfschüttelnd. Aber war es weit von der Realität entfernt? Er hatte keine Ahnung, wie er sich eingestand. Jedenfalls verbrachte sie keine entspannten Nachmittage mit Shopping-Trips zwischen Online-Gaming und Social Media-Profilpflege. Nayla lächelte nicht auf dem Bild, sondern schaute mit ruhigem und fast feierlichem Blick in die Kamera, und obwohl sie sich seitlich zum Objektiv gedreht hatte, konnte Daniel deutlich die in unregelmäßigen Wulsten verheilten Ausläufer einer großen Narbe auf ihrer rechten Wange erkennen. Er hatte ihr auf einem eigens dafür beigelegten Vordruck von Small People geantwortet. War aus Unsicherheit den Empfehlungen des Begleitschreibens gefolgt und hatte ein paar ziemlich belanglose Dinge über sich erzählt. Dass er fünfunddreißig Jahre alt sei, Spiele für Computer entwarf, in der großen Stadt Hamburg wohne und allein lebe.

    Daran dachte er nun ein gutes Jahr später, während am anderen Ende der Leitung Judith Richter auf seine Antwort wartete. „Nein, damit habe ich jetzt ehrlicherweise so gar nicht gerechnet, sagte er, „worum geht es denn? Ist mit Nayla etwas passiert? „Nein, nein, keine Sorge", wehrte Judith Richter mit sanfter und beruhigend wirkender Stimme ab. „Wissen Sie, es geht eigentlich um etwas ganz Besonderes. Ähm, also, das hoffen wir von Small People zumindest. Sehen Sie", fuhr sie fort, „jedes Jahr wählen wir unter unseren Patenschaften einige Kinder aus, die besonders fleißig und motiviert in der Schule sind und sich bei den örtlichen Projekten von Small People vorbildlich engagieren. Kinder, die außerdem einen regelmäßigen Briefkontakt zu ihren Paten aufgebaut haben und von deren Paten wir der Ansicht sind, dass sie verantwortungsvoll mit der Aufgabe umgehen können. „Was meinen Sie denn für eine Aufgabe?, fragte Daniel, und plötzlich war er hellwach. „Nayla wird von uns die einmalige Möglichkeit bekommen, ihren Paten für die Dauer von maximal zwei Wochen zu besuchen. Wenn Sie bereit sind, dafür die Unterbringung zu übernehmen und sich während der ganzen Zeit um Ihr Patenkind zu kümmern. Die Reisekosten trägt unsere Organisation. Daniel schwieg überrascht. „Ja, es ist nur …, fuhr Judith Richter etwas zögerlich fort, „Also, normalerweise hat das Ganze organisatorisch einen viel längeren Vorlauf, aber in diesem Fall würde es ausnahmsweise recht schnell gehen, weil wir uns bei diesen Besuchen immer in erster Linie an den Bedürfnissen der Patenkinder, also Schulzeiten zum Beispiel, orientieren. „Und was heißt das dann genau? „Nayla würde in vier Wochen nach Hamburg kommen. Vier Wochen. Daniel musste kurz schlucken. Oh mein Gott, dachte er. Das war verdammt kurzfristig. Wie sollte das funktionieren? Was muss ich da noch alles vorbereiten …? Eine Springflut aus Fragen und Bildern rauschte durch seinen Kopf und quirlte alle Gedanken ungebremst durcheinander, bis ein unentwirrbar scheinendes Knäuel zurückblieb. Der sonst so verlässlich blitzschnelle Flipperautomat in seinem Kopf gab nach kurzem Zappeln der Hebel auf der atemlosen Jagd nach dieser Armada aus Spielkugeln auf und zeigte nur noch ein leuchtend rotes „Tilt-Zeichen. Daniel räusperte sich. „Hören Sie mal, sagte er, „also, das ist ja eine wirklich schöne Sache, eigentlich, aber das kommt jetzt echt ziemlich überraschend, wissen Sie, das muss ich mir tatsächlich nochmal einen Tag überlegen. Geht das in Ordnung? „Kein Problem, sagte Judith Richter und klang deutlich erleichtert, „uns ist auch bewusst, dass das sehr plötzlich kommt. Denken Sie, dass Sie mir morgen Bescheid geben können? „Ja, das mache ich", versicherte Daniel, bevor er sich von ihr verabschiedete und auflegte. Vier Wochen, dachte er, das ist verdammt noch mal knapp. Er machte sich ein Bier auf. Ob er so kurzfristig überhaupt Urlaub bekommen würde, jetzt, wo das neu entwickelte „Elfenlust" so kurz vor dem weltweiten Release stand? Wie konnte das passen? Klar, die Idee, mit seinem Patenkind Kontakt zu haben, hatte er immer schön gefunden, er hatte sich gut dabei gefühlt, gelegentlich Lebenszeichen von Nayla zu erhalten, und jetzt … Er hätte nie damit gerechnet, in diese Situation zu kommen. Ja, eigentlich war er immer ein wenig skeptisch gewesen, ob diese ausgewählten Besuche, von denen er auf der Homepage von Small People gelesen hatte, wirklich stattfanden. Und überhaupt, er schaute sich in seiner Wohnung um, wo sollte er sie denn unterbringen? Ok, die Schlafcouch in seinem kleinen Arbeitszimmer würde wohl gehen. Da hätte sie dann ein kleines Reich für sich … Aber warum hatten sie ausgerechnet ihn ausgewählt? Es war ihm ein Rätsel. Er war doch gerade mal ein gutes Jahr dabei und hatte keinen besonderen Mitgliederstatus. Zahlte nur den Grundbetrag an Spenden, kaum mehr. War alleinstehend, ja, das war das Seltsamste daran, das wussten sie doch bei Small People, er hatte es im Aufnahmeantrag angeben müssen, und eigentlich waren doch Paare oder Familien viel besser oder sogar ausschließlich für so eine Aufgabe geeignet, oder nicht? Gedankenverloren blätterte er in der Mappe, die er sich für seine Patenschaft angelegt hatte. Das Bild, das er von Nayla bekommen hatte, rutschte heraus. Es lag vor ihm, schaute ihn an. Er wollte es wieder zurückschieben, zögerte. Dachte an Hannah, wie weit er fort gewesen war, als er bei ihr hätte sein sollen. An ihrer Seite im Krankenhausbett. Er legte sich ins Bett, lag wach und schaute dem Ventilator an der Decke zu, der träge die aufgestaute Wärme des Tages im Kreis bewegte.

    Am nächsten Tag ging er direkt zu Mads ins Büro und bat um Urlaub. Irgendetwas Besonderes schien an diesem Morgen in seiner Stimme zu liegen, das Dringlichkeit signalisierte, keine Diskussionen dulden würde. Mads hob nur eine Augenbraue, sagte: „Sieh nur zu, dass Ole und Debbie deine Themen gut gewuppt kriegen in den zwei Wochen. Er schaute Daniel an, während er seine Unterschrift unter den Urlaubsantrag setzte. „Mann, dann erhol dich mal gut, sagte er lächelnd, „tank mal richtig auf. Kannst du gebrauchen , ich sehe das." Danach rief Daniel sofort bei Small People an. Er fühlte sich fantastisch durch die plötzliche, unerwartete Klarheit. Seine Gedanken glitten leicht und beschwingt auf einem funkelnden Strom aus zuversichtlicher Energie dahin. Diesmal war eine andere Mitarbeiterin am Apparat, aber sie war mit seinem Fall bestens vertraut, und beglückwünschte ihn mit fröhlicher und ermutigend klingender Stimme zu seiner Entscheidung. „Das ist ja toll, Herr Kornbrenner, da wird sich Ihr Patenkind aber bestimmt sehr freuen. Wir melden uns dann bei Ihnen spätestens, wenn alle Reisedetails feststehen."

    Nayla

    Die Sonne stand schon tief, und der hart gebackene, rote Sandweg fühlte sich angenehm warm an unter ihren Füßen, als Nayla am späten Nachmittag den Rand des Dorfes erreichte. Es war Sonntag, niemand arbeitete an diesem Tag auf den Feldern, und sie war wie immer in den letzten Monaten im Nachbardorf gewesen, um dort mit den Jungen Fußball zu spielen. In der Schule hatte Schwester Scofield oft und mit Begeisterung von den vielfältigen Wundern des Herrn gesprochen, einer Begeisterung, bei der ihre sonst so zaghafte Stimme den weiß­getünchten Klassenraum in jeder Ecke bis zu den wurmstichigen Decken­balken zu füllen schien und die ihr schmales, sommersprossiges Gesicht unter dem roten Haarschopf zum Glühen brachte. Dass ihre Schule nicht wie so viele andere im Land im großen Krieg zerstört worden war. Dass die schlimme Seuche der letzten Jahre endlich besiegt sei. Und dass die Fördervereinigung der Schule mit Hilfe von Small People wieder genügend Geld zur Verfügung gestellt hatte, um neue Lehrer einzustellen und Schulbücher zu kaufen. Das waren sicherlich Wunder, dachte Nayla, und all die anderen Dinge, über die sie in der Bibel in den endlos scheinenden Unterrichtsstunden bei Schwester Scofield lasen, waren es auch. Doch das größte Wunder war für Nayla vor drei Monaten geschehen, als sie wieder einmal sehnsüchtig den Dorfjungen beim Fußballspiel zusah. Die Nachmittage mit ihren Freundinnen und deren endlosem Geschnatter und Getratsche, das immer stärker so klingen wollte wie die Gespräche der erwachsenen Frauen auf dem Markt oder bei der Feldarbeit, langweilten sie schon lange. Was wussten sie schon von der Welt da draußen, dachte sie oft, und manchmal spürte sie dabei einen Stich im Magen und eine Faust, die sich mit unnachgiebigem Druck um ihr Herz schloss. Sie musste nur jeden Tag in den Spiegel schauen und wusste, wie die Welt war. Doch seit sie vor einem Jahr zusammen mit den anderen Dorfbewohnern auf dem riesigen Fernseher des Dorfältesten die Spiele des großen Afrika-Cups mit zunehmender Begeisterung verfolgt hatte, brannte die Leidenschaft für dieses Spiel im Verborgenen in ihr. Heimlich hatte sie sich aus alten Stofflappen einen Ball genäht und übte damit auf dem staubigen und heißen Schulhof, wenn die anderen Kinder bereits schwatzend und lachend nach Hause gelaufen waren. Es fiel ihr leicht, das nicht ganz runde und widerspenstige Knäuel am Fuß zu führen, in der Luft zu halten, auf dem Fuß zu balancieren und mit beinahe täglich zunehmender Kraft gezielt gegen die schlanken Stämme der Palmen zu schießen, die den Schulhof umgaben. Nun beobachtete sie das Spiel der Jungen, vollführte in ihrer Vorstellung Finten und Haken, brachte Mitspieler mit ihren Pässen in aussichtsreiche Positionen … Ein großer Junge pflügte plötzlich mit wedelnden Armen an ihr vorbei. Seine Schritte waren kraftvoll, und geschickt führte er den Ball so eng am Fuß, dass die rissige Lederkugel wie ein aufmerksamer Hund auf das kleinste Signal hin seinem unbedingten Willen zu folgen schien. Seine Gegenspieler hatte der Junge abgeschüttelt, und er kurvte nach innen auf das Tor zu. Als er noch fast zwanzig Meter vor dem Tor war, schien er plötzlich die Geduld oder die Nerven zu verlieren und zog mit dem rechten Bein ab. Dabei blieb er noch leicht an einer der vielen Unebenheiten des Platzes hängen und jagte den Ball weit über das Tor in den wolkenlosen Himmel. Sein fassungsloser und wütender Blick, den er der vergebenen Chance hinterherwarf, bevor er dann lautstark und wild gestikulierend begann, bei seinen Schuhen und in den Fehlern des Platzes die Schuldigen für seinen Fehlschuss zu suchen, ließen Nayla jede Zurückhaltung vergessen. „Du Elefantenfuß, du musst viel später schießen!, rief sie lachend, und dachte, ihre Stimme würde wie sonst auch einfach untergehen im Lärm der anderen, aber diesmal war es auf einmal ganz still. Der große Junge hob den Kopf, und Nayla erkannte auf einmal, dass es Kareem war, der Anführer der Dorfjungen, selbst ernannter König des Fußballplatzes. Er fixierte sie und ging auf sie zu, und seine Bewegungen hatten auf einmal nichts Ungelenkes mehr, sie bekamen etwas katzenhaft Lauerndes. Er blieb so dicht vor ihr stehen, dass er sie hätte berühren können, und schaute sie finster an. „Was war das, Mädchen? Nayla schluckte, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie wollte einfach nur davonlaufen, schnell wie der Wind. Doch etwas in ihr blieb fest verwurzelt stehen, und dieses Etwas sagte: „Du hättest warten sollen, dann hättest du auch getroffen. „Woher willst du das denn wissen? Du bist wohl schon eine ganz große Spielerin, wie?, sagte Kareem und grinste sie von oben herab mit zusammengekniffenen Augen an. Sie bemerkte, dass sich um seine Augen kleine Lachfältchen bildeten, und das gefiel ihr irgendwie. Ein paar der anderen Jungen, die neugierig herangekommen waren und einen Halbkreis um Kareem bildeten, lachten, und Kareems Grinsen wurde noch breiter. „Du willst uns jetzt bestimmt zeigen, wie es geht, Mädchen, oder? Wie man so richtig Fußball spielt? Und die hübsche Narbe, die hast du bestimmt auch vom Fußball, oder? Er warf den Kopf in den Nacken und lachte laut, und die anderen Jungen stimmten zögerlich ein. Nayla merkte, wie sie errötete, fühlte Wut in sich aufsteigen, sah die dumme und gefühllose Hochmütigkeit des Jungen, der sich bog vor Lachen, sie verspottete und sich dabei sehr männlich vorzukommen schien. „Genau, fauchte sie. Mit einer blitzschnellen Bewegung schnappte sie sich den Ball aus Kareems Händen, ließ ihn fallen und trieb ihn mit schnellen Schritten elegant auf das Tor zu. Der Torwart stand gelangweilt an den Pfosten gelehnt und beobachtete das Geschehen verständnislos. Was wollte dieses Mädchen da jetzt? Konnte das überhaupt ein Mädchen sein, so gut wie sie am Ball war? „Lass den Ball bloß nicht ins Tor, brüllte Kareem, und der Torwart bewegte sich zögerlich in die Mitte seines Tores. Als Nayla noch zehn Meter vom Tor entfernt war, blickte sie kurz hoch, täuschte einen Schuss nach links an, sah den Torwart dorthin zucken und knallte die Kugel trocken ins obere rechte Eck. Dann ging sie erhobenen Hauptes zu den Jungen zurück, die sie mit einer Mischung aus Bewunderung und Erschrockenheit anstarrten, und hoffte nur, dass niemand bemerkte, wie sehr ihre Beine zitterten. Kareem starrte sie nur an und sagte kein Wort. „So meinte ich das, sagte sie und ging an Kareem vorbei. Als sie den Spielfeldrand erreichte, hörte sie plötzlich seine Stimme hinter sich, und ihr war fast das Herz stehen geblieben vor Freude und Stolz. „Du kannst bei uns mitspielen, wenn du willst, Mädchen. Daran dachte sie nun, als sie die ersten Straßen des Dorfes durchquerte, und an Kareem, der sie seit diesem Tag mit freundlichem Respekt behandelt hatte und an die Blicke seiner dunklen Augen, in die sich in den letzten Wochen noch etwas anderes geschlichen hatte, das bei ihr ein komisches Kribbeln im Bauch hervorrief, wenn sie daran dachte. Das aufregend war, wenn sie sich Kareems Gesicht dazu vorstellte, bis sich sein Gesicht verwandelte und ein anderes wurde, das sie nicht sehen wollte, das sich aus der Dunkelheit herausschälte und sie mit gelb funkelnden Augen wie eine Hyäne höhnisch angrinste. Darum schob sie den Gedanken an Kareem nun hastig zur Seite. Zudem näherte sie sich nun dem großen Haus des Dorfältesten Umari mit seiner ausladenden Veranda und den in leuchtenden Farben bezogenen Lehnstühlen, von denen aus Umari den Marktplatz des Dorfes überblicken konnte. Obwohl der kürzeste Weg zum Haus ihres Onkels direkt an Umaris Haus vorbeiführte, schwenkte sie vorher in eine Seitengasse ein und beschleunigte ihren Schritt und ging an den mit Stroh und Wellblech gedeckten Hütten vorbei, vor denen lachend kleine Kinder spielten. Sie hatte in der Nähe von Umaris Haus das Gefühl, beobachtet zu werden, seit der Dorfälteste vor einigen Wochen überraschend bei ihrem Onkel Samuel vorstellig geworden war. Mehr als zwei Stunden hatten die beiden geredet. Es war am Ende laut geworden zwischen den Männern, doch waren ihre Stimmen unverständlich gedämpft durch die Wände, und Nayla konnte nichts verstehen, obwohl sie ihr Ohr ganz eng an die Wand der Hütte gepresst hatte. Schließlich war Umari sichtlich verärgert gegangen, sein stolzer und sorgsam gepflegter langer Kinnbart unter der fleischigen, gewölbten Unterlippe hatte leicht gezittert, und auf der Stufe hatte er sich noch einmal zum Onkel umgedreht und mit väterlicher, aber hörbar zorniger Stimme gesagt: „Denk an meine Worte, Samuel, und wirf nichts unbedacht weg. Ein Mädchen mit dieser Narbe kann sich nur glücklich schätzen. Du weißt, wie es ist! Es war allgemein bekannt im Dorf, dass Umari Familien mit Töchtern in Naylas Alter großzügig seine Hilfe bei der Vermittlung einer Arbeitsstelle in Freetown anbot, damit sie ihre Verwandten mit Geld unterstützen konnten. Nayla wusste nicht genau, wie diese Arbeit aussah. Sie wusste, dass man sich bei dieser Arbeit schöne Kleider kaufen konnte, denn eines Nachmittags hatte sie die Nachbarstochter Neema gesehen, die zwei Jahre älter war als sie und in Freetown arbeitete. Neema saß auf der Stufe vor dem Hauseingang ihrer Eltern. Sie trug ein leuchtendes Kleid in allen nur erdenklichen Grüntönen, das wie ein glitzernder Strom um ihre nackten Beine bis fast auf den Boden floss. Sie schien Nayla kaum zu erkennen und nickte ihr nur mit müdem Gesichtsausdruck abwesend zu. Als sie einmal ihre Tante Majira nach Neema gefragt hatte, während sie abends gemeinsam hinter der Hütte Hirse stampften, da war es plötzlich, als wäre eine Tür vor Majiras großen und sanften Augen zugeschlagen worden. Davon wüsste sie nichts, sagte sie schnell und mit einem merkwürdig scharfen Unterton in der Stimme, stand auf und ging ins Haus.

    Jetzt bog Nayla in die Gasse ein, an deren Ende ihr Zuhause lag. Mein Zuhause, dachte sie. Nicht nur das Haus von Onkel Samuel und Tante Majira. Das war es lange gewesen, bis die beiden sie vor zwei Jahren liebevoll aufgenommen hatten, als die Polizisten sie hierher brachten. Ein zehnjähriges Mädchen mit einer kaum verheilten Narbe im Gesicht, schmutzig und zerschunden von den Tagen einsamer Flucht durch die Wildnis, in ihrem wochenlangen Schweigen mit sich tragend den Rauch des brennenden Dorfes, den letzten Blick auf die Mutter, die den Arm nach ihr in wilder Verzweiflung ausstreckte, sich im Griff ihrer Mörder wie eine in die Enge getriebene Löwin windend, bevor sie von ihnen neben dem reglos im Staub liegenden Vater zu Boden gestoßen wurde. Sie sah die Bäume und Felder, die auf der Ladefläche des LKW an ihren verschleierten Augen vorbeiflogen, die verängstigten Gesichter der anderen Mädchen und Jungen des Dorfes um sie herum, das Lachen der rauchenden und trinkenden Wachen, ihre Prahlerei, wer die meisten Dorfbewohner auf welche brutale Weise umgebracht hatte. Sah den halbwüchsigen Banditen mit den gekreuzten Patronengurten über seinem schmächtigen nackten Oberkörper, der mit betonter Lässigkeit in seine Provianttasche griff, den abgeschnittenen Kopf einer Frau herausholte und diesen unter dem anerkennenden und übermütigen Gejohle seiner Kumpane an den Haaren empor hielt und stolz herumzeigte. Sah die Ankunft im Camp, wo sie vom Wagen gestoßen wurde, hinein in einen nicht enden wollenden bösen Traum. Immer wieder war sie dort, gefangen, ihren Peinigern ausgeliefert, ihre Gedanken waren unfähig zu fliehen. Die Erinnerung kroch aus einem lichtlosen Schacht ihrer Seele hervor, wenn sie allein mit sich war, sie tastete mit kalten Fingern in ihren Eingeweiden herum und ließ sie auch in der größten Mittagshitze zittern.

    Doch heute waren die schwarzen Erinnerungen weit weg, denn sie schwelgte innerlich noch ein wenig stolz in den Gedanken an das Spiel von vorhin, an ihren genauen Pass, der zum Tor geführt hatte, sah wieder Kareems lachendes Gesicht vor sich, als er sie beglückwünschte. Dann spürte sie plötzlich, dass etwas anders war als sonst. Eine unbestimmte Spannung, die wie eine unsichtbare Welle die abendliche Luft durchzog. Schon von

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