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Mord am Niddaufer
Mord am Niddaufer
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eBook295 Seiten3 Stunden

Mord am Niddaufer

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Über dieses E-Book

Am Ufer der Nidda wird in unmittelbarer Nähe des Eschersheimer Schwimmbades eine kopflose Leiche gefunden. Der Frankfurter Stadtteil ist in heller Aufregung, die auch das örtliche Gymnasium erfasst, als sich herausstellt, dass es sich bei dem Opfer um eine Schülerin handelt. Tom Bohlan und seine Kollegen ermitteln in der Schule und werden mit einer ungeliebten Schulleiterin, einem Theaterstück, in dem es um Enthauptungen geht und Intrigen im Kollegium konfrontiert. Doch damit nicht genug: die neue Staatsanwältin macht dem Kommissar das Leben schwer. Wieder ein spannender Frankfurt-Krimi um die Ermittler Tom Bohlan und Julia Will, angereichert mit einer Menge Lokalkolorit.
SpracheDeutsch
HerausgeberLasp-Verlag
Erscheinungsdatum18. Apr. 2016
ISBN9783946247159
Mord am Niddaufer
Autor

Lutz Ullrich

Lutz Ullrich, studierte Politik und Rechtswissenschaften, schrieb für verschiedene Zeitschriften, betätigte sich in der Frankfurter Lokalpolitik und arbeitet heute als Rechtsanwalt in Frankfurt. Von ihm sind elf Krimis und ein historischer Roman über Willy Brandt erschienen.

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    Buchvorschau

    Mord am Niddaufer - Lutz Ullrich

    weggeblasen.

    Donnerstag

    Die Spätsommersonne knallte vom Frankfurter Himmel herab. Über der Stadt schwebte eine Dunstglocke, die dafür sorgte, dass sich die Wärme in den Schluchten der Hochhäuser zu stauen begann. Der Sommer war in diesem Jahr wieder äußerst bescheiden gewesen und schien in seinen letzten Tagen alles nachholen zu wollen, was er bislang versäumt hatte. Für das Wochenende waren über dreißig Grad Celsius vorhergesagt und es wurde mit einem Ansturm auf die städtischen Bäder gerechnet. Hauptkommissar Tom Bohlan fläzte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem alten Holzstuhl und blickte durch die dunklen Gläser seiner Sonnenbrille. Vor ihm stand ein Latte Macchiato nebst einem Stück Butterstreusel. Das Wasser lief in seinem Mund zusammen. Er schwang die Gabel, trennte die erste Ecke ab und schob das Stück in den Mund. Was für ein Tag, dachte Bohlan. Butterstreusel mochte er für sein Leben gern. Manche Bäcker versuchten, den Kuchen mit einer Puddingschicht aufzupeppen. Er hingegen liebte ihn schlicht und einfach. Ein dünner Hefeteig und drüber schön dick die Streusel. Gerade als Bohlans Gabel zum zweiten Mal in den Kuchen piksen wollte, schrillte sein iPhone. Resignierend, aber immer noch bester Laune, ließ er die Gabel sinken und kramte das Smartphone aus der Innentasche seiner Jacke, die er über die Stuhllehne gehängt hatte.

    „Julia, was gibt’s?" Ein kurzer Blick auf das Display hatte ihm verraten, dass es seine Kollegin war. Er hoffte inständig, dass sie in irgendeinem Eiscafé saß und das Leben ebenso genoss wie er.

    „Tut mir sehr leid, dass ich dich stören muss, es gibt ein kleines Problem."

    Wenn es nur ein kleines Problem wäre, würde Julia nicht anrufen, dachte Bohlan und sah seine gute Stimmung dahinkriechen.

    „Jetzt hör mal zu, Schätzchen. Vor mir steht einer der leckersten Streuselkuchen der Stadt. Ich hoffe, du hast einen triftigen Grund, um mich bei diesem Genuss zu stören."

    „Den habe ich in der Tat, Tom. Ich stehe hier am Ufer der Nidda. Vor mir liegt eine Leiche und um mich herum ist der Teufel los. Lauter Schaulustige, die gerade das Eschersheimer Freibad verlassen." Aus Wills Stimme war jegliche Ruhe gewichen. Sie klang ein wenig schrill, überschlug sich beinahe.

    „Tom. Bist du noch dran?"

    „Ja, verdammt! Was soll ich tun?"

    „Lass dir deinen verdammten Kuchen einpacken und beweg deinen Arsch hierher."

    Das war mehr als deutlich. Deutlicher war Julia Will noch nie geworden. In all den Jahren, die Bohlan mit ihr zusammenarbeitete, war sie eigentlich meist die Ruhe in Person gewesen. Was immer sich vor dem Eschersheimer Freibad zugetragen hatte, es musste Will völlig außer Fassung gebracht haben. Der Kommissar klemmte einen Zehneuroschein unter den Kuchenteller und verließ das Café, nicht ohne sich noch einen großen Bissen vom Kuchen in den Mund zu schieben.

    Als Bohlan am Tatort eintraf, sah er bereits die Meute lauern. Der Anblick ähnelte dem eines Schwarms von Aasgeiern, die über ihrer Beute kreisten. Wer auch immer die These aufgestellt hatte, es gäbe so etwas wie Schwarmintelligenz, er wurde hier Lügen gestraft. Den Schwimmbadbesuchern stand alles andere als Intelligenz ins Gesicht geschrieben. Entsetzen, Angst oder Abscheu trafen eher zu. Eine merkwürdige Stille lag in der Luft, nur aus der Ferne klangen die begeisterten Schreie spielender Kinder herüber, die sich gerade die Rutsche hinab in das kühlende Nass stürzten. Bohlan bahnte sich einen Weg durch die Menge. Schon von Weitem erblickte er Julia Will in einem geblümten Sommerkleid. Eigentlich machte sie immer eine gute Figur, egal ob sie sich im Präsidium bewegte oder auf einem Ball. Selbst auf der Judomatte war sie bestimmt eine Augenweide, dachte Bohlan. Hier aber wirkte das flatternde bunte Kleid ein wenig deplatziert. Offensichtlich hatte sie aber vorbildlich gearbeitet. Ufer und Straße waren durch uniformierte Einsatzkräfte und rot-weiße Bänder weiträumig abgeriegelt. Steinbrecher und Steininger standen mit Julia Will zusammen, der Böschung zur Nidda demonstrativ den Rücken zugekehrt. Plötzlich legte sich eine Hand auf Bohlans Schulter.

    „Na, dass wir mal zeitgleich am Fundort auftauchen, hat Seltenheitswert." Bohlan wandte den Kopf zur Seite und blickte in Dr. Spichals Gesicht. Der groß gewachsene Rechtsmediziner grinste ihn an.

    „Soll ja ein ziemlich spektakulärer Fund sein, was man so hört."

    Bohlan verzog sein Gesicht und murmelte etwas Unverständliches.

    Als sie das Absperrband erreichten, grüßte Bohlan die Einsatzkräfte, während Dr. Spichal das Band anhob und dem Kommissar den Vortritt ließ. Bohlan eilte zu seinen Kollegen. Will, deren Gesicht nichts von der üblichen Lebendigkeit aufwies, fasste ihn am Arm. „Es ist das Schrecklichste, was ich jemals gesehen habe." Mit einer leichten Kopfbewegung deutete sie zum Ufer, wo der Kommissar nichts weiter bemerkte, als eine an zwei Sträuchern befestigte Vereinsfahne des FC Heddernheim.

    „So schlimm sehen die Vereinsfarben nun auch wieder nicht aus." Bohlan bereute seine Worte, kurz nachdem sie seinen Mund verlassen hatten.

    „Es ist nun wirklich der falsche Zeitpunkt für irgendwelche Scherze, raunte Will. „Die Fahne wurde uns freundlicherweise vom benachbarten Verein zur Verfügung gestellt. Wir müssen die Kinder, die vorbeilaufen, unbedingt vor diesem Anblick schützen, sonst brauchen wir hier jede Menge Psychologen.

    Bohlan wurde allmählich immer unruhiger. Was auch immer hinter der Fahne lag, es musste ein grausiger Anblick sein.

    „Sprachst du nicht von einer Wasserleiche?", bemerkte Dr. Spichal.

    „Ich habe sie bereits aus dem Wasser ziehen lassen", antwortete Will.

    „Keine Sorge. Natürlich haben wir alles fotografisch festgehalten, was Lage und Stellung im Wasser und so weiter angeht."

    Dr. Spichal nickte. „Ich habe nichts anderes erwartet."

    Die drei hatten die Fahne erreicht und gingen um sie herum. Bohlans Blick traf den aufgeschwemmten Körper und er spürte eine säuerliche Flüssigkeit aus seinem Magen nach oben steigen.

    „Da kommt wohl wirklich jegliche ärztliche Hilfe zu spät. Der Rechtsmediziner streifte sich Plastikhandschuhe über. „Schon ein oberflächlicher Blick zeigt, dass längst die Leichenfäulnis eingesetzt hat. Natürlich einmal abgesehen von dem fehlenden Kopf.

    Bohlan wandte sich ab und ging zusammen mit Julia Will zurück zu Steinbrecher und Steininger, die in der Mordkommission immer nur ‚die Stones‘ genannt wurden. Auch ihre Gesichter waren weißer als jemals zuvor.

    „Die Fakten. Aber kurz", sagte er zu Julia Will gewandt.

    „Der Leichnam wurde vor zwei Stunden von einem Spaziergänger entdeckt. Er lag ziemlich versteckt unter Ästen und Gestrüpp. Dem Anschein nach wohl schon einige Tage."

    Bohlan hob den Kopf und blickte nach links und rechts. „Er könnte auch angeschwemmt worden sein."

    „Eher unwahrscheinlich. Nur wenige Meter weiter befindet sich ein Wehr."

    „Und der Kopf, ich meine irgendwelche Anzeichen?"

    Will und die Stones blickten verständnislos.

    „Habt ihr das Gelände absuchen lassen? Irgendwo muss der doch sein. Wer nimmt denn einen Kopf mit nach Hause?"

    Eine gute Stunde später wurde der Leichnam im Institut für Rechtsmedizin eingeliefert. Bohlan hatte sein gesamtes Team zur Leichenschau mitgenommen und zusätzlich einen Fotografen der Spurensicherung. Kurze Zeit später erschien Felicitas Maurer, die zuständige Staatsanwältin. Sie war Mitte vierzig, hatte dicht gelockte dunkelbraune Haare und strahlte eine hanseatische Kühle aus. Sie hatte sich zu Beginn des Jahres von Hamburg nach Frankfurt versetzen lassen und für frischen Wind in der hiesigen Staatsanwaltschaft gesorgt. Über die Beweggründe ihrer Versetzung waren die wildesten Spekulationen im Umlauf. Bohlan hatte bislang versucht, sie zu ignorieren, was in Anbetracht der täglichen Updates seiner Kollegen mehr als schwierig war. Zweifelsohne strahlte Maurer eine gewisse Aura aus und sah zudem noch ziemlich gut aus, aber der Kommissar war zu sehr mit der holprig gewordenen Beziehung zu Barbara Weber beschäftigt, als dass er sich Gedanken um eine hübsche Staatsanwältin machen konnte. Seitdem Weber zum neuen Gesicht der samstäglichen Sportsendung im Fernsehen aufgestiegen war, verbrachte sie mehr Zeit in Mainz als in Frankfurt. Sie gönnte sich dort sogar eine Zweitwohnung, was Bohlan für arg überzogen hielt.

    Dr. Spichal begann mit der äußeren Leichenschau. Zunächst stellte er fest, dass es sich um eine weibliche Leiche handelte, die lediglich mit einem T-Shirt und einem kurzen Rock bekleidet war. Weitere Kleidungsstücke oder gar Ausweispapiere waren bislang nicht gefunden worden. Bohlan hoffte inständig darauf, dass der Körper irgendwelche besondere Merkmale aufwies. Ansonsten sah er für die weiteren Ermittlungen ziemlich schwarz. Dr. Spichal deutete auf schlitzförmige Stoffdefekte im Brustbereich des T-Shirts. „Sieht nach Messerstichen aus. Vorsichtig zog er das T-Shirt nach oben. Mehrere Einstichverletzungen im Brustbereich kamen zum Vorschein. Dr. Spichal beugte sich über die Verletzungen und stellte nach einiger Zeit fest: „Fünf leicht schräg gestellte Einstiche, jeweils knapp zwei Zentimeter lang, und zwar sowohl im T-Shirt wie auch in der Brust. Er blickte zu Bohlan.

    „Also wurden die Einstiche durch das T-Shirt ausgeführt?"

    „Exakt."

    „Warum weist das Shirt keine Blutflecken auf?", wollte Steininger wissen.

    „Vermutlich ausgewaschen, antwortete Dr. Spichal. „Die Tote hat sich mit dem Shirt eine lange Zeit im Wasser befunden.

    „Wie lange genau?", hakte Will nach.

    „Das kann ich noch nicht sagen. Ein paar Tage werden es schon gewesen sein. Aber dazu muss ich noch weitere Untersuchungen anstellen. Kommt ruhig näher und schaut euch die Haut an, sagte er mit einer einladenden Handbewegung. „Ich weiß, dass Wasserleichen kein schöner Anblick sind. Trotzdem kann man viel aus der Leiche herauslesen.

    Etwas zögerlich näherte sich Bohlan dem Leichnam. Er hatte in seiner langen Dienstzeit schon einige Leichen gesehen, doch Wasserleichen waren stets die Ausnahme gewesen. Vorsichtig ließ er seinen Blick über den Körper der Toten wandern. Die Haut war zu großen Teilen graugrün verfärbt, ein Ergebnis fortschreitender Leichenfäulnis. An manchen Stellen hatten sich ganze Hautpartien abgelöst und baumelten wie Stofffetzen nach unten.

    „Hier. Waschhaut", stellte Dr. Spichal fest und deutete auf die Handflächen. Steininger schaute ihn fragend an.

    „Wenn man sich längere Zeit im Wasser aufhält, quillt die oberste Hautschicht auf und saugt sich mit Wasser voll. Dr. Spichal blickte wieder auf die Hände, die kreideweiß verfärbt waren. „Hier kann man deutlich sehen, dass sich die Hornhaut komplett verwandelt hat. Um diesen Zustand zu erreichen, muss der Körper ein paar Tage im Wasser gelegen haben.

    „Aber da sind auch grünliche Stellen", stellte Will fest.

    „Exakt, antwortet Dr. Spichal. „Erste Ansätze für einen Algenfilm, so wie bei einem Korallenriff.

    „Interessant, murmelte Maurer. „Wie lange muss man dafür im Wasser liegen?

    „Schwer zu sagen, antwortete Dr. Spichal. „Für solche Phänomene gibt es keine zeitlichen Gesetzmäßigkeiten. Das hängt von vielen Faktoren ab, genauso wie bei der Leichenfäulnis und der Waschhautbildung. Aber wie gesagt, ein paar Tage müssen es schon gewesen sein, sonst wären die Zeichen nicht so deutlich erkennbar.

    Julia Will war bemüht, die aufsteigende Übelkeit zu bekämpfen.

    „Ist alles okay?", wollte Bohlan flüsternd wissen.

    „Geht schon", sagte Will und kramte in ihrer Handtasche.

    „Können Sie schon etwas mehr zu den Stichverletzungen sagen? Es war Felicitas Maurer schneidige Stimme, die den Raum erfüllte. Dr. Spichal musterte die Staatsanwältin mit einem durchdringenden Blick. „Der Stoff ist glatt durchgetrennt und weist keine aufgerissenen Ränder auf. Das spricht für ein scharfes Messer.

    Maurer nickte und fügte beiläufig hinzu: „Dafür spricht auch die Enthauptung."

    „Diese Wunde habe ich mir noch nicht näher angesehen. Sie können aber davon ausgehen, dass die Tote erst erstochen und dann enthauptet wurde."

    „Irgendwelche Hinweise auf ein Sexualverbrechen?", fragte Maurer.

    „Auch dazu kommen wir noch, wobei der ganze Verwesungszustand die Sache nicht gerade erleichtert. Dr. Spichal wandte sich dem Genitalbereich zu: „Auf den ersten Blick sehe ich keine Verletzungsspuren.

    Nachdem der Rechtsmediziner den Körper auf den Bauch gedreht hatte, beugte er sich interessiert über die rechte Schulter. „Das ist ja interessant." Bohlan vernahm einen plötzlich an ihm vorüberziehenden Geruch, der sich deutlich vom Leichengeruch abhob und auch weit angenehmer war. Er drehte sich in einer Art Reflex zur Seite und blickte auf Maurers Lockenpracht, die sich dicht an ihn gedrängt hatte und den Kopf nach vorne in Richtung Leichnam reckte.

    „Das ist eindeutig eine Tätowierung. Sieht aus wie eine Blume oder so etwas." Bohlan und Maurer stürzten nach vorne, um Dr. Spichals Entdeckung zu begutachten, behinderten sich dabei aber gegenseitig.

    „Kann ich dann auch mal bitte?, raunzte der Fotograf, nachdem sich der Reihe nach alle über das Tattoo gebeugt hatten. „Es kann dann ja jeder einen Abzug bekommen.

    Die Kommissare wichen zurück. Der Fotograf richtete sein Objektiv auf das Tattoo. Mehrere dicht aufeinanderfolgende Klacker zeugten von der ausgelösten Serienbildfunktion. Nachdem er fertig war, drehte Dr. Spichal mithilfe seiner Assistentin den toten Körper wieder auf den Rücken, griff zu seinen Werkzeugen und schaute kurz zu den Umstehenden.

    „Ich werde jetzt mit dem Aufschneiden beginnen. Ich stelle es jedem frei, dieser Prozedur beizuwohnen. Allerdings kann ich niemanden dazu raten. Der Anblick wird nicht schöner und der Verwesungsgeruch stärker."

    Durch kurzen Blickkontakt verständigten sich die Kommissare und Bohlan verkündete: „Alles klar, wir werden mal kurz draußen die Lage besprechen. Sollte etwas sein, kannst du uns verständigen."

    Dr. Spichal nickte und wartete, bis die Kommissare, gefolgt von dem Fotografen die Tür erreicht hatten. Sein Blick traf Felicitas Maurer, die wie angewurzelt an ihrem Platz stehen geblieben war.

    „Ich bleibe, wenn Sie gestatten", sagte sie knapp.

    „Ich kann niemanden zu seinem Glück zwingen", knurrte Dr. Spichal und setzte das Skalpell an.

    „Mann bin ich froh, dass wir um die innere Leichenschau herumgekommen sind, sagte Steinbrecher und zündete sich eine Zigarette an. Bohlan sog den aufsteigenden Qualm ein. „Das ist einer der wenigen Momente, in denen Zigaretten richtig gut riechen, entgegnete er.

    Die vier standen auf dem Parkplatz vor dem Institut für Rechtsmedizin.

    „Immerhin haben wir einen wichtigen Ansatzpunkt, sagte Will und wandte sich an den Fotografen, der damit beschäftigt war, das Equipment in einen Koffer zu verstauen. „Können wir das Tattoo noch mal sehen?

    Der Fotograf unterbrach seine Packaktion und hielt Julia das Display der Digitalkamera vor die Nase.

    „Wir bräuchten davon so schnell es geht eine Datei. Dann können wir die Vermisstenmeldungen durchsehen. Wenn wir Glück haben, ist jemand dabei, der solch ein Tattoo hat." Steinbrecher nahm einen tiefen Zug von der Zigarette und blies den Qualm gen Himmel.

    „Und hoffentlich wurde das besondere Merkmal bei der Vermisstenmeldung angegeben", sagte Will.

    Bohlan nickte. „Ja, hoffentlich. Ansonsten stehen wir ziemlich blöd da. Wenn’s irgendein Mädchen aus dem Osten ist, das die Menschenhändler hier eingeschleust haben, wird die Identität nie geklärt."

    „Wie kommst du denn darauf?", wollte Steininger wissen.

    „Wenige Meter vom Tatort befindet sich ein Campingplatz und da lungert so manches Volk herum."

    Felicitas Maurer beobachtete schweigend und ohne sichtbare Regung jeden Handgriff des Rechtsmediziners. Lediglich in dem Moment, als dieser das Skalpell zum ersten Mal in die verwesende Haut ritzte, wandte sie ihre Aufmerksamkeit einem Döschen Wick zu. Sie hatte den Deckel geöffnet, den Zeigefinger kurz in die cremige Masse gerieben und eine dünne Schicht unter der Nase verteilt. So sah sie sich gegen den Angriff auf ihre Geruchssinne gewappnet, der in wenigen Augenblicken bevorstand.

    „Die Einstiche sind ziemlich tief, stellte Dr. Spichal fest. „Drei von ihnen haben das Brustbein durchbohrt. Die Wucht muss gewaltig gewesen sein.

    „Also Fremdeinwirkung", sagte Felicitas Maurer.

    Dr. Spichal sah überrascht auf. „Was denn sonst? Oder glauben Sie, dass sich jemand selbst den Kopf abhaut?"

    „Nein natürlich nicht", antwortete Maurer. Zum ersten Mal zeigte sich der Anflug eines Lächelns auf dem Gesicht der Staatsanwältin.

    „Sehen Sie hier! Dr. Spichal deutete auf die Arme. „Lauter kleinere Schnitte und Kratzer. Das sind typische Anzeichen für Abwehrverletzungen.

    „Es hat also einen Kampf gegeben?", fragte Frau Maurer.

    „Davon ist auszugehen. Im Verlaufe des Kampfes hat der Täter mit brutaler Gewalt zugestochen. Einer der Stiche traf sie direkt ins Herz. Ein solcher Stich führt den Tod innerhalb kürzester Zeit herbei, antwortete Dr. Spichal. „Nach dem Ableben hat dann die Enthauptung stattgefunden.

    „Dann sollten wir dies abschließend mit den Kommissaren besprechen", sagte Felicitas Maurer. Ihre Stimme klang abgeklärt und rational.

    „Ja, lassen Sie uns nach draußen gehen. Er legte sein Skalpell zur Seite und blickte zu seiner Assistentin. „Können Sie hier bitte weitermachen? Dann beeilte er sich, Felicitas Maurer zu folgen, die bereits die Tür erreicht hatte. Ein Anzeichen dafür, dass sie den Raum schneller verlassen wollte, als sie vorgegeben hatte.

    „Warum markieren Sie die starke Frau? Das haben Sie nicht nötig!"

    Die Staatsanwältin drehte kurz den Kopf zur Seite und lächelte.

    „Wie kommen Sie darauf, dass ich Ihnen etwas vorspiele?"

    „Das habe ich nicht behauptet."

    „Der Tod gehört zum Leben dazu und Mordopfer gehören zu unserem Leben. Ich habe jeden Tag Tote auf meinem Tisch und scheußliche Bilder vor den Augen. Klar härtet das ab. Trotzdem lassen mich diese Bilder nicht kalt."

    „Das ist ja alles sehr interessant. Aber warum erzählen Sie mir das?"

    „Weil Sie versuchen, den Anschein zu erwecken ..."

    „Ich versuche keinen Anschein zu erwecken. Ich bin dafür verantwortlich, dass ein Mord, noch dazu ein ziemlich widerwärtiger, aufgeklärt wird." Ihre Stimme schnitt durch die Luft. Der Rechtsmediziner gab jeden weiteren Versuch auf, hinter die Maske zu schauen, die die Staatsanwältin trug. Als er die Tür zum Hof aufstieß, sah er die Kommissare zusammenstehen.

    „Meine Herren, Julia, ich bin zum vorläufigen Abschluss der Obduktion gekommen." Die Kommissare schauten auf, während Dr. Spichal, gefolgt von Felicitas Maurer, über den Kies auf sie zukam. Der Rechtsmediziner berichtete von den tiefen Stichwunden und seiner Vermutung, dass ein Kampf stattgefunden hat.

    „Das ist mit Abstand der widerwärtigste Mord meiner Karriere, sagte Maurer, nachdem Dr. Spichal seinen Bericht beendet hatte. „Ich muss wohl niemanden daran erinnern, dass Sie mit höchster Präzision ermitteln müssen. Pannen können wir uns nicht leisten. Herr Bohlan, ich zähle auf Sie. Sie schaute Tom Bohlan in die Augen, nickte dann kurz den anderen zu und stiefelte zu einem Porsche 911, der auf dem Parkplatz stand. Bevor sie die Fahrertür aufmachte, wandte sie sich noch einmal um. „Wir hören voneinander."

    „Heißes Gerät", bemerkte Steinbrecher, nachdem der Porsche vom Parkplatz gerollt war.

    „Ich würde eher sagen, Stinkstiefel", entgegnete Will.

    „Ich meinte nicht die Staatsanwältin, sondern den Porsche, sagte Steinbrecher. „Die Maurer ist kühler als der Nordwind.

    „Gebt ihr eine Chance, warf Dr. Spichal ein. „Sie trägt die Schminke nicht nur im Gesicht, sondern auch auf dem Herzen.

    Bohlan blickte Dr. Spichal an. „Bist du jetzt auch Seelenklempner?"

    Dr. Spichal hob die rechte Augenbraue. „Soweit liegen diese Metiers gar nicht auseinander. Wer wie ich in das Innere schauen kann, der hat auch ein besonderes Faible für die Seele." Er drehte sich um und ging die Stufen zum Eingang nach oben.

    „Was ist mit dem Bericht?", rief Bohlan ihm hinterher. Dr. Spichal, der die Hälfte der Treppe erklommen hatte, hob den rechten Arm.

    „Liegt morgen auf deinem Schreibtisch."

    Gegen zwanzig Uhr rieb sich Julia Will mit den Händen über das Gesicht. Ihre Augenlider waren von dem langen, intensiven Lesen am Bildschirm schwer geworden. Sie hatte Mühe, sich auf die Buchstaben zu konzentrieren. Doch mit einem Mal durchzuckte sie ein Adrenalinstoß, der alle Müdigkeit auf einen Schlag verdrängte. Ein Kribbeln breitete sich in ihrer Magengegend aus und erfasste binnen Sekunden den ganzen Körper. In den vergangenen Stunden war sie die Vermisstenmeldungen im Computersystem INPOL durchgegangen. Mehr als fünfzehntausend Fälle waren in dem System gespeichert, darunter circa sechstausend Personen, die in Deutschland als vermisst gemeldet waren. Ein gewaltiges Datenmaterial stand also zur Verfügung. Zum Glück erledigte sich die Hälfte der Vermisstenfälle innerhalb der ersten Woche. Meistens waren es Probleme in der Schule, mit den Eltern oder schlicht Liebeskummer, die zum zeitweisen Verschwinden führten. Da zwei Drittel der Vermissten männlich waren, verringerte sich die Zahl der möglichen Treffer zwar beträchtlich, doch ein leichtes Unterfangen war es trotzdem nicht. Zunächst war Will die Fälle aus dem Rhein-Main-Gebiet durchgegangen. Es gab drei vermisste Mädchen, die in ihr Ermittlungsraster passten, doch bei keinem hatte sie etwas von einem Tattoo finden können. Daraufhin hatte sie die Suche auf ganz Deutschland erweitert. Sogleich hatte sich die Anzahl der Vermissten schlagartig vermehrt. Die ganzen Meldungen durchzugehen hätte Stunden gedauert. Trotzdem hatte sie mit dieser Sisyphusarbeit begonnen, doch nach eineinhalb Stunden war ihr diese Arbeit mehr als sinnlos vorgekommen. Einem Instinkt folgend, hatte sie noch mal die drei Fälle aus dem Rhein-Main-Gebiet aufgerufen. Bei der vermissten Nummer eins handelte es sich um eine fünfzigjährige Frau, die als korpulent beschrieben wurde. Nummer zwei war eine über Achtzigjährige, die aus einem Pflegeheim in Rödelheim verschwunden war. Blieb noch Vermisste Nummer drei, ein siebzehnjähriges Mädchen. Die Eltern hatten sie vor vier Tagen als vermisst gemeldet. Sie wohnte mit ihrer Familie in der Straße ‚Im Geeren. Die Adresse ließ Will aufschrecken. Das Neubaugebiet lag in Eschersheim, nur wenige Kilometer vom Leichenfundort entfernt. Will schaute sich die Meldung genauer an. Das Mädchen hieß Lea Schuster, 170 cm groß, schlank, schwarze Haare, grüne Augen, blasser Teint. Als besonderes Merkmal war eine Narbe über der rechten Augenbraue angegeben. Die elektronische Akte enthielt noch

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