Didier schreibt an das Christkind: 21 Weihnachtsgeschichten aus aller Welt
Von Helmut Ludwig
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Helmut Ludwig
Helmut Ludwig (* 6. März 1930 in Marburg/Lahn; † 3. Januar 1999 in Niederaula) war ein deutscher protestantischer Geistlicher und Schriftsteller. Ludwig, der auch in der evangelischen Pressearbeit und im Pfarrerverein aktiv war, unternahm zahlreiche Reisen ins europäische Ausland und nach Afrika. Helmut Ludwig veröffentlichte neben theologischen Schriften zahlreiche Erzählungen für Jugendliche und Erwachsene.
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Didier schreibt an das Christkind - Helmut Ludwig
Ludwig
Weihnachten im Seniorenheim
Es hatte unzufriedene Angehörige gegeben, denen der Pflegesatz im Altenwohn- und Pflegeheim, das neuerdings Seniorenheim hieß, zu hoch vorkam. Im Heim selbst wusste man, dass Weihnachten immer eine kritische Zeit war. Das Fest der Liebe war eine empfindliche Sache. Da kam die Vergangenheit zurück. Es gab Heimweh. Und da war die Angst vor der Zukunft, gepaart mit Feststimmung und auch mit Freude. Es war eine hochsensible Zeit, in der die Stimmung auch nicht selten kippte.
Da der Heimleiter dem Gerede in der Stadt fairer begegnen wollte, lud er die Redaktionen der beiden Tageszeitungen ein, ihre Reporter am Heimalltag vor dem Fest teilnehmen zu lassen und darüber zu berichten. Und damit es keine gestellten Situationen gäbe, schlug der Heimleiter mit Zustimmung des Personalrates den Redaktionen vor, ihre Reporter unangemeldet und zu jedem Termin, der ihnen gemäß sei, zu schicken. Der Vorschlag fand Gegenliebe bei den Redaktionen. Vier Tage später erschien tatsächlich ein Reporter der »Tagespost« mit einem Kollegen. Man wollte eine große Reportage vom Heimalltag mit entsprechenden Fotos bringen. Der Heimleiter war zum Termin des Pressebesuches verhindert. Das war den Reportern umso lieber, als sie so freier schalten, walten und fragen konnten. Sie kamen gerade vom Unfallort an der Autobahn, wo vor zwei Stunden eine Massenkarambolage stattgefunden hatte. Bis zur Magistratssitzung am späten Nachmittag waren noch einige Stunden Zeit. So hatte man sich an die Einladung des Heimleiters erinnert. Das war Reporteralltag, Routine eben.
Der Pfleger, der den Heimleiter vertrat, war ein durchaus sympathischer jüngerer Mann, der sich, wie man bald merkte, gut auskannte. Die Reporter waren erstaunt, weil sie sich einen Altenpfleger viel älter vorgestellt hatten. Nach einem längeren Rundgang mussten die Reporter der »Tagespost« zugeben: Dies hier ist ein wirklich schönes Heim mit aufgeschlossenem, freundlichem Personal.
Die beiden Presseleute interessierten sich für die Küche und die Speisekarte, interviewten den Küchenchef und die Diätköchin, fotografierten die modern eingerichtete Großküche, ließen sich dann zur Krankenpflege-Abteilung führen, sprachen mit Schwestern und Pflegern, erfuhren, dass das Heim regelmäßig von zwei Ärzten betreut wurde, stenographierten, machten kurze Statements, ließen diesen und jenen Patienten auf Band sprechen, brachten anschließend das Fitness-Center ins Bild, besuchten die Heimbibliothek und wollten dann wissen, ob es in diesem Heim denn gar keine ausgesprochen schwierigen Fälle gäbe. »Schwierig«, antwortete der Pfleger, »ist hier mehr oder weniger jeder. In einem solchen Heim hat jeder seine Probleme und Kümmernisse, ganz besonders vor Weihnachten, wo die Vergangenheit hochkommt, aufbricht und Erinnerungen mit sich bringt. Gute und weniger gute«, sagte der Pfleger und fuhr fort:
»Man muss den Dienst hier mit Hingabe, ja, mit Liebe tun und darf nicht alles so verbissen sehen.«
Sie gingen zusammen die Treppe hinunter. Die Reportage war gelaufen. Nun kam die Nacharbeit in der Redaktion. Spitzenmeldung war die Massenkarambolage, das war klar. Im Treppenhaus saß ein vornehm wirkender älterer Patient auf den Stufen und starrte ausdruckslos vor sich hin. Die Reporter grüßten, erhielten aber keinen Gegengruß. Im Vorübergehen klopfte der Pfleger dem Patienten aufmunternd und behutsam auf die Schultern. Dann gingen sie weiter nach unten.
Im Büro fragte der Reporter nach dem Mann auf den Treppenstufen. »Sehen Sie«, antwortete der Pfleger: »Sie haben nach einem ›schwierigen‹ Patienten gefragt. Der Herr im Treppenhaus hat in seinen guten Tagen ein Wirtschaftsimperium geleitet, das gute Geschäftsbeziehungen rund um die ganze Welt unterhielt. Er war der Boss des Ganzen, Chef für 2600 Angestellte und Mitarbeiter. Nun ist er seit Jahren bei uns im Heim. Er leidet an der Alzheimerschen Krankheit, die sein Gedächtnis zerstört und nur gelegentlich Erinnerungslücken freigibt. Seine Frau, die mit ihm bei uns im Heim war, ist seit Jahren tot. Er weiß es nicht, starrt nur vor sich hin und ist schon dankbar, wenn man sich um ihn kümmert. Die Angehörigen zahlen gut für die Pflege. Er war und ist ja noch immer ein reicher Mann. Aber seit dem Ausbruch seiner Krankheit muss er angekleidet und gefüttert werden. Und natürlich kann er sich selber auch nicht sauber halten. Er sitzt den ganzen Tag herum und starrt vor sich hin, als wolle er die Vergangenheit ergründen.
Nebenbei bemerkt: Der Mann im Treppenhaus besitzt zwei Doktortitel. Er hat wesentliche Erfindungen im Flugzeugbau gemacht, eine ganze Industrie daraus entwickelt. Seine Söhne führen jetzt das Industrieimperium, das der Mann im Treppenhaus, dem sie eben begegnet sind, aufgebaut hat. Einst haben viele Angestellte vor ihm als Chef gezittert. Er soll ein selbstbewusster, energischer Mann gewesen sein, der sich selbst alles und seinen Mitarbeitern viel abverlangte.«
»Aber die Angehörigen? Sie sagten, dass es reiche Leute wären«, fragte der Reporter. »Es fehlt wahrhaftig nicht an Geld. Auch unser Heim bekommt von Zeit zu Zeit großzügige Spenden. Jetzt, gerade zu Weihnachten wieder. Aber der Mann im Treppenhaus bleibt ein Pflegefall.« – »Keine Hoffnung auf Besserung?«, fragte der Reporter und der Pfleger antwortete: »Vor einigen Wochen hat er einmal nach seiner Frau gefragt. Wir versuchten ihm vorsichtig zu erklären, dass sie auf dem Friedhof zur letzten Ruhe gebettet worden sei. Aber er hat die Antwort nicht begriffen. Gestern hat er ganz plötzlich nach Weihnachten gefragt und ganz entkrampft ausgesehen.«
Dann aber entsann sich der Pfleger: »Ich bitte Sie sehr, davon nichts zu schreiben. Sie wissen, es gibt den Datenschutz. Ich verlasse mich auf Ihre Diskretion!« Dann wiederholte der Vertreter des Heimleiters: »Man muss den Dienst hier mit Liebe tun. Und Weihnachten wird ja das Fest der Liebe genannt …« Mit festem Händedruck verabschiedeten sich die Reporter der »Tagespost« vom Vertreter des Heimleiters. Der eine sagte zu seinem Kollegen: »Ich möchte den Dienst hier nicht tun. Nun sag mir bloß, wie wir aus dem Heimbesuch eine Reportage über Weihnachten im Heim zusammenbringen?« Nachdenklich stiegen sie in den Wagen mit der Aufschrift: »Wer die Tagespost liest, weiß mehr …«
Das Kreuz auf der Hallig
Es war schon lange