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Du kannst dich nicht entschuldigen: Kurzgeschichten zwischen Himmel und Erde
Du kannst dich nicht entschuldigen: Kurzgeschichten zwischen Himmel und Erde
Du kannst dich nicht entschuldigen: Kurzgeschichten zwischen Himmel und Erde
eBook151 Seiten1 Stunde

Du kannst dich nicht entschuldigen: Kurzgeschichten zwischen Himmel und Erde

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Über dieses E-Book

Die spannendsten Kurzgeschichten, die Helmut Ludwig in den letzten Jahren schrieb. Fast alle werden hier zum ersten Mal veröffentlicht. Sie haben den Alltag wie den Ausnahmefall, die Dritte Welt, Gestalten der Geschichte ebenso wie unsere eigenen Probleme zum Thema. Sie stellen die Frage nach dem nahen und dem fernen Nächsten.
SpracheDeutsch
HerausgeberFolgen Verlag
Erscheinungsdatum3. Mai 2017
ISBN9783958930667
Du kannst dich nicht entschuldigen: Kurzgeschichten zwischen Himmel und Erde
Autor

Helmut Ludwig

Helmut Ludwig (* 6. März 1930 in Marburg/Lahn; † 3. Januar 1999 in Niederaula) war ein deutscher protestantischer Geistlicher und Schriftsteller. Ludwig, der auch in der evangelischen Pressearbeit und im Pfarrerverein aktiv war, unternahm zahlreiche Reisen ins europäische Ausland und nach Afrika. Helmut Ludwig veröffentlichte neben theologischen Schriften zahlreiche Erzählungen für Jugendliche und Erwachsene.

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    Buchvorschau

    Du kannst dich nicht entschuldigen - Helmut Ludwig

    Ludwig

    Der weite Weg

    Der Kellner überlegte: Er hatte den neuen Gast noch nie gesehen. Was führte ihn hierher in das verlassene Bergnest Siziliens? Er sah nicht aus wie ein Tourist. Er sprach akzentfrei italienisch.

    Aber er gehörte nicht zum Dorf. Was wollte er hier? Ein Hauch von Weltweite umgab ihn, seine Bewegungen, sein Auftreten, sein Sosein.

    Tino überlegte: Er kennt mich nicht mehr. Ich habe mich verändert in all den Jahren da draußen. Auch Sizilien hat sich inzwischen verändert, und das Dorf. Man erkennt es kaum wieder. Es ist gewachsen, anders geworden. Ob meine Eltern noch leben? Mein Fall ist verjährt. Keiner kann mir noch etwas anhaben. Warum komme ich zurück? Heimweh? Sehnsucht nach Hause, nach den alten Eltern?

    Warum bin ich nicht gleich zu ihnen gegangen? Vielleicht leben sie beide gar nicht mehr! War es Angst, Scheu, langsame Vorbereitung auf die Begegnung, was mich vorher in diese Vino-Kneipe geführt hat?

    Der Kellner dachte schärfer nach: Irgendwie kommt er mir bekannt vor. Aber ich kann mich irren. Ich habe so viele Menschen gesehen …

    Tino winkte den Kellner heran und dachte: Er wohnte zwei Gassen über uns, oben am Berg. Sie hatten eine kleine Hütte. Sechs Kinder waren sie. Die Hütte war erbärmlich klein. Und der nackte sizilianische Felsen ragte aus dem Küchenboden heraus. Die Häuser im oberen Dorfteil sind mit dem

    Felsen verschwistert, in den Berg hineingebaut. Aber nun kennt er mich nicht wieder.

    Tino bestellte bei dem Kellner, der früher einer seiner Spielgefährten gewesen, einen Vino rosso, einen Landwein, der nirgendwo in der Welt besser schmeckt als hier auf Sizilien. Der Kellner ging, um den Wein im Keller abzuzapfen.

    Tino dachte an Abessinien. Es war Krieg damals. Und was passiert war, war im Krieg passiert. Aber es hätte nicht sein müssen. Er hatte einen Menschen auf dem Gewissen. Das war nie wieder ganz ruhig geworden. Seine Fahnenflucht damals …

    Tino kam wieder ins Nachsinnen. Es ließ ihn nie mehr los. Er wollte beichten, hier zu Hause, in seiner Heimat wollte er endlich Ruhe finden nach der weltweiten Wanderschaft und Unstetigkeit. Aber vorher wollte er seine Eltern sehen. Darum war er schließlich gekommen. Er hatte Geld verdient, nicht übermäßig viel. Und der Flug von Südamerika her hatte für seine Begriffe eine Unsumme verschlungen. Er hatte lange dafür gespart. Und nun war er da. Und Detto, der heute Kellner war, erkannte ihn nicht wieder.

    Jetzt brachte er den Wein und stellte ihn vor Tino auf die unsaubere Tischplatte. Tino dankte. Der Kellner Detto entfernte sich geschäftig. Er hat noch dieselben eigenartigen Bewegungen wie damals, dachte Tino. Und ich bin froh, dass er mich nicht erkannt hat. Das lässt mir Zeit. Ich will die Zeit für mich arbeiten lassen.

    Dann betrat ein alter Mann das Lokal. Er war Fischer, man sah es an seiner Tracht, an der gebauschten Hose und den geflochtenen Sandalen, die die Fischer noch immer genau wie damals trugen.

    Es war Totschlag, dachte Tino. Und sie können mir nichts mehr wollen. Die Fahnenflucht ist heute verjährt. Ob es überhaupt rauskam? Ob sie ihn gesucht hatten? Wenn nur das Gewissen in all den Jahren still gewesen wäre. Aber die Tat hatte ihn zäh und unbeirrbar verfolgt, bis in die Nächte, bis in die Träume, bis nach Südafrika, bis nach Südamerika und nun bis hierher in die sizilianische Heimat.

    »Darf ich mich zu Ihnen setzen, Signor? Allein trinkt sichs nicht gut.«

    Tino lud den Fischer ein, an seinem Tisch Platz zu nehmen. Es war ohnehin eng in der Vino-Kneipe. Tino kannte den Alten nicht. Und der Alte kannte Tino offenbar ebenfalls nicht. Das Dorf war gewachsen. Der Krieg hatte auch in Sizilien Verschiebungen hervorgerufen.

    Tino starrte in das glühende Rot des Weines und dachte an die Tat, die ihn um trieb. Der alte Mann wollte ein Gespräch herbeiführen. Sie redeten zuerst über alles Mögliche. Dann pirschte Tino sich langsam an seine Wissenswünsche heran. Weitläufige Verwandte hätte er im alten Dorf. Der Fischer sah ihn an. Aber er kannte ihn gewiss nicht. Tino sagte, er sei auf einer Durchreise hier, um sich umzusehen, die Berge und das Meer am Fuß der Felsen, auf denen das Dorf thronte, zu grüßen. Er liebe Sizilien. Ob der alte Mann die Familie Peretti kenne?

    Der Fischer dachte nach, während ihm Detto, der Kellner, den offenbar üblichen Wein vorsetzte.

    Peretti? Da wohnten am Berge die beiden alten Leute, einsam, zurückgezogen, ohne großen Kontakt mit dem Dorf. Damals …

    Tino war ganz Ohr, ganz Spürsinn, während er sein Glas hob und dem Fischer zutrank.

    Ja, seit damals lebten die alten Perettis ganz zurückgezogen. Als der Sohn aus dem Abessinienkrieg nicht mehr zurückgekommen sei. Vermisst oder so.

    Tino verbarg seine verräterische Erregung. Was denn mit dem Sohn losgewesen wäre?

    Der Fischer wusste es nicht. Er konnte nur eins mit Bestimmtheit sagen, dass sie ihn für tot erklären ließen, als er nach Jahren immer noch nicht zurück war. Nun lebten sie von der kleinen Kriegshinterbliebenenrente, weil doch der Sohn nicht zurückgekommen sei und die alten Leute nicht mehr arbeiten konnten. Das wenige Geld der Rente hätte sie über Wasser gehalten. Aber eben dazu sei es nötig gewesen, den verschollenen Sohn für tot erklären zu lassen.

    Wenn er nun zurückkäme, fragte Tino, er sagte, er meine es nur so, rein theoretisch.

    »Der kommt nicht mehr zurück. In Abessinien ist mancher verschwunden, der nie mehr zurückkam«, sagte der Fischer. Er trank einen Schluck seines Weins.

    »Ich meinte es auch nur so«, sagte Tino.

    Der Fischer antwortete: »Er darf auch gar nicht wiederkommen. Denken Sie, Signor, die Rente der alten Leute! Sie müssten am Ende zurückzahlen. Der Sohn kann ja nicht einfach als Millionär zurückkehren nach so vielen Jahren. Warten Sie, Signor!« Der Fischer rechnete nach. »Fast drei Jahrzehnte, Signor, ich bitte Sie! So was gibt es doch gar nicht! Im übrigen, Signor, aber es geht Sie ja gar nichts an. Nur, wenn wir schon einmal dabei sind: Es ging damals ein Gerücht durchs Dorf. Ich weiß nicht viel von den Dingen, bin erst nach 44 zugezogen. Ich komme aus Palermo, wohnte in einer schäbigen Vor-Ortsmietskaserne und wurde in den letzten Kriegstagen ausgebombt. Seither friste ich hier mein Dasein mit Fischen. Um auf die Perettis zurückzukommen: Sie hatten es nicht leicht, den Sohn für tot erklären zu lassen und die kleine Rente durchzusetzen. Es gingen allerlei Gerüchte über das Verschwinden des Verschollenen durchs Dorf. Keiner hatte ihn in Abessinien fallen sehen. Einige sagten, vielleicht sei er gefangengenommen worden. Es wurde nie ganz geklärt. Aber er war der Ernährer seiner Eltern. Der Vater war krank und ist es immer noch.«

    Ob sie denn von der kleinen Rente leben könnten? fragte Tino.

    Eben so, meinte der Fischer. Aber Tino solle die beiden alten Leute doch nur besuchen. Vielleicht würde es sie freuen.

    Tino dachte nach: Ob die Rente zurückgezahlt werden müsste, war fraglich. Aber die Gerüchte, man hatte ihn gesucht, für tot erklärt …

    Hatte er ein Heimatrecht mit seiner Schuld? Konnte sie überhaupt verjähren? Lässt das Gewissen innere Verjährung zu? Andererseits: Wer sollte heute noch nachprüfen können, wie die Sache wirklich gewesen war. Waren nicht unendlich viele in Abessinien getötet worden? Fiel einer mehr dabei überhaupt ins Gewicht?

    Das Gewissen ließ diese Frage nie zu. Tino wusste es. Und er musste mit seinem Gewissen und mit Gott ins Reine kommen.

    Er würde den Wein austrinken und beichten, hier in seinem Heimatdorf. Der alte Pfarrer, der ihn kannte, war mit Bestimmtheit längst tot. Er würde einem unbekannten Kirchenmann beichten. Nicht sagen, dass er von hier war, dass er hier geboren war, in der alten Kirche gesessen hatte, als Junge, damals, bevor Abessinien ihn forderte.

    Tino trank seinen Wein aus. Er zahlte und bereitete sich vor zur Beichte.

    Drei Stunden später lag die Beichte hinter ihm; ihm war zum ersten Mal seit Jahrzehnten, seit seiner weltweiten Flucht vor Gott und dem Gewissen, frei ums Herz, seltsam leicht und frei.

    Hinter ihm lag der schwerste Kampf seines Lebens. Was war dagegen Abessinien gewesen? Tino hatte sich durchgerungen. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er war heimgekehrt zu Gott, heimgekehrt nach Sizilien, um seine Eltern zu sehen. Aber sie lebten davon, dass er für sie tot war. War es die Strafe, die er auf sich zu nehmen hatte?

    Tino ging am Elternhaus vorbei. Die Fenster waren geschlossen. Tino wollte die Eltern in Frieden den Rest ihrer Tage verbringen lassen. Er konnte ihnen nicht gegenübertreten. Sie würden ihn fragen. Er konnte sie nicht belügen. Jetzt nicht, nach der Beichte und nach allem.

    Alarm im 36. Stockwerk

    Rund um das City-Hotel im Stadtteil Montparnasse wimmelte es von Menschen, die die Sensation am Abend magisch angezogen hatte. Und immer noch strömten neue Zuschauer herbei und starrten hinauf zum 36. Stockwerk des Hotels. Polizei, Feuerwehr und Hilfswerk bemühten sich vergeblich, Schneisen in das Gestrüpp sensationslüsterner Zuschauer hineinzutreiben, um den Rettern und Helfern ein Durchkommen zu ermöglichen. Befehle, laute Kommandos, Blaulicht, Martinshorn … Alles fieberte durcheinander.

    Der lebensmüde Springer stand auf einer schmalen Brüstung im 36. Stock und hatte den Kopf zur Wand gewendet, klammerte sich verzweifelt in den Steinfugen fest, wagte keinen Blick mehr in die Tiefe. Offenbar hatte ihn die Kraft zum letzten Absprung jetzt verlassen. Aber es gab kein Zurück mehr. Wie denn?

    Inspektor Blanche ließ den grellen Suchscheinwerfer direkt auf den Mann im 36. Stock ausrichten, hatte ihn voll im Scheinwerferkegel und durch den weißen Blendstrahl abgeschnitten vom Blick in die grauenvolle Tiefe. Selbst wenn der Mann noch einmal einen Blick hinunter riskierte, würde er vom Lichtkegel genau so geblendet wie ein Schauspieler im Rampenlicht, der nichts mehr vom Publikum im Saal sieht, nur noch in Licht und Schwärze hinein agiert.

    Das Sprungtuch der Feuerwehr konnte nicht ausgespannt werden. Zwecklos! Unter der Stelle, von der der Lebensmüde abspringen musste, war der Vorbau der Empfangshalle

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