Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Zwei Stunden: Länger als ein Jahr
Zwei Stunden: Länger als ein Jahr
Zwei Stunden: Länger als ein Jahr
eBook947 Seiten13 Stunden

Zwei Stunden: Länger als ein Jahr

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Deutschland kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Vom Fronteinsatz äußerlich unversehrt zur Familie zurückgekehrt, macht sich Günter in der Landwirtschaft nützlich, als sein thüringisches Heimatdorf von den Russen besetzt wird. Das Leben des jungen Mann gerät erneut aus den Fugen.

Verhör, Gefangennahme, Deportation in die Sowjetunion. Hungersnot, Arbeitseinsatz, Schweigelager, Lazarett. Heimkehr bis zuletzt ungewiss. So die erschütternde Bilanz seines fast vier Jahre andauernden Martyriums.

Günter Macht hat sie überlebt - diese Tortur, die aus heutiger Sicht unvorstellbar ist. Um die Schrecken des Krieges nie in Vergessenheit geraten zu lassen, war es ihm ein Anliegen, seinen Leidensweg zu dokumentieren und ihn - stellvertretend für den Millionen anderer - jüngeren Generationen nahezubringen. Sein Sohn, Dietrich Macht, hat den autobiografischen Roman seines Vaters nun postum herausgegeben.

Authentisch schildert Günter Macht in »Zwei Stunden - Länger als ein Jahr«, was ihm zwischen 1945 und 1949 im russischen Winter widerfuhr, was er dachte und fühlte angesichts teilweise ekelhaftester und unfassbarer menschlicher Abgründe. Sein Erlebnisbericht ist persönlich, nicht philosophisch bis ins letzte Detail ausgeklügelt, nicht interessiert an politischer Überkorrektheit - er stützt sich auf Tagebucheinträge und gibt Momente des Erlebens und Erleidens deshalb umso unmittelbarer, bedrückender und berührender wieder.

Machts detaillierte Erinnerungen lassen Ohnmacht und Wut der Lagerinsassen greifbar werden und die grässliche Fratze des Krieges besser erahnen, das Ausmaß menschlichen Elends tiefer erfassen, als es die Geschichtsbücher jemals könnten.

»Zwei Stunden - Länger als ein Jahr« - ein eindrücklicher Zeitzeugenbericht, gerade für all jene, die Frieden und Freiheit heute als Selbstverständlichkeit betrachten.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum2. Sept. 2014
ISBN9783945408087
Zwei Stunden: Länger als ein Jahr

Ähnlich wie Zwei Stunden

Ähnliche E-Books

Kriege & Militär für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Zwei Stunden

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Zwei Stunden - Günter Macht

    Günter Macht

    Zwei Stunden

    Länger als ein Jahr

    Verlag Neue Literatur

    2014

    Impressum

    Bibliografische Information der Deutschen National­bibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechts ohne Zustimmung des Verlages ist unzulässig.

    © by Verlag Neue Literatur

    www.verlag-neue-literatur.com

    Cover: fotolia

    Gesamtherstellung: Satzart Plauen

    ISBN 978-3-945408-08-7

    Inhalt

    Impressum

    Vorwort

    Liebe Leserin, lieber Leser!

    Zeitlicher Ablauf meiner Gefangenschaft

    Der letzte Einsatz

    Gewöhnung an das Ausweichquartier

    Ein Gerücht wird Wahrheit

    Ein langer Weg beginnt

    Hinter Gittern – aber bis wann?

    Der Zug der Verurteilten

    Im Viehwagen

    Weihnachten hinter Stacheldraht

    Ein Bahndamm wird gebaut

    Erholungszeit

    Ein nahrhaftes Kommando

    Finska Pilla

    In den Krallen einer Fabrik

    Der Weg ins Ungewisse

    Im Schacht

    Kartoffelkeller-Einsatz

    Kamenolon

    Eine Hoffnung zerrinnt

    Die NKWD packt zu

    Jagd nach Prozenten

    Ungewißheit schwebt über der Heimfahrt

    Glossar

    Erklärung: Bei dem deutschen Text, der von einem Russen gesprochen wird, steht anstelle des Buchstaben »h« ein »ch« oder ein »g«, da der Russe das »h« nicht sprechen kann. Diesen Buchstaben gibt es in der russischen Sprache nicht. Alle russischen Formulierungen sind darüber hinaus aus der Erinnerung aufgeschrieben und basieren auf Hörensagen.

    Vorwort

    Mein Name ist Dietrich Macht. Ich bin der älteste Sohn des Lehrers Günter Macht, der das vorliegende Buch verfasst hat. Im Mai 1945 kehrte mein Vater von einem Fronteinsatz als Wehrmachtssoldat in sein Heimatdorf in Thüringen zurück. Er war froh und es schien, als sei der Krieg für ihn vorbei. Doch der vermeidliche Friede währte nicht lang: Sowjetische Soldaten marschierten ein und nahmen ihn gefangen. Ein fast vierjähriges Martyrium voller Qualen, Demütigungen und Strapazen nahm seinen Lauf, das er, gestützt auf Tagebucheinträge, äußerst eindrucksvoll festgehalten hat. Um kommenden Generationen einen Eindruck zu vermitteln, wozu Menschen imstande sind, und vor allem, als Appell, daß die Schrecken des Krieges nie in Vergessenheit geraten dürfen, schrieb mein Vater dieses Buch. Für die Fertigstellung benötigte er fast drei Jahre. Leider war es ihm nicht mehr vergönnt, sein Werk selbst zu veröffentlichen, da er 1987 verstarb. Erst jetzt habe ich mich – auf Drängen meiner Ehefrau – dazu entschlossen, sein Buch zu veröffentlichen. Ich wünsche all denjenigen, die es lesen, eine entspannte, aber auch nachdenkliche Zeit.

    Dietrich Macht

    Liebe Leserin, lieber Leser!

    Meine hier aufgezeichneten Erlebnisse, die sich bereits vor einigen Jahrzehnten ereignet haben, habe ich nicht verfaßt, um eine Hetzkampagne gegen ein Volk zu betreiben.

    Sie sollen vielmehr demonstrieren, daß ein Volk nicht nach seinem Ermessen wirken und existieren kann, wenn es von einem brutalen Diktator beherrscht wird.

    Sich von ihm losreißen?

    Das gelingt äußerst selten, da der Herrscher über die stärksten Kräfte in seinem Land verfügt. Er hat sie so fest an sich gekettet, daß er sie dirigieren kann, wie er allein es will.

    Leicht und unüberlegt behauptet man nach Ablauf dieser Epoche, daß das gesamte Volk brutal sei und vor keiner Schandtat zurückschrecke. Wer so spricht und denkt, soll erst einmal gegen einen Diktator vorgehen. Doch dazu fehlt meistens der Mut, da derjenige, der aufbegehren will, aller Wahrscheinlichkeit nach nur noch wenige Stunden zu leben hätte.

    Wir Deutschen haben eine zwölfjährige Diktatur erlebt. Doch brutal ist nicht das Volk, sondern der Souverän mit seinen besten Freunden gewesen­.

    Und wir haben diese Rolle nicht allein spielen müssen – den Russen erging es nicht anders, vielleicht noch schlimmer als uns.

    Ich habe den Russen kennengelernt. Er war hilfsbereit, freundlich und ein ausgesprochener Gemütsmensch. Auch war er sehr zugänglich für den Glauben an Gott und die verschiedensten Kunstrichtungen.

    Aber der Russe konnte und durfte sich nicht nach eigenem Wunsch entfalten, statt dessen mußte er sich strikt nach den Befehlen des Diktators richten und sie befürworten und loben. Seine wirkliche Einstellung hat er nur ganz heimlich und ohne Aufpasser bekunden können.

    Und eine gewalttätige Auseinandersetzung?

    Sie hätte stattfinden können – aber mit Blutvergießen – und mit dem Endsieg des Gewaltherrschers. Das Volk dagegen hätte wie zuvor am Boden liegen müssen.

    Und zahlreichen anderen Völkern erging und ergeht es ähnlich. In jedem Menschen steckt der Hang zur Herrschsucht – bei dem einen verspürt man davon wenig, beim anderen dagegen davon um so mehr. Und wenn man der übermäßig herrschsüchtigen Person zu viel freien Lauf gelassen hat, dann ist das Volk sehr schnell in ideologische Ketten gelegt, gegen die es sich nicht mehr zu wehren vermag.

    Und können Angehörige der folgenden Generationen nunmehr behaupten, daß eigene Volk habe damals aus Banditen und Verbrechern bestanden? Nur weil einer diese Rolle gespielt hat?

    Diejenigen, die damit das eigene Nest beschmutzen, sollten vor Erstellung einer solchen Anmaßung erst intensiv und vor allem mit der notwendigen Toleranz über das Geschehene nachdenken.

    Dann werden sie ihrer aufgestellten Kritik eine Änderung verpassen, die somit zu einem gerechten Urteil werden kann.

    Mit einem historischen Blitzurteil dagegen betritt man die falsche Spur.

    Günter Macht

    Zeitlicher Ablauf meiner Gefangenschaft

    Der zeitliche Ablauf meiner Gefangenschaft bei den Russen spielte sich folgendermaßen ab:

    1945:

    Gefangennahme am 10. August

    vom 10. bis 18. August in der Bürgerschule festgehalten

    vom 18. bis 21. August Marsch der Gefangenen nach Weimar

    vom 21. bis 23. August Aufenthalt in Weimar

    am 23. und 24. August Fahrt mit der Eisenbahn nach Pirna

    vom 24. August bis 16. September Unterbringung im Lager in Pirna

    vom 16. September bis 17. Oktober Fahrt von Pirna nach Tscherepowez über Dresden, Cottbus, Liegnitz, Lodz, Radom, Lublin, Kowel, Gomel, Brjansk, Moskau, Jaroslawl, Wologda

    1946:

    vom 17. Oktober 1945 bis 10. Januar 1946 Gefangenschaft im Lager 437, Tscherepowez

    vom 10. Januar bis 25. Februar Lager 158/I, Tscherepowez

    vom 25. Februar bis 10. Mai Lager 158/IV, Schalome

    vom 10. Mai bis 17. April 1947 Lager 437, Schuhfabrik, viermal Lazarett, Finnsägekommando vom 1. September bis 17. April 1947

    1947:

    vom 17. April bis 26. September Lager 193/2 Petschakino, Papierfabrik und Holzplatz

    vom 12. September bis 10. Oktober Lagerkolchose Miaxa

    vom 26. September bis 6. Oktober Fahrt ins Donezbecken über Moskau, Tula, Kursk, Orel, Charkow, Donezk (Stalino damals)

    vom 6. Oktober 1947 bis 24. Januar 1949 Lager 7144/8, Irmino

    vier Tage Zimmermann, vier Wochen Kohlenbergwerk, sechs Wochen Siedlungsbau 3 b, fünfeinhalb Monate Steinbruch, dazwischen Ruhr und Urlaub, vier Wochen Eisentransport auf Rembasa, zwei Wochen Hilfsarbeiter auf 4/2, zwei Monate Handlanger Siedlungsbau Stalino, viereinhalb Wochen Erdarbeiter Stalino, dreieinhalb Wochen im Lager wegen Fußbruches, drei Wochen Projekt D 1, sechs Wochen Handlanger beim Schulneubau, neun Wochen bei Projekt 4/2 als Verlader

    1949:

    vom 24. Januar bis 19. März Schweigelager 7144/4 in Kolobowka

    vom 19. März bis 2. Juli im Lager 7144/5 Pagamune als Steinbrucharbeiter­

    2. Juli nach Lager 7144/7 in Brjanka, Heimkehrer-Sammellager, Rekordarbeiter mit 307 Prozent

    vom 4. Juli bis 13. Juli Fahrt zurück nach Frankfurt/Oder

    am 13. Juli Ankunft gegen 18 Uhr in Schleiz

    Der letzte Einsatz

    Es ist Mitte April 1945. Seit einigen Tagen bin ich in Buchwald an der bayerisch-tschechischen Grenze stationiert.

    Unser Haufen besteht eigentlich nur aus jungen Leutnants. Vor kurzem­ – genauer gesagt am 1. April 1945 – ist die Beförderung erfolgt. Bisher sind wir an der Waffenschule der Artillerie in der Nähe von Pilsen eingesetzt gewesen. Überraschend trifft uns der höhere Befehl: »Infanteristischer Einsatz im Böhmerwald sofort!«.

    Keine Fahrzeuge stehen uns zur Verfügung – es muß in ungezwungener Form marschiert werden. Und damit uns so leicht niemand beobachten kann, nehmen wir drei ausgedehnte Nächte in Anspruch.

    Die erste Stationierungswoche verläuft ohne nennenswerte Vorkommnisse, da unsere Gegner, die Amerikaner, noch nicht in die von uns besetzte Gegend vorgedrungen sind. Trotzdem weiß man uns ununterbrochen zu beschäftigen. Bald müssen wir bis Finsterau schleichen, um die eventuelle Position des Gegners zu erkunden, bald durchkämmen wir die ausgedehnten Wälder, um uns strategisch auf den bevorstehenden Waffeneinsatz zu konzentrieren oder um präzise Ausschau nach den sogenannten Wehrwolflagern zu halten. Bisher sind die uns völlig fremd gewesen, nun staunen wir um so mehr, als wir das erste entdecken. Vorzüglich hat man dieses Wehrwolflager getarnt, so daß es nur von denen ausfindig gemacht werden kann, die zuvor im Geheimen davon Kenntnisse erhalten hatten. Der Inhalt ist für die kämpfende Truppe bestimmt: wichtige Waffen wie Pistolen, Karabiner, Maschinengewehre und -pistolen, leichte Granatwerfer sowie bergeweise alle erdenklichen Munitionsarten, dazu Lebensmittel wie Brot, Butter, Wurst und Käse.

    Jetzt leuchtet uns ein, weswegen man uns direkt hierher gejagt hat. Wir sollen uns selbst versorgen, damit man oben die sichere Gewähr besitzt, daß die Lagerung Sinn gehabt hat. Und gleich nach der Ortung von vier solcher Lager flattert ein Befehl unseres Kommandanten zu uns nach Buchwald. Schnell werden wir zusammengerufen, um den Inhalt von unserem Anführer, einem Oberleutnant, zu erfahren:

    »Leute, der Herr Generalmajor befiehlt hiermit folgendes: ›Da wir für alle weiteren Einsätze bestens versorgt sind, erteile ich den Befehl, niemals zu kapitulieren, falls ein solcher Befehl von Berlin bei uns eintrifft. Wir gehorchen nicht – wir kämpfen stolz weiter. Was zum Kampf nötig ist, liegt im Böhmerwald in ausreichender Menge. Dieses wird uns den Kampf bis zur totalen Vernichtung ermöglichen. Es entfernt sich niemand von unserer Truppe!‹«

    Das wagt auch keiner, da wir auch noch im Herrschaftsbereich vom General S. stecken. Nur der Herr Generalmajor entkommt kurz nach der Befehlsausgabe mit Hilfe eines Hubschraubers dahin, wo ihn niemand auffinden kann.

    Also muß ein Major seine leer gewordene Stelle einnehmen. Etwa eine Woche später – der Mai hat bereits begonnen – erfolgt für uns die erste Konfrontation mit den Amerikanern. Um Widerstand leisten zu können, werden wir in zahlreiche Einheitsteile zergliedert.

    So muß der Amerikaner wohl oder übel auch seine Truppeneinheiten zerteilen, wodurch er erheblich geschwächt wird.

    Mit drei weiteren Kameraden erhalte ich den Befehl, am Waldrand eines flachen Tales Stellung zu beziehen und dort unser MG 42 in schußfertige Position zu bringen. Damit sollen wir ein vor uns liegendes Dorf bewachen – Entfernung etwa 800 bis 900 Meter. Im kleinen Ort hat sich ein Zug von uns niedergelassen mit dem Auftrag, jeden eventuellen Durchbruch der Amerikaner zu verhindern. Ihnen soll der Einzug in den Böhmerwald nicht ermöglicht werden. So liegen wir in Stellung und sind jederzeit bereit, die Umgebung des Dorfes unter Beschuß zu nehmen. Begreiflicherweise dürfen wir uns während unserer Wartezeit nur geringfügig bewegen. Stunden vergehen. Plötzlich ertönen zahlreiche Schüsse vom Ort her, die untermalt sind von gellenden Schreien. Was ist los? Wir peilen nach vorn und legen uns direkt neben das MG. Und schon werden wir von Geschossen umschwirrt, da man uns von irgendwo her ausfindig gemacht hat. Das MG muß außer Gefecht gesetzt werden! Ich schreie:

    »Muß gestoppt­ werden! Los, wir werfen uns so hin, daß die denken, wir seien tot!«

    Und schon haben wir die Rolle von Gefallenen übernommen, indem wir uns geschickt auf den Boden geworfen haben. Wir haben Erfolg, denn gleich danach wird die Schießerei abgebrochen. Zur Sicherheit verweilen wir aber noch weiter in totaler Ruhestellung. Und schon vernehmen wir Rufe, die immer näher kommen. Es sind keine Amis – also auf vom Boden! Und schon erblicken wir einige Leute des Zuges von vorn. Doch wie sehen sie aus! Der Zugführer humpelt gehörig und ruft:

    »Los, ihr MG-Schützen! Gleich in den Wald. Los, springt die paar Meter und laßt das MG liegen!«

    Wie elektrisiert flitzen wir davon. Der Zugführer hat einen üblen Oberschenkel-Durchschuß erlitten, andere, die mit Hängen und Würgen der Waldrand erreichen sind über und über mit Wunden, verursacht durch Streifschüsse, und Schnittverletzungen übersät. Hier im Wald, wo uns der Gegner nicht erspähen kann, erfahren wir von der MG-Gruppe was vorgefallen ist. Helmut berichtet, wobei seine Stimme noch auffällig zittert:

    »Ich bin von Ehrhard bei der Wache abgelöst worden. In meiner Unterkunft hab ich mich gewaschen und anschließend mit Wilfried zusammen etwas gegessen. Wir quasseln gerade so gemütlich, als plötzlich sehr geräuschvoll die Türe aufgerissen wird. Herein stürmen zwei mit Messern bewaffnete schwarze Amerikaner. Wir sind hochgefahren. Der eine gräßliche Kerl packt Wilfried sofort, sticht ihm blitzschnell … die Augen raus, fährt mit der Schneide kreuz und quer – ja, wirklich kreuz und quer­ … über sein Gesicht … und schneidet … ihm auch noch die Kehle … durch. Der andere wollte bestimmt mit mir daßelbe veranstalten. Zum Glück war er etwas langsamer. Nun … in meiner Not … habe ich ihm – oh, wie furchtbar – wenn ich bloß an das Gesicht denke – also, ich hab ihm Winfrieds Jacke, die gleich neben mir lag, ins Gesicht geschlagen. Dann bin ich fortgesaust. Furchtbar, was ich draußen noch gesehen habe, da, wo eigentlich­ die Posten stehen sollten: lauter zerstückelte Leichen – grausam­!«

    Der Zugführer ergänzt, wenn auch nur kurz, da er erhebliche Schmerzen hat:

    »Nachdem ich einiges davon mitgekriegt habe, will ich den Anführer bitten, das Gemetzel sofort zu unterbinden. Und der aber … er knallt mir mit seiner Pistole in den Schenkel. Zum Glück, daß du, Georg, kamst. Du hast ihm gleich einen derben Fußtritt verpaßt. Sonst stände ich jetzt nicht hier.«

    Nachdem wir den Verletzten notdürftige Verbände angelegt haben, beginnen wir mit dem langsamen Rückzug. Auch wenn einige gehbehindert sind, wählen wir einen steilen Berganstieg neben einer schmalen Straße, damit wir den Amis nicht in die Arme laufen. Unterwegs zählt der Zugführer und stellt betrübt fest:

    »Von den vierzig Mann, die wir eigentlich waren, sind noch zwölf übrig. Und das muß sich einen Tag nach der offiziellen Kapitulation ereignen.«

    Ich bin furchtbar entsetzt, weil sich unter den 28 so bestialisch zerstückelten Kumpels auch zwei befinden, mit denen ich wirklich gut befreundet gewesen bin.

    24 Stunden später ein ähnliches Drama, an dem jedoch einer von uns die Mitschuld trägt. Eine andere Gruppe hat Stellung bezogen und die Gewehre im Anschlag, geschützt von einem schnell hoch geschaufelten Erdwall. Die Amerikaner müssen bald kommen – dann weg mit ihnen. Als sie sachte vordringen, brüllt einer, der wirklich ein Kriegsfan gewesen ist: »Los, Leute – zum Gegenangriff!« Und schon springt er hoch, die andern ihm sofort nach.

    Es hat den Anschein, als ob die heranrückenden Feinde genau auf diesen Moment gelauert hätten! Schüsse fallen keine Sekunde nach dem Aufspringen unserer Gruppe – es klingt fast wie eine Salve. Und mit ihrer Hilfe braucht man die Gruppe nicht mehr als gefährlichen Gegner zu betrachten, da Tote und Schwerverwundete nicht mehr kämpfen können. Die paar Leichtverwundeten schickt der Amerikaner großzügig zu uns zurück, nachdem er ihnen alles Brauchbare abgenommen hat. Von denen erfahren wir das Dilemma. Endlich – am 11. Mai 1945 – entschließt sich unser Major, der seit der Flucht des Generals die Führung inne hat, sofort zu kapitulieren. Er kann und will solche enormen Verluste nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren.

    Aufgrund dessen müssen wir uns irgendwo zwischen Buchwald und dem tschechischen Ort Eisenstein versammeln. Mit Schrecken stelle ich fest, wie sehr sich unser Haufen verkleinert hat. Jede Gruppe und jeder Zug muß demnach erhebliche Verluste erlitten haben – und das nur Stunden vor dem Kriegsende.

    Nun stehen neben, hinter und vor uns amerikanische Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett. Doch wer von uns sollte jetzt noch wegrennen!

    Unser Major verhandelt ohne jegliche Warterei mit dem zuständigen amerikanischen Offizier höheren Ranges – und gleich danach verkündet unser Chef:

    »Weil wir die letzte Einheit auf allen Kriegsschauplätzen sind, Leute, die die Waffen gestreckt haben, läßt der Amerikaner Gnade vor Recht walten. Er gibt uns den Befehl, sofort aus dem tschechischen Raum hinüber in den Bayerischen Wald zu marschieren – und zwar bis nach Lohberg. Es geht praktisch über Bayerisch Eisenstein und nahe am Großen Arber vorbei. Denkt euch, wir dürfen alle unsere Pistolen mit jeweils fünfzig Schuß scharfer Munition behalten. Er hat es ›Ehrerbietung für unseren Kampfeinsatz bis zum letzten‹ genannt. Treibt bitte keinerlei Unfug unterwegs. Was weiter geschieht, sollen wir in Lohberg erfahren, da sich dort ein Hauptquartier der Amerikaner befindet.«

    Und nun staunen wir. Die Gesinnung der amerikanischen Soldaten hat sich schlagartig gewandelt. Sie vergreifen sich nicht mehr an uns. Ja, sie haben sogar vor uns mehr Respekt als wir vor ihnen.

    Unterwegs, kurz hinter Bayerisch Eisenstein, benutzen vier Kameraden eine eingelegte Marschpause zur Flucht in Richtung Sachsen und Erzgebirge. Sie haben es kurz zuvor damit begründet, daß dieser Weg wesentlich kürzer und einfacher sei als der über Ostthüringen um die Tschechoslowakei herum. Niemand kümmert sich weiter darum – nur verkündet mancher von uns seine Meinung dazu:

    »Die haben zweierlei: einen Klaps und eine doppelte Portion Mut. Die wissen doch genauso wie wir, daß mit den Tschechen nicht zu spaßen ist – na und wenn sie dem Schörner in die Hände laufen, dann können sie ihr letztes Gebet sprechen.«

    »Der wird nichts mehr zu melden haben – aber die Tschechen!«, entgegnet ein anderer, doch gar bald wird die Flucht von keinem mehr berührt.

    Als wir einen Tag später in Lohberg eintreffen, beginnt für uns doch eine mehrstündige Wartezeit. Was gibt’s denn jetzt? Wir lungern vor einem langgestreckten Gebäude herum – alle paar Minuten wird einer von uns hineinbeordert – erscheint aber zum Glück nach kurzer Zeit wieder.

    »Ist ganz harmlos!«, verkündet der erste, der diesen Weg gehen mußte. »Die wollen alle Personalien wissen, und dann, eh – ob wir irgendwann der NSDAP angehört hätten. Dazu werden Fragen gestellt, die man mit einem Miniaturverhör vergleichen kann. Und zuletzt erhält jeder vom anwesenden General einen Wisch mit Stempel und Unterschrift – sozusagen als Beweis, daß er da hat vorsprechen müssen und daß er politisch ungefährlich ist.«

    Das gesamte Papierkrieg-Unternehmen dauert, wie nicht anders zu erwarten, zwei geschlagene Tage. Schließlich sind wir ja immer noch über hundert Leute.

    Nach Ablauf der Aufnahmefrist wird uns ein neues Marschziel angegeben – wir müssen nach Kötzting. Ein bis zwei Kilometer vom Stadtrand entfernt leitet man uns in ein Lager. Wir ahnen etwas Furchtbares! Was haben wir plötzlich verbrochen? Ich kann mich an nichts erinnern.

    Aber um das Lager führt kein Stacheldraht und Posten aus Amerika sind nicht vorhanden. Was soll der ganze Zauber bloß bedeuten! Unser Major bringt Klarheit hinein:

    »Wieder eine annehmbare Neuigkeit! Wir dürfen uns selbst bewachen, aber nur mit Hilfe der Fäuste.« Dabei lacht er herzlich. »Es kommt noch besser. Wir können im Umkreis von circa zehn Kilometern frei herumlaufen und mit jedem quasseln. Und jeden Tag werden welche, na, was wohl?«

    Keiner kann es erraten.

    »Also jeden Tag werden welche … heimgeschickt. Es geht ganz nach Landschaften oder ehemalig Gauen. Die vom Norden und Süden fangen zuerst an.«

    Unsere Begeisterung ist nun riesengroß.

    Mit meinem Freund Willy unternehme ich die ein oder andere Wanderung in die Umgebung. Nebenbei dürfen wir auch noch die Schulterstücke und die erhaltenen Orden tragen. Die einfachen amerikanischen Landser scheinen manchmal regelrecht Angst vor uns zu haben – weswegen schielen sie wohl sonst nach dem gegenseitigen Kassieren so eifrig nach hinten, also zu uns? Mit Willy habe ich bereits unterwegs abgesprochen, daß er, der den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt, sich mit mir entlassen läßt. Nach Ostpreußen kann er ja sowieso nicht zurück. Zwei Tage später torkelt einer der Geflohenen zu uns ins Lager, dessen Lage er irgendwo erfahren hat. Er ist völlig deprimiert und niedergeschlagen. Die Anwesenden von uns versammeln sich natürlich sofort um ihn. Das Gefrage beginnt:

    »Wieso tauchst’ wieder auf? Mußt doch einen wichtigen Grund haben!«

    »Ich kann mir’s denken,«, meint Willy. »Bist wohl irgendwelchen Tschechen in die Hände gefallen?«

    So schnell bekommen wir ihn nicht zum Sprechen. Er hält sich hin und wieder die Hände vors Gesicht und stöhnt auffällig.

    »Hermann, nun verrat uns schon, was geschehen ist!«, versucht ein anderer ihn aufzumuntern.

    »Ach – oooo jeee, grausam war’s!«, beginnt er. »Wie soll ich euch das bloß erzählen? Aaach – ich mach es kurz. Also: Walter, Gerhard, Ludwig und ich, wir gehen während der Dämmerung in der Nähe eines Dorfes vorbei. Wir hatten beste Laune. Ja, und auf einmal tauchten fünf, sechs Tschechen­ auf, mit Eisenstangen oder so was Ähnlichem bewaffnet. Und dann ging’s ohne viel Worte los. Sie brüllten: ›Na, ihr Nazischweine! Kommt her! Los – Tempo!‹ Als wir kehrtmachen wollten, waren sie schneller. Na, und was von den drei Freunden übriggeblieben ist, könnt ihr euch selbst ausmalen. Jedenfalls sind sie reineweg abgeschlachtet worden. Ein Glück, daß ich entwischen konnte. War eine verdammte Tortur!«

    Wir sind entsetzt und pflegen Hermann. Dem amerikanischen Kommandanten muß er ebenfalls berichten.

    Die Entlassung geht indes zügig voran. Mit Willy bin ich am 27. Mai dran. Jeder erhält einen DIN-A4-Bogen mit allen möglichen Unterschriften. Schnell schnappen wir unsere Klamotten, verabschieden uns von den anderen und dampfen ab, wenn auch vorerst zu Fuß. Der nächste Bahnhof, der in Betrieb ist, liegt in Cham. Von dort aus bringt uns ein altmodischer und etwas beschädigter Zug nach Schwandorf.

    »Willy, das wird ein Ding werden. Denk dir, wir müssen nun zu Fuß nach Hause – das sind weit über hundertfünfzig Kilometer. Dazu brauchen wir bestimmt noch einen Handwagen.«

    Bald ergattern wir auch einen – vorher habe ich meine Pistole und die Munition an einen Amerikaner gegen zwei Pakete Philipp-Morris-Zigaretten verscheuert.

    Nun ziehe ich mit Willy nach knapp dreiwöchiger Gefangenschaft in Richtung Heimat. Sieben Tage sind wir unterwegs – und manchmal ist die Strecke nicht ungefährlich. Besonders an Straßenkreuzungen stehen entlassene KZ-Häftlinge oder Verschleppte herum und lauern auf die Möglichkeit eines lohnenswerten Überfalls. Uns verschonen sie zum Glück, da sie einen fast leeren Handwagen nicht verwerten können.

    Als wir unser Ziel fast erreicht haben, erläutere ich Willy das, was wir gleich sehen werden:

    »Viel brauche ich ja nicht mehr zu berichten. Wenn wir da die Höhe erklommen haben, siehst du alles, was ich dir schon beschrieben habe. Nur noch vier Kilometer sind’s. Dann haben wir es geschafft. Das Schloß, in dem ich wohne, ragt über alle anderen Häuser hinweg. Paß auf!«

    Willy ist etwas bedrückt, da ich heim kann, er aber nicht. Jetzt haben wir den Aussichtspunkt erreicht, und ich schreie:

    »Mensch, ich werd verrückt! Was ist denn da los? Das ist der wohl blödeste Gruß, den ich jemals erhalten habe, Willy! Das Gebäude ist nur noch ein erbärmlicher Trümmerhaufen! Da freut man sich auf die Heimkehr­ – und was erwartet einen! Eine Ruine! Ich könnt heulen!«

    Willy ist ebenso betrübt:

    »Wir sind wirklich Hornochsen! Wollten wir doch für die blödsinnige Ideologie noch weiterkämpfen im Böhmerwald! Und hier, hier kassieren wir dafür eine solche Ohrfeige!«

    »Wirklich, Willy, eine Ohrfeige! Aber steh mir bei, daß es nicht auch die schlimmste noch hagelt: nämlich die Todesnachricht von meinen Eltern. Das wäre unvorstellbar grausam!«

    Wortkarg ziehen wir weiter der Stadt entgegen, die so demoliert worden ist. Unterwegs am Stadtrand erfahre ich Gott sei Dank von einer Frau, daß meine Eltern noch leben und auf dem Staatsgut wohnen. Sie will mir noch vom Luftangriff am 8. April 1945 berichten– doch fürs Zuhören kann sie mich jetzt nicht erwärmen. So erreichen wir das Gut bald. Und meine Eltern sind über die Maßen glücklich, als sie mich erblicken. Abwechselnd schließen sie mich in ihre Arme und begrüßen auch Willy herzlich. Nach intensiver Körperreinigung werden wir zwei Heimkehrer gefüttert und umsorgt.

    Gewöhnung an das Ausweichquartier

    Ebenso wie meine Eltern und Schwestern beziehe ich auf diesem Gut nunmehr­ Quartier. Willy bleibt leider nur noch drei Tage, dann wandert er ab auf einen Privathof, um dort nach eigenem Ermessen zu wirken. Dafür befreunde ich mich mehr und mehr mit dem 17-jährigen Lehrling Heinz.

    Mein neuer Standort – das Staatsgut – liegt nah an der Peripherie meiner Heimatstadt und braucht deswegen keinen starken Autoverkehr zu befürchten. Zahlreiche Stallungen und Scheunen sind für Pferde, Kühe, Schafe und Geflügel vorhanden. Sie bilden ein geschlossenes Rechteck, das allerdings von zwei trutzig wirkenden Holztoren unterbrochen wird, die sich gegenüberliegen. Man könnte meinen, daß man mit den aus Eiche gezimmerten Torflügeln die Fremden abwehren wollte. Kann einst auch so gewesen sein. Doch in der heutigen Zeit denkt kein Hofbewohner daran, sich mit solchen Mätzchen Respekt nach außen hin zu verschaffen.

    Das sogenannte Herrenhaus, dessen wohlklingender Name »Palast« sicher noch von früher stammt, fügt sich mit seinen Erkern, seinen bunten Glasfenstern und seinen Balkonen nicht sehr vorteilhaft in das rein landwirtschaftliche Bild des übrigen Hofes ein. Nun, es bietet wenigstens fürs Auge eine Abwechslung. Dazu verkündet es eben, welchen unterschiedlichen Wert die Herren und die Arbeiter vor Jahrzehnten untereinander besessen haben.

    Die dunkle Nacht ist hereingebrochen. Der Hof schlummert wie immer um diese Zeit in finsterer Einsamkeit. Eine Unterbrechung leisten sich höchstens ein Stück Vieh, das in einem der Ställe unruhig geworden ist, laut aufstampft und auffällig muht oder wiehert, oder der Hofhund, der ebenfalls aufgrund von äußeren Einflüssen leise an der Eisenkette zerrt. Selbst das läßt jeden aufhorchen, der sich auf dem freien Hof befindet.

    Beinah wie tote Augen starren die Fenster der Landarbeiterwohnungen auf die vom Mondlicht milchig weiß gefärbte Fläche des teilweise gepflasterten Hofes. Die schwarzen Glasflächen erscheinen wie die ebenso farbigen Augenhöhlen eines hautlosen Schädels.

    Nicht für jedermann zum Betrachten geeignet.

    Im Herrenhaus ist man noch fidel und munter, denkt also längst nicht an Nachtruhe. Aus dem Fenster fällt der greller Schein der elektrischen, mehrflammigen Deckenbeleuchtung und zerreißt Teile der Dunkelheit, die das Haus jede Nacht gespensterhaft umhüllt.

    In diesem Zimmer sitze ich mit Heinz, meinen beiden Schwestern und der älteren Tochter des Besitzers beim spannenden Romméspiel. Vor jedem steht ein Glas, das mit rotfunkelnder Erdbeerbowle gefüllt ist. In ihr fängt sich aufgrund der Flüssigkeit das Licht und wird an die Zimmerdecke reflektiert. Und was geschieht da? Es hüpft in Form von Lichtringen eifrig hin und her. Wir schwatzen und lachen während des Spielverlaufes, so daß es gar nicht den Anschein hat, als ob wir aufgrund der fortgeschrittenen Zeit unsere Zelte abbrechen wollen.

    Erst müssen elf wohltönende Glockenschläge der dunkelbraun gebeizten Standuhr durch das Zimmer hallen. Dann ist die Zeit gekommen. Heinz unterbricht das Spiel und erhebt sich:

    »Wenn ich auch der Jüngste unserer Gruppe bin, so schlage ich dennoch vor, jetzt mit der Spielerei Schluß zu machen. Alle von uns müssen morgen mit einem schweren Arbeitstag rechnen. Getan werden muß sie, schließlich beginnt in nur ein paar Tagen die Heuernte. Wie’s da aufgrund des unsicheren Wetters oft rund geht, nun, das wißt ihr genauso wie ich.«

    Ein hörbarer Seufzer entschlüpft mir, als ich an den folgenden Tag erinnert werde. Die Landwirtschaft mit all ihren Nebenzweigen findet so gar nicht meinen Beifall. Aber notgedrungen muß ich sie durchführen, hat uns doch Herr S., der Besitzer des Hofes, freies Obdach gewährt, als acht Tage vor Kriegsende unsere Wohnung und alle Nachbarhäuser im Verlauf eines Luftangriffes zerstört worden sind. Also verlangt es der Anstand, ganz nach dem Motto: »Für diese Leistung eine entsprechende Gegenleistung« zu handeln. Somit kann ich mich keinesfalls von der Heuernte dispensieren lassen.

    Heinz darf noch nicht sofort schlafen gehen. Er hat die Aufgabe, einen Rundgang im Hof zu unternehmen, um in den Ställen nach dem Rechten zu sehen und die schweren Tore zu schließen. Getreulich begleite ich ihn dabei jeden Abend – doch diesmal tritt das auferlegte Pflichtbewußtsein außer Kraft. Die Freundschaft verführt mich dazu.

    Bald umfängt uns die milde Sommernacht. Wie dicke Tropfen hängen die Sterne am Firmament und zeugen von der Unendlichkeit des Alls. Totenstille herrscht. Nur der Kies unter unseren Schuhsohlen macht eine rühmliche Ausnahme. Und das Geräusch des Knirschens ist der Anlaß, auf den der Hund sofort reagiert. Ein lautes und wütendes Bellen zerreißt die Nacht. Erst als Heinz mit beruhigendem Ton ruft: »Kusch dich!«, geht der scharfe Ton in ein freudiges Winzeln über. Und ohne Aufforderung kriecht das Tier in seine geräumige Hütte zurück.

    »Ein komischer Köter ist das«, kritisiere ich ihn. »Drei Wochen lebe ich nun schon hier auf dem Hof. Aber jedesmal, wenn ich in der Nähe seiner Hütte vorbeilaufe, springt das Vieh am Drahtzaun hoch, präsentiert mir sein Gebiß und tut so, als wolle er mich auf der Stelle zerfleischen. Ja, Menschenskind, über kurz oder lang muß er sich doch an mich gewöhnen.«

    »Stimmt schon, doch ist er nicht ein bißchen schlecht«, will Heinz mir erläutern. »Im Gegenteil. Ich habe selten so ein Tier gefunden, das einmal so anhänglich und andererseits auch noch so wachsam ist. Mit der Wesensart von Hunden beschäftige ich mich schon lange – jede Rasse wird dabei von mir beobachtet. Bei ihm ist es so: er ist früher viel geschlagen worden. Und dabei hat man ihn – so hab ich’s jedenfalls erfahren – oft mißhandelt. Kein Wunder, wenn er dadurch so mißtrauisch und bissig geworden ist. Er sieht praktisch in jedem Menschen seinen Feind, gegen den er sich wehren muß.«

    »Unter solchen Umständen kann man sein Verhalten schon begreifen. So muß ich eben noch lange Geduld aufbringen.«

    Inzwischen sind wir an dem einen Tor angelangt. Wie heranfliegende Granaten quietschen die Angeln, mit einem lauten Krach donnern die Torflügel zusammen. Aber das ist noch nicht alles! Der unnormal lange Schlüssel mit seinem verrosteten Bart knackt erst auffällig, dann herrscht wieder wohltuende Stille.

    »Weshalb hast du dich denn heute mit Herrn S. so gestritten?«, setzt Heinz die unterbrochene Unterhaltung fort.

    »Gestritten? Ach, so schlimm ist es auch wieder nicht gewesen.« Dabei vollführe ich eine wegwerfende Handbewegung. »Streiterei – ja, Heinz, wir hätten uns energisch in den Haaren haben können. Aber das wäre zu übertrieben gewesen. Ich war nur etwas ärgerlich, weil er so dämliche Bemerkungen gemacht hat, als ich heute Nachmittag in die Stadt wollte. Na, du kennst ihn ja in seiner spöttischen Art auch zur Genüge. Und gerade damit kann er mich fuchsteufelswild machen. Ein Glück für ihn, daß wir beim Kommis das Sich-Beherrschen gelernt haben. Sonst hätte er …«

    »Was hätte er denn, Günter?«, fragt Heinz neugierig dazwischen.

    »Ach, Freundchen, von mir aus keine Zähne mehr oder Darmverschlingung durch Druck von außen. Aber, lassen wir diesen Unsinn irgendwo schlummern. Ich hab’ nämlich noch was Besseres auf Lager. Gewiß könnte man meinen, der Erzähler wollte einen Witz, besser gesagt einen dürftigen Witz, reißen wollen. Nun, wie dem auch sei, interessieren wird es dich schon. Also, er hat mir aufgetischt ... der ... Russe ... soll bald ... kommen. Allerneuste Meldung, aber sicher mitten im Stadtklatsch zur Welt gekommen. Manche tun so was ja liebend gern.«

    »Was?«, Heinz bleibt wie angewurzelt stehen. »Was sagst du da? Der Russe soll kommen? Da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt?«

    Überwältigend erschrocken starrt Heinz mich an, als ob ihn eine Tarantel gestochen hätte oder die ersten Russenpanzer bereits vor dem Eichentor ständen.

    Ich packe ihn sofort bei den auf der Brust verschlungenen Armen und ziehe ihn mit mir fort:

    »Los, komm! Fall nicht vor Schreck tot um. Auch kannst du hier deswegen­ nicht übernachten. So, nun hör mal zu! Die Sache ist so: Erst dachte­ ich, der umherschleichende Mann, von dem diese Nachricht stammt, wollte mich in gemeiner Form verkohlen. Doch er ist beim Reden­ todernst geblieben. Dadurch wurde mir klar, daß das kein Witz sein soll. Aber trotzdem habe ich mich über ihn lustig gemacht und bin, als er mit seiner Hiobsbotschaft am Ende war, gar nicht mehr auf diesen Unsinn eingegangen.«

    Inzwischen haben wir, trotz anfänglichen Widerstands, den Pferdestall erreicht. Der bizarre Wechsel von der Dunkelheit zum aufflackernden Lampenlicht läßt die Pferde etwas aufschrecken, doch beruhigen sie sich bald. Heinz verabreicht seinem Lieblingspferd Olly noch einen Klaps aufs Hinterteil und hat wieder seine übliche Sprechweise übernommen.

    »Haste den Lästerprinz nicht mal gefragt, von wem diese furchterregende Botschaft stammen soll?«

    »Nee, nee, Heinz, so ’n Blödsinn will ich gar nicht wissen. Jeder vernünftige Mensch muß sich doch selbst sagen, daß der Ami nie den taktischen Fehler verzapfen wird, Thüringen zu räumen. Oder glaubst du etwa an solch einen dämlichen Mist, daß der Ami den Russen bis nahe an den Rhein ranläßt?«

    Heinz schüttelt kräftig und vielsagend seinen Kopf.

    »Na also, siehst du. Ich glaube es auch nicht im geringsten. So nun Schluß mit diesem Palaver! Nur kurz noch eine Bitte: Halte deinen Mund und sprich mit niemandem darüber. Sonst entfachen wir damit unter Umständen eine Palastrevolution, die besonders von den Weibspersonen inszeniert wird.«

    Nachdem das zweite Tor es in punkto Lärm seinem Doppelgänger nachgeahmt hat, gelangen wir endlich wieder in den Bereich der Villa.

    »Hab eigentlich noch kein Verlangen, jetzt schon in die Falle zu steigen«, fahre ich in unserer Unterhaltung fort. »Setzen wir uns noch ein bißchen vors Haus.«

    Kaum den Platz erobert, ziehe ich das Zigarettenetui hervor, öffne es und reiche es Heinz hin: »Hier, du Hundefreund! Als Tagesabschluß genehmigen wir uns noch eine Chesterfield.«

    Heinz schnappt sich eine, und bald glimmen beide Lungentorpedos.

    »Welchen Beruf willst ’n du mal ergreifen?«, frage ich Heinz.

    »Eventuell Diplomlandwirt. So hab ich’s mir jedenfalls vorgenommen. Aber, man weiß ja nicht, wie und was kommt.«

    »Da staunste Bauklötzer! Landwirtschaft also? Bereitet die dir denn so viel Spaß? Mich könnte sie nicht eine Sekunde begeistern. Ja, sie muß auch getan werden, aber nicht von mir.«

    »Diese Einstellung nehme ich dir nicht übel«, meint Heinz.«Ich dagegen begreife einfach nicht, wie jemand Berufsoffizier werden will. Jeden Tag auf dem Kasernenhof – nee, nee. Das würde ich mir nie aufhalsen. Mir haben die vierzehn Tage bei der Wehrmacht schon gereicht.«

    Ich blick zum Firmament und schmunzele spitzbübisch:

    »Du gibst kontra, also müßte jetzt von mir ein Re in die Welt gesetzt werden. Aber weswegen Streit über etwas, worüber jeder anders denkt. Reine Geschmackssache! Stell dir vor, wir alle würden den gleichen Beruf wählen, so ’n Tohuwabohu wäre niemals zu beseitigen. Ja, Heinz, auch etliche können nicht fassen, daß ich, nachdem’s mit meiner ergriffenen Offizierslaufbahn schief gegangen ist, Lehrer werden will. Immer und immer muß ich mir die abfällige Bemerkung anhören: ›Was? Sie wollen sich mit anderer Leute Kinder herumärgern. Was geht Sie deren Entwicklung an?‹ Jeder Versuch, sie zur Vernunft zu bringen, geht immer schief. Doch, Heinz, es ist eben so, wie ich vorhin schon sagte: alles ist Geschmacksache.« Mein Gesprächspartner ist überaus erstaunt:

    »Ach, Lehrer willst du werden? Ist mir allerdings ganz neu. Wenn ich so nachdenke, du, so finde ich diesen Beruf, im Gegensatz zu den ewig Meckernden, nicht mal so verkehrt. Natürlich muß, nein, soll man sich dazu berufen fühlen. Beim Landwirt ist’s doch ebenso. Hat er kein Verständnis für Tiere und Landarbeit – nun, da soll er’s lieber sein lassen.«

    Allmählich verflacht unser Gespräch mehr und mehr. Fort mit der Zigarettenkippe. Sie huscht wie ein Minikomet durch die Nacht, und wir huschen ebenso weg, doch nicht in den Garten, sondern ins Bett.

    Ein Gerücht wird Wahrheit

    14 Tage schleichen dahin. Sie sind wie immer vollgestopft mit den verschiedensten Arbeiten auf Feldern und Wiesen. Bald wird es allen zur Gewißheit, was wir anfangs noch so stark bezweifelt haben: Der Russe kommt nach Thüringen!

    Die Bevölkerung leidet stark unter diesem sich anbahnenden Verhängnis. Auch wir auf dem Hof sind reinweg kopflos. Wir suchen deshalb Unterstützung bei den amerikanischen Soldaten, die in einem großräumigen Schuppen eine Kfz-Werkstatt eingerichtet haben. Doch alle Fragen beantworten sie mit Schulterzucken und dem Satz: »I don’t know it.«

    Was sollten sie uns auch sonst für einen Trost spendieren können? Ihre eigentlichen Gedanken weilen bei ihren Angehörigen in den USA. Ihre Worte: »Russian soldiers are friendly, too. But you can go with us to America, too.«, sind lediglich Trostworte der Verlegenheit, vor allem deswegen, weil sie ziemlich paradox sind. Ja, wir würden gern mitziehen, wenn auch nicht gleich mit in den Vereinigten Staaten sondern nach Westdeutschland. Doch so einfach ist das auch wieder nicht, wenngleich mancher aus meinem Bekannten- und Freundeskreis dem Wunsch gleich die Tat folgen lassen möchte.

    Zwei Tage des Überlegens und Grübelns rollen dahin. Als ich mir eines Morgens den Schlaf aus den Augen reibe und die Sonne nach vielen Tagen wieder einmal verlockend vom strahlendblauen Himmel lacht, ist es draußen ganz ungewöhnlich still. Ich lausche, aber nichts tut sich. Mit einem Satz springe ich ans Fenster meines Dachstübchens. Der Blick in den Schuppen sagt mir alles. Das Nest ist leer. Die gesamte Brut ist ausgeflogen, wie vom Erdboden verschluckt. Und die vielen, die sich alle möglichen Mitgehpläne ausgedacht haben, müssen artig und brav zu Hause bleiben. Wer konnte schon so schnell schalten!

    Eilig springe ich vom Fenster weg und in die bereit liegenden Klamotten. Im gleichen Tempo geht’s die Treppen hinunter. Wirklich, ich habe mich nicht getäuscht. Alles ist leer! Nicht ein Schräubchen, nicht ein Stückchen Blech oder ein verbogener Nagel treibt sich herum. Nur ein daumenstarkes elektrisches Kabel hängt verlassen an einem rostigen Haken. Etwas deprimiert schlendere ich wieder ins Haus, muß ich doch auch einen im Entstehen begriffenen Plan zu Grabe tragen.

    Ein schweres Tagewerk liegt hinter uns: Die Wintergerste ist gemäht worden. Trotzdem geht jeder nach dem Abendessen noch seiner liebsten Freizeitbeschäftigung nach.

    Ich sitze im Büro des Gutes, das sich gleich neben dem Wohnzimmer befindet, und tippe auf der Maschine an einer Reiseerzählung. Heute fleckt es gar nicht wie sonst. Bald vertippe ich mich, bald verrutschen die Zeilen, und zu allem Unglück zerreißt auch noch das Farbband. Nun hocke ich da und überlege, wie ich diese Panne Herrn S. beichten soll. Hoch und heilig habe ich ihm ja versprochen, die Maschine keinesfalls ins Jenseits zu befördern. Sie ist zwar durch den Bandriß noch nicht dort gelandet, aber er betrachtet das, was der so wertvollen Maschine widerfahren ist, gewiss als eine Art von Hinrichtung. Um dem gleichen Schicksal aus dem Weg zu gehen, beschließe ich, mich deswegen zunächst an seine Tochter zu wenden. Sie hat ja den Posten der Sekretärin inne, ferner ist sie beileibe nicht so überaus pedantisch wie ihr Vater.

    Plötzlich klingelt es.

    Eine Alltäglichkeit. Schnell nehme ich meinen Platz, den ich eben verlassen wollte, wieder ein. Nun kann ich den Moment der Selbstanklage etwas hinausschieben. Schon nach wenigen Sekunden poltert jemand die Treppe herauf. Ehe ich zur Besinnung komme, reißt jemand die Türe ganz erregt auf, herein stürzt meine jüngste Schwester Elfriede und schreit ungehemmt in den Raum:

    »Du, die Russen sind da!«

    Wie von einer Tarantel gestochen schnelle ich empor:

    »Wo denn? Es scheint ja überaus gefährlich zu sein.«

    »Unten vor der Türe – zwei Soldaten … ihre Gewehre hängen diagonal über den Rücken ... nein ... so was Häßliches, diese Gesichter.«

    Elfriede schüttelt sich wie eine Fieberkranke.

    »Und wie frech die sind! Ich wollte die Türe gleich wieder zuschlagen. Aber die, die legten ein Tempo vor. Im Nu waren sie im Hausflur. Ooch, und was die für furchtbares Zeug zusammenschnattern. Ein paar Worte hab ich nur kapierte wie zum Beispiel: ›Scheenes Frrreilein, hab’n Eierr, Speeeck, Schnapsss?‹ Komm doch schnell mal runter. Vati und Herr S. sind nicht da. Du bist ja zur Zeit der einzige Mann!«

    Und damit ist sie wie ein geölter Blitz wieder zur Tür hinaus.

    Ich wende das gleiche Verfahren an und finde die russischen Landser bereits in der Küche. Als ich auftauche, verschwindet eben eine ansehnliche­ Portion Eier im Brotbeutel. Dafür zittert Frau S. wie Espenlaub. Nun wird sie von einem der Eindringlinge angeschnauzt:

    »Nu, Frrrau, wo sein Spääck, wo sein Schnapsss? Wenn nicht das sofort gäbe, du werden errschossn. Verstehn du Weib mich?«

    Natürlich muß er seine Worte bekräftigen. Also schlägt er wie toll auf den Lauf seiner Maschinenpistole. Und dabei entstellt er sein Gesicht noch mehr durch eine wüste Fratzenschneiderei.

    Uns läuft es eiskalt den Rücken hinunter. Sein Komplize mit den vielen Pockennarben ist inzwischen weiter schnüffeln gegangen. Und mit der feinen Nase eines routinierten Plünderers hat er die Türe zur Vorratskammer gar bald ausfindig gemacht.

    »Frrrau!«, schallt plötzlich die Stimme des Suchers dröhnend durch den gewölbeartigen Gang. »Nu, wass hirrr? Dawai machennn auff! Wo kljutsch?« Und seine Hände imitieren dabei das Öffnen einer Tür durch das Umdrehen des Schlüssels.

    Die Frau des Besitzers zittert, als sie den Schlüssel herbeibringt. Krampfhaft müht sie sich, das dafür vorhandene Loch zu treffen. Meine Mutter versucht ebenso erregt, dem Plünderer zu beteuern, daß die gewünschten Sachen nicht vorhanden sind:

    »Wir haben keinen Schnaps und auch keinen Speck. Glauben Sie es doch endlich!«

    Alles Flehen vergeblich. Die beiden Iwans verharren auf der Erfüllung ihrer Wünsche und brüllen drohend:

    »Wirrr Spääck und Schnaaps! Hirr sein Spääck und Schnaaps. Wirr werdn findn. Irr können nixs verstecknn.«

    Wie zwei gierige Raubtiere wühlen die beiden Rotarmisten nun in den eingeweckten Vorräten. Da, plötzlich triumphiert der eine, indem er uns eine Flasche unter die Nase hält. Wieder die Fratze mit höhnischem Grinsen: »Aaaah! Daßs Schnaaps. Ich alles finden, das hirr und noch viiiel mehrr.«

    Wie ein Teufel sieht er aus, die Pockenspuren sind reineweg harmlos dagegen.

    Frau Schulz wagt einzuwenden, daß diese Flasche nicht mit Schnaps gefüllt sei:

    »Das hier ist Wein.« Mehrmals betont sie die Inhaltsangabe:« Du mußt verstehen, das ist Wein.« Um noch deutlicher zu werden, tippt sie auf die angeklebten Etikette, auf denen einige Weintrauben abgebildet sind.

    »Nuuun, was sein? Aaah, ich versteeh’n. Ja, Posmotretj!«

    Damit reißt er den Korken mit Gewalt heraus, nimmt einen Probeschluck und spuckt den holden Traubbnsaft im hohen Bogen über die nebendran stehenden Einweckgläser:

    »Ooooh, nix guttt! Nix Schnaapsss!«

    In Anbetracht dieses Spuckmanövers wagen wir ganz schüchtern zu lächeln. Hoffentlich entdecken sie es nicht, denn das könnte sie noch weiter reizen und zur Weißglut bringen.

    Zum Glück treffen die beiden so herbeigesehnten Männer ein. Den Plünderern scheint die so plötzlich aufgetauchte Verstärkung gar nicht zu gefallen. Nach gegenseitigem Zurufen räumen sie schließlich das Feld und verzichten auf den so geliebten Schnaps. Doch so schnell dampfen sie auch nicht davon. Sie nehmen eine Positur ein, die uns verschüchtern soll: breitbeinig und die Hände bis zu den Ellenbogen in den Hosentaschen. So unterbrechen sie ihren Rückzug und beginnen in drohender Form zu lamentieren:

    »Saftra wirr wiederkommen, saftra wirr Schnaaps finden. Und wenn njet, dann ihrr alle tott!«

    Um noch deutlicher zu werden, erhebt der Sprecher seine drohende Faust, die er mit ausgestrecktem Zeigefinger hin- und herschwenkt – eine typische Bewegung für die Russen, wenn sie sich Respekt und Achtung verschaffen wollen. Danach schlürfen die beiden Schnapssucher lässig durch die Flurtür und haben bald den weiträumigen Hof erreicht.

    Von einer bestimmten Ahnung getrieben, beobachte ich die beiden Soldaten und lasse sie nicht aus den Augen. Endlich verschwinden sie hinter der hohen Steinmauer, die die Jauchengrube umfaßt.

    War das nun ein letzter Gruß? Ich verharre an der Türe noch eine Weile­ – eigentlich müßten sie schon auf der anderen Seite erschienen und hinter dem großen Tor wieder verschwunden sein.

    Nein, nichts von alledem! Sie tauchen wieder auf. Da sollte doch ein Blitz dazwischenfunken! Schnell informiere ich alle Anwesenden, die sich noch im Hausinneren befinden, doch nunmehr schleunigst an der Oberfläche erscheinen.

    Und die Iwans? Haben die vielleicht gezaubert? Neben ihnen tändelt eine Frau einher und zeigt ganz deutlich mit einem Finger auf uns. Die Soldaten scheinen überaus berauscht von dem weiblichen Wesen zu sein. Würden sie sonst so strahlen? Frau S. dagegen inszeniert sofort eine Jammerarie:

    »Ach, du lieber Gott! Nun müssen wir uns auf etwas gefaßt machen! Dieses elende Weib hat doch den Strolchen verraten, wo unsere Speckvorräte lagern und zu finden sind.«

    Wer ist dieses »elende Weib«, wie sie Frau S. eben betitelt hat? Soweit ich mich erinnern kann, habe ich sie noch nie gesehen. Die Iwans können sie doch nicht mitgebracht haben? Sofort erfahre ich, um wen es sich handelt, denn meine Mutter beginnt in zorniger Form zu schimpfen:

    »Es ist mir immer noch völlig unbegreiflich, weshalb diese Polin immer noch hier arbeitet. Die anderen sind doch längst über alle Berge.«

    »Sie sollte auch schon längst verschwinden«, entgegnet Herr S. »Vielleicht geht es ihr hier besser als daheim oder sie hat sich durch irgendeine Liebschaft an unsere Stadt gekettet, denn jedes Mal, wenn sie fortgebracht werden soll, weigert sie sich ganz entschieden. Und was die sich für Frechheiten erlaubt, das kann man sich als Fremder gar nicht ausmalen!«

    Das Unheil in Form von zwei Rotarmisten und einer aufsässigen Begleiterin naht zügig und verkündet etwas Unheilvolles. Schon von weitem brüllt einer von ihnen:

    »Du Spääck! Wirr wissen, wo sein Spääck!«

    Und wie von einem Magnet gezogen, steuern sie auf das Schlachthaus zu, da die Polin für die Russen wirklich brauchbare Arbeit und ebensolchen Verrat geleistet hat. Und was geschieht? Sie rütteln so irrsinnig an der Schlachthaustüre, daß die Übeltäter sie beinahe aus den Angeln heben. Doch der ersehnte Zusammenbruch tritt nicht ein.

    Dafür reißt sich einer von ihnen, ein Lausbub von nicht mehr als 18 Jahren, die Flinte von der Schulter, legt sie auf uns an und brüllt in höchster Lautstärke:

    »Dawai – aufmachn! Dawai büßtriij! Ich sonst schießn!«

    Die beiden Frauen scheinen gelähmt zu sein, Herr S. wird bleich wie eine Kalkwand, mein Herz bubbert hin bis um Hals.

    Eine überaus gräßliche Situation.

    Der Bursche zielt weiterhin und schreit:

    »Nu, ich sag’n bis dreii. Wenn dann njet, ich schießn. Einsss!«

    Kurze Pause.

    Herr Schulz scheint zur Salzsäule erstarrt.

    »Zwaaa!«

    Leben kommt in seine faltigen Züge.

    »Otto!«, schrill hallt der Schrei seiner Frau über den Hof.

    Schweren Herzens zieht der Besitzer den Schlüsselbund aus der Tasche und öffnet – ganz grau im Gesicht – zögernd die Schlachthaustüre. Der russische Spund feuert ihn ohne Unterlaß mit seinen Dawai-Rufen an und steigert somit die vorhandene Nervosität noch entschieden.

    Die Plünderer verwandeln sich scheinbar in Aasgeier. So fallen sie jedenfalls über die Beute her. Sieben oder acht lange Würste werden in ihre Rock- oder Hosentaschen geschoben, sechs umfangreiche Speckseiten von je zwei Kilogramm verfrachten sie in dafür mit herbeigeschleppte Beutel.

    Hartnäckig will Frau S. um ihren Vorrat kämpfen:

    »Du nicht nehmen!«, ruft sie energisch und ahmt dabei die russische Sprechweise nach. »Hier viele Leute – alle sind hungrig. Haben nun alle nichts mehr zu essen. Du«, sie zeigt auf die Soldaten, »kannst alles kaufen in Laden. Wir können nicht.«

    Ironisch wie ein Komiker feixt er:

    »Ich nix kaufn – ich alles so nehmen. Ihr kuschatj kartoschkij und chleb – ich mein Brrot. Ich kuschatj Späääck und trin... trrinken Schnaaps!«

    »Du bist ein Dieb!«, faucht Frau S. zurück und glaubt, mit diesem Einschüchterungsmanöver den Russen wenigstens einen Teil der Beute wieder streitig machen zu können. Doch fällt sie einem Fehlschluß zum Opfer. Was sie erhält, ist verteufelt unangenehm: nämlich einen Stoß mit dem Gewehrkolben, so daß sie erschrocken zur Seite taumelt.

    Ohne weitere Kommentare laden sich die Russen die Speckpakete auf den Buckel, schneiden zufriedene Fratzen und der Deutschsprecher murmelt mit erhobenem Kopf:

    »Wirr heute fort. Saftra ... morrgn wirr komm’n wiederr. Dann wir holen alles, was habt versteckt: Schnaaps, Butter, Eier, Milch – ach, einfach allesss. Heute bald dunkl – wirr cheim. Saftra wirr bald da – dann wirr vielll Zeit.«

    Die Faust zuckt in die Höhe, der Zeigefinger schwankt in der Luft herum, dann eilt der Sprecher dem vorausgegangenen Genossen nach. Wenige Sekunden später sind die Landpiraten mit ihrer schnöseligen Polin unseren Blicken entschwunden. Unsere Nerven entkrampfen sich und lassen den berüchtigten Stein vom Herzen auf den Boden fallen. Über die Wangen der Frauen rollen etliche Tränen, Herr S. schüttelt resigniert seinen Kopf, alle denken nach und finden es unbegreiflich, daß Menschen, ohne bestraft zu werden, Vorräte in Hülle und Fülle rauben dürfen.

    Kurze Zeit später wird der Abendbrottisch gedeckt – doch wem schmeckt es überhaupt. Ähnlich dem Schwert des Damokles schwebt über uns die Drohung des erneuten Erscheinens der beiden Speckjäger. Viel früher als sonst drehen Heinz und ich unsere Hofrunde und verrammeln die Tore so, daß kein weiterer Vagabund uns belästigen kann. Außer den üblichen Riegeln befestigen wir noch daumenstarke Seile so stramm, daß selbst ein Schwerathlet nichts ausrichten könnte.

    Wie allabendlich verbringen wir noch ein Viertelstündchen auf der Holzbank vor der Villa. Nur das Gespräch sickert ganz langsam dahin.

    Nach längerer Sendepause verfluche ich indirekt die vergangenen Stunden­:

    »Hätte heut ein wesentlich gemütlicherer Abend werden sollen. Aber wenn man solchen Krampf erlebt, na, dann …«

    »Was ist denn jetzt schon wieder geschehen?«, unterbricht mich Heinz. Nach kurzer Überlegung meint er: »Ach so, du denkst an die Piraten. Und wohl auch noch an den kühl gestellten Wein, den wir neulich in einem Kellerversteck gefunden haben und den wir heute genießen wollten. Ist’s das?«

    »Eben, hast richtig gedacht. Na, und heute doch noch bechern – nein darauf verzichte ich herzlich gern. Bei so ’ner Stimmung kommt doch nichts Gescheites dabei raus. Nur gut, daß ihn nicht die Ivans gesoffen haben.«

    »Die? Och, der billige Obstwein interessiert die doch nicht. Der hat ja so wenig Prozente.«

    Wieder Pause. Doch plötzlich zuckt Heinz in die Höhe, was so aussieht, als ob er eine blendende Idee hätte. Einen Moment überlegt er noch, dann aber sprudelt er los:

    »Glänzend, daß wir das Zeug heute in Ruhe gelassen haben. Stell dir vor: ich hab in ein paar Wochen Geburtstag. Na, und dafür können wir das Getränk prächtig verwenden, sogar im Beisein von hübschen Mädchen. Gib nur dazu deine Zustimmung.«

    »Freu dich nicht zu bald, kennst ja die Verfügungen der Besatzungstruppen. Von 23 bis 5 Uhr herrscht Sperrstunde, das heißt also totales Ausgehverbot. Und sollen wir unser geplantes Allotria gerade im Verlauf der besten Stimmung abbrechen? Das wäre doch fauler Plunder, Heinz.«

    »Ja, ja, ich kenne diese Befehle, doch sollen wir deshalb auf jegliches Vergnügen verzichten? Und ein solches, hinter das nach etwa zwei Stunden­ der endgültige Schlußstrich gesetzt werden muß. Nein, das lohnt sich absolut nicht. Doch müßten wir eine wirklich geistreiche Idee haben, die uns von solchen Uhrzeitbeachtungen entbindet. Nur welche paßte dazu?«

    Erneut herrscht absolute Stille, jeder grübelt und überlegt:

    »Du, Heinz, Menschenskind, ich glaub, ich hab da etwas gefunden!«, jauchze ich plötzlich auf. »Wenn das nicht hinhaut, na, dann können wir jegliches Planen unterlassen, da wir doch nur irgendwelche Irrwege entlangschlingern.«

    »Mensch, das kam ja wie aus der Kanone geschossen. Und welche Pläne geistern in dir umher?«

    »Kurz gesagt, ist das der Anfang, doch langatmig wird es zum Schluß, weil alles nicht von uns allein abhängt. Wir müssen jemanden einladen, der unserer Gesellschaft ein Nachtquartier zur Verfügung stellen könnte. Ich kenne da niemanden, aber vielleicht weiß meine Schwester eine Lösung, denn sie hat genügend Freundinnen in der Stadt. Also müssen wir wohl an diesem Strick ziehen, wenn etwas zustandekommen soll.«

    Heinz klopft mir aus Begeisterung derb auf den einen Oberschenkel und demonstriert damit, daß er an meinem Vorschlag Gefallen findet.

    »Ja, das ist wahrlich die brauchbarste Möglichkeit, denn der Geburtstag soll nicht vollkommen ins Wasser fallen. Natürlich soll es keine Paradefeier werden. Aber wir wollen wenigstens mal von Herzen froh sein. Und das …«

    »Sicher … und das bringt besonders der Wein fertig«, springe ich mit Worten dazwischen. »Da wird der dämliche Alltag mal ganz weit weg transportiert. Dafür schleifen wir mit süßen Worten nette junge Damen herbei. Und zu allem müssen wir eben die Hilfeleistung anderer in Anspruch nehmen.«

    »Stimmt auffallend genau, aber sie lohnt sich ganz gewiß. Ich wollte, dieser Abend wäre schon morgen, Da brauchten wir nicht mehr so lange zu warten. Auch wüßten wir mit Sicherheit, ob uns dieser lustige Abend gelingt. Peile nur wenigstens morgen schon deine Schwester an und bitte sie um schnelles Handeln.«

    »Wird schon gelingen – nur Geduld. So, das hätten wir soweit geschafft. Dazu ausnahmsweise mal wieder eine wirkliche Ami-Zigarette. Rauch sie aber nicht so schnell wie ein Kettenraucher oder gar eine Lokomotive. Genießen sollst du sie, weil es von dieser Sorte bald keine mehr geben wird.«

    Erfreut schnappt sich Heinz eine aus meinem Etui und klemmt sie sich in den Mund:

    »Daß wir in Zukunft auf die verzichten müssen, ist wirklich ein Jammer. Weiß der Teufel, wie dem Iwan seine Glimmstengel schmecken. Sicher sind die viel herber im Geschmack.«

    Was soll ich darauf wohl erwidern? Habe doch noch nie mit russischen Zigaretten etwas zu tun gehabt.

    »Keine Ahnung, welche Geschmacksrichtung sie besitzen. Habe mal was von Machorka gehört. Aber das kann ja auch eventuell eine Medizin sein. Na, und wenn eben alle Geschmacksstränge reißen, ja dann bleibt uns nichts weiter übrig ….«

    »Auf das ich gar zu gern verzichten kann, denn wir müssen wohl oder übel alle möglichen Blätter als Ersatz nehmen. Das wolltest du doch mitteilen oder ankündigen?«

    »Stimmt, du Ratebursche, rauchen wir in Zukunft eben Grashalme oder Stachelbeerblätter in getrockneter Form. Freust du dich nicht jetzt schon drauf?«

    Am nächsten Morgen dauert es lange, bis der erforderliche Arbeitseifer erwacht ist. Kein Wunder! Alle warten äußerst gespannt auf die beiden Rotarmisten von gestern Abend. Sicher werden sie ihr drohendes Versprechen einhalten, da sie ja direkt von der Speck- und Schnapsgier befallen sind. Herr S. überquert öfter als notwendig und ganz aufgeregt den Hof – seine Arbeitsanleitungen sind auch dementsprechend. Keiner weiß mit dem fabrizierten Durcheinander etwas anzufangen. Lediglich die allgemeine Nervosität wird unermeßlich gesteigert.

    Dazu trägt noch bei, daß einige Frauen aus Nachbardörfern nicht am Arbeitsplatz aufgetaucht sind und daß andere ebenfalls von herumstreunenden Russen gesprochen haben, wie wir sie gestern erleben durften.

    Die Uhrzeiger wandern langsam auf die Mittagszeit zu. Als ich das von Herrn S. aufgebrummte Arbeitspensum erledigt habe, schlendere ich urgemütlich über den Hof. Hoffentlich verpaßt er mir nicht noch eine Sondertätigkeit. Weit bin ich noch nicht gekommen, da schieben sich – ich traue meinen Augen kaum – zwei erdfarbene Uniformen – mehr Erde als Farbe – mit bis zur Nasenwurzel heruntergezogenen Käppis durch das weit geöffnete Hoftor. Dabei schlürfen sie mit ihren eisenstrotzenden Stiefeln dermaßen hart über den Kies und den Sand, daß Dreckschwaden wie dicke Wolken davonziehen. Die Villa bestimmt ihre Richtung. Unsere beiden Bekannten von gestern. Sie haben streng und zeitgerecht das eingehalten, was sie vor knapp zwanzig Stunden angekündigt haben.

    Ihr Erscheinen veranlaßt mich, sofort zu stoppen. Verdammt! Was tun? Könnte ein Ablenkungsmanöver ratsam sein, währenddessen man alle Riegel zum Hausflur dicht macht? Schnell verwerfe ich derartige Gedanken, da dadurch die Lage und die Situation nur noch komplizierter würde. Also versuche ich mein aufgekommenes Mißtrauen zu vertuschen und tue so, als kümmere ich mich kein bißchen um diese Rabauken.

    Kaum so weit gedacht, haben sie aber auch schon den angepeilten Punkt erreicht und klettern hemmungslos die kurze Treppe hinunter. Ihre Nagelstiefel verursachen dabei einen höllischen Lärm auf den harten Granitstufen. Kaum sind die uniformierten Landstreicher im Dunkeln verschwunden, ertönt von drinnen Stimmengewirr: Das auftrumpfende Geplärre der raffgierigen Soldaten übertönt das hilflose Jammern der beiden Frauen. Was können diese beiden weiblichen Wesen auch gegen solche schwerbewaffneten Henker ausrichten!

    Zu meinem Erstaunen tauchen die Rotarmisten schon nach wenigen Minuten wieder auf der Bildfläche auf. In der Hand trägt der Pockennarbige eine Einkaufstasche, die voll bepackt ist mit Butter, Speck und Eiern.

    Plötzliches Motorengeknatter. Unsere beiden Eindringlinge spitzen ihre Ohren. Da trifft Herr S. auch schon, von einer Inspektionsfahrt zurückkehrend, mit seinem Sachsmotorrad auf dem Hof ein. Noch einmal drückt er auf den Gashebel, dann erstirbt jegliches Motorengeräusch, und die Maschine steht still.

    Das wirkt wie ein Magnet auf die Steppensöhne. Wie der Blitz sind sie zur Stelle.

    »Ich fahrren, ich fahrren karoschij, du mirr geben Maschine!«

    Und ohne die Erlaubnis abzuwarten, sitzt einer schon im Sattel. Seine Haltung hinterläßt nicht den Eindruck, als ob dies schon öfter der Fall gewesen sei. Wir tippen eher auf einen blutjungen Anfänger.

    Der Motor heult auf. Schnell drückt der Fahrer irgendwelche Hebel. Und schon schießt er wie ein geölter Blitz über den Hof. Sein Begleiter steht wie versteinert da und kann sich vorerst nicht ein bißchen bewegen. Der Schreck steckt ihm in den Gliedern. Doch dann aber gleitet ein Lächeln über sein Gesicht, wie man es bei Kindern beobachtet, die ein Spielzeug zum ersten Mal ausprobieren und seine Geheimnisse noch nicht kennen. Die Tasche mit dem Raubgut lehnt indessen verlassen an der Scheunenwand­.

    Was wir nunmehr zu sehen bekommen, übertrifft fast alles, was ich an Fahrkunst je beobachtet habe, obwohl hier eigentlich nicht die Kunst ein mächtiges Wort spricht, sondern lediglich Leichtsinn und Unkenntnis der lauernden Gefahren. Wie ein Rennfahrer hockt der Russe auf dem Vehikel und rast aus reiner Begeisterung mit Höchstgeschwindigkeit über den Hof. Enten und Hühner fliehen im Eiltempo schnatternd und gackernd in alle Winkel. Achtung! Kurve! Zum Teufel noch mal! Nie hätte ein routinierter Fahrer sie in diesem verwegenen Tempo nehmen können. Kies und Staub wirbelt verschieden schnell empor. Au! Haarscharf ist der Tollkühne an der Steinmauer des Misthaufens vorbeigerast. Ausgetrocknete Fladen fliegen hoch in die Luft und fallen klatschend in die Jauchenbrühe zurück.

    Schon wieder eine Spitzkurve! Die Fahrerstiefel schleifen auf dem Boden, die Reifen rutschen gewaltig, so daß Steine und Dreck gegen ein Scheunentor prasseln. Wie ein knatterndes Maschinengewehr klingt es. Der russische Mitläufer, nunmehr völlig aus dem Dämmerzustand erwacht, springt vor Begeisterung wie von einer Sprungfeder angetrieben in die Höhe. Schließlich erlebt er so etwas nicht alle Tage. Und der umherrennende Wüstling? Hat der kurz vor dem Selbstmord stehende noch nicht die Nase voll? Mag sein, daß er die flitzende Maschine nicht mehr stoppen kann, da er den dafür anmontierten Griff nicht findet.

    Und nun? Jetzt schießt er ohne Rücksicht auf Verluste mit unverminderter Geschwindigkeit wie eine Rakete durchs Hoftor, gelangt auf die Straße und jagt zum gegenüberliegenden wieder herein. Scheinbar fühlt er sich wie auf einem Kinderspielplatz, würde er sonst schon wieder so eine rasante­ Schleife drehen? Verflixt! Was ist das? Hat er sein Ende erreicht? Aber nein, er hat Glück gehabt und seine Maschine aus der Schräglage befreit­. Die hätte sein Tod bedeuten können. Das Hinterrad ist weggerutscht und hat eine dunkle Bahn auf dem trockenen Boden hinterlassen. Wahrlich eine meisterhafte Leistung für einen, der sicher noch nie auf so einer Maschine gesessen hat. Inzwischen ist er schon wieder unseren Blicken entschwunden und vom Geknatter vernimmt man plötzlich gar nichts mehr. Also auf und davon. Herr S. wird wohl seinen fahrbaren Untersatz nie wiedersehen und ihn aus dem Inventarverzeichnis streichen müssen.

    Langanhaltende Totenstille, im Inneren der Zuschauer dagegen zittern die Nerven und erzeugen Spannung. Wird er doch wieder zurückgerast kommen? Herr S. spielt nervös mit seinen Fingern, streicht aufgeregt über seine Glatze und schnauzt schließlich aus reiner Verzweiflung den anderen Russen an:

    »Nun, wo dein Kamerad hin? Ich brauche diese Maschine, sie ist wichtig für meine Arbeit!«

    Schweigend zuckt der so angesprochene Iwan mit den Schultern. Was interessieren ihn die Sorgen der bösen Deutschen!

    Da, jetzt hört man den Ausreißer wieder, wenn auch noch ganz leise. Aber bald kommt er wie der Teufel den Gutsweg entlang geprescht und stoppt, als er den Hof erreicht hat, die Maschine einwandfrei. Ausgelassen wie ein Lausbub hüpft er aus dem Sattel und jubelt:

    »Du mirr geb’n Maschine, ich dirr geb’n djängij. Du viel Stoff für schöne Kleid, du nix Maschine, du idiosch, du sein jung tschellawjek.«

    Jetzt packe ich die Gelegenheit beim Schopf und mische mich ein in dieses deutsch-russische Geplauder mit schattigem Hintergrund:

    »Du fort – dawai – sehr schnell! Nie wieder kommen, sonst hole ich einen russischen Offizier. Euch ist Diebstahl verboten!«

    »Du hol’n Offizärr?«, feixt er und blickt majestätisch zu uns.

    »Nu’ du hol’n. Offizärr sag’n, ich nehm Maschine. Maschine karoschij für sawjätskij tschellawjäk. Nje karoschij für njämez. Ich brauch Maschine – njämez kann laufen. Nu, äto karoschij.«

    Während seines Fremdsprachengemischs hat der »kühne« Rennfahrer wieder etwas erspäht. Ein gelbes Schild hat es ihm angetan, auf dem steht, daß das Rauchen und der Gebrauch von offenem Feuer verboten ist.

    Da er solche Schilder anscheinend kennt und ahnt, wo sie lediglich aufzufinden sind, jagt er mit seinem Kumpel dorthin – ans Garagentor. Rein magnetisch muß es auf beide gewirkt haben. Dafür bleibt das Motorrad unbeachtet liegen. Ein Auto ist wesentlich interessanter und brauchbarer. Ohne zu zögern, schlägt einer von ihnen auf den Torgriff. Eigentlich hätte er zu sein müssen, aber die Banditen haben einen Mordsdusel: das Tor ist unverschlossen. Also hinein und der Kunstfahrer schreit vor Begeisterung wie ein Wahnsinniger:

    »Auto ist da. Los ich fahren!«

    Uns haben beiden scheinbar vergessen, unterstützt werden sie jetzt noch von dem, was auf sie zukommt. Leider ist das Fahrzeug ein Gebrauchtwagen­. Aber trotzdem reißt der Gierige die Fahrzeugtüre auf und findet darin auch noch den notwendigen Schlüssel. Mit einem Satz springt er hinein und quasselt noch mit seinem Gefährten. Scheinbar kennt er die Bedeutung dieses Schlüssels nicht. Er fingert dran herum, eine leichte Drehung ist möglich. Und da brennt auch gleich ein rotes Lämpchen. Beide scheinen davon entzückt, da sie sich gegenseitig anlächeln­. Aber wie nun weiter? Also Schlüssel wieder rum, Lämpchen aus. Drehung zur anderen Seite, das Lämpchen brennt wieder. Vielleicht kann man noch weiter drehen. Er versucht es und vernimmt ein kurzes Knattern. Das geht ein paar Mal so. Ach, vielleicht muß man unten auf einen der Hebel treten. Also drauf. Nichts geschieht. Der draußen stehende Kumpel redet. Nun vollführt der Rennfahrer beides gleichzeitig: unten drauf und Schlüssel drehen. Und schon hat er sein Ziel erreicht, denn nunmehr beginnt ein Schauspiel, das jeden Autofahrer zur Weißglut gereizt hätte. Der Motor springt tatsächlich an und heult übermäßig laut auf.

    Fast klingt es wie ein gequältes Tier. Der Russe jongliert mit den Pedalen umher. Bald verwendet er das Gaspedal, dann die Fußbremse und letztlich noch die Kupplung. Selten gelingt ihm ein brauchbarer Einsatz. Meist treffen zwei aufeinander, die eigentlich nie zusammen passen.

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1