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Glückskind: Band IV - Wandern-
Glückskind: Band IV - Wandern-
Glückskind: Band IV - Wandern-
eBook570 Seiten8 Stunden

Glückskind: Band IV - Wandern-

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Über dieses E-Book

Im Band I - WERDEN – stehen die dramatischen Ereignisse, die Evi's Vorfahren im Russland des 19. Jahrhunderts zu bestehen hatten, im Mittelpunkt. Wir werden ebenfalls Zeuge des gemeinsamen Lebens, das Evis Vater Wassili, später Willi genannt, und ihre Mutter Lotte sich im Berlin der 20er Jahre aufbauen.

Im Band II - WACHSEN – erleben wir Evis frühe Kindheit im anhaltinischen Dorf Burgstädt mit. Der Krieg ist vorbei und die Russen sind da. Willi ist der Einzige im Dorf, der Russisch sprechen kann. Für die Familie beginnt ein auskömmliches Neubauernleben, bei dem die Verwandten, die in Berlin Hunger leiden, gern gesehene Gäste sind.

Im Band III – WANDELN – steht für Evi ein großer Umschwung bevor. Sie und ihre Mama müssen den ganzen Bauernhof allein führen, denn Papa liegt im Krankenhaus. Für Evi steht die Konfirmation bevor, aber sie ist ein überzeugter junger Pionier. Dann nimmt die Partei der Familie auch noch das Haus weg, um dort ein FDJ-Heim einzurichten. Für die Bremers beginnt in Schildow bei Berlin ein neues Leben ohne Bauernhof.

Im vierten und letzten Band – WANDERN – stellt Evi die Weichen für ihr weiteres Leben. Sie beginnt ihren Dienst als "Werktätige des Volkes" im Außenhandel der DDR. Eine Schulfreundin nach der anderen heiratet, Evi aber träumt immer noch ihren großen Traum vom Theater. Nebenbei geschehen großartige Dinge in Schildow bei Berlin: Bremers bekommen Telefon und Brüderchen Peter wird bei der Komischen Oper angenommen. Evi hat viele Verehrer, doch ihr Herz schlägt für ein Fernstudium zum Theaterregisseur. Dort lernt sie Roger, die zweite große Liebe ihres Lebens, kennen. Gemeinsam führen Sie mit dem Theaterkollektiv "Striese-Theater" eigene Stücke in Fabriken und Kulturheimen auf. Evi wechselt vom Außenhandel zum Kulturbund. Aber immer wieder verzweifelt sie an der Dummheit und Ignoranz der Mächtigen. Währenddessen steigen die Flüchtlingszahlen von Tag zu Tag dramatisch an und Walter Ulbricht sagt "…Niemand will eine Mauer bauen…" Im Juli 1961 geht Evi über die noch offene Grenze und fliegt zu einer Kur nach Bayern. Die Bremers beginnen, schweren Herzens ihre Flucht zu organisieren. Anfang August, paar Tage vor dem Bau der Mauer, kommen sie in Berlin Marienfelde bei Tante Erna an…
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum29. Juli 2015
ISBN9783739255736
Glückskind: Band IV - Wandern-
Autor

Eva Maria Berger

Eva Maria Berger schreibt historische Romane und Kinderbücher. Seit 1985 arbeitet sie an der Familiensaga 'Glückskind', deren vierter und letzter Band WANDERN hier vorliegt. Erschienen sind bereits Band I WERDEN, Band II WACHSEN und Band III WANDELN.

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    Buchvorschau

    Glückskind - Eva Maria Berger

    Glückskind

    1956 – 1959

    Werktätige und Schauspieler

    - 1 -

    Den Sommer verbringen wir auf unserem Waldgrundstück. Im Schatten und in einem bequemen Korbsessel hält es auch Omi dort aus. Mama hat sogar ihre Schreibarbeit in die Laube verlegt. Zwischendurch spielen wir Federball.

    Manchmal kommt Robert vorbei, aber seine Besuche werden seltener. Ich mag ihn sehr, wir küssen uns auch noch, manchmal sogar leidenschaftlich, aber ich schaffe es nicht, ihn näher an mich heranzulassen. Dennoch, wenn ich mir vorstelle, dass er eines Tages nicht mehr kommen würde, könnte ich heulen. Aber ich bin einfach noch nicht so weit.

    Ende Juli gehe ich zum Arbeitsamt. Mir wird eine Anlernstelle beim Außenhandel zugewiesen, Monatsgehalt brutto 250 Mark. Mehr kann ich in meiner Situation nicht verdienen. Arbeitsbeginn? Ich will die Ferien noch zu Ende genießen und vereinbare: »Ab September.«

    - 2 -

    Gutgelaunt trete ich am 3. September den Dienst an. Mein Leben als »Werktätige des Volkes« beginnt. Ich werde in einem Büro als Hilfskraft eingesetzt, Frau Hiller, eine selbstbewusste Dame Anfang vierzig, ist meine Vorgesetzte. Alle Chefs reden mit großer Achtung von ihr, so, als wäre sie eine der Säulen der Firma. Sie selbst kommt sich total überlastet vor und ist froh, in mir eine Hilfe zugeteilt bekommen zu haben.

    Sie deckt mich dann auch gleich mit Arbeit ein, ohne mich über deren Sinn aufzuklären. Ich muss Zahlen schreiben, addieren, dividieren, subtrahieren, Blatt um Blatt, wochenlang, ohne zu wissen, was diese Zahlen bedeuten – Zahlen mit Bedeutung sind schon schwer zu ertragen, aber ohne Bedeutung sind sie mir ein Greuel!

    Auch über die Bedeutung der Firma, über ihr Programm usw. weiß ich nur das, was ich während der Mittagspausen aus Gesprächen mit Kollegen erfahre. Frau Hiller gibt mir keine Auskunft, denn sie hat »beim besten Willen keine Zeit!«

    Der Tag der Gehaltsauszahlung entschädigt mich dann aber. Als ich nach Hause komme, breite ich stolz meine Geldscheine auf den Tisch und erwarte entsprechende Bewunderung. Ich komme mir sehr reich vor – runde 220 Mark für mich ganz alleine! Und das jeden Monat! Ich werde bald ein Vermögen haben!

    Mama dämpft dann allerdings meine Euphorie. »Ach, das ist ja schon ganz schön!« sagt sie, »wie viel willst du denn an Kostgeld abgeben?«

    Kostgeld??? Hm! Daran hab ich ja überhaupt nicht gedacht. Natürlich muss ich Kostgeld abgeben! »Reichen dir 100 Mark?«, frage ich etwas gereizt in der Annahme, dass ich übertrieben habe. Aber nein, ich hab ganz und gar nicht übertrieben! Mama sagt: »Na gut, für den Anfang bin ich zufrieden!«

    Nach einigem stillen Ärger denke ich: »Also 120 Mark – das ist auch schon was, so viel Geld hatte ich noch nie!« Aber wie erstaunt bin ich, dass am Monatsende kaum noch ein paar Mark übrig sind. Komisch, was man plötzlich alles so braucht!

    - 3 -

    Eines Tages soll ich für Frau Hiller Formulare ausfüllen, die mir unverständlich sind. Ich versuche, selbst damit fertig zu werden, aber dann muss ich meine Vorgesetzte doch fragen. »Bitte, Frau Hiller«, wende ich mich so höflich wie möglich an sie, »könnten sie mir erklären, wie ich diese Formulare ausfüllen soll?«

    Frau Hiller wendet nicht den Blick von ihrer Lektüre und sagt desinteressiert: »Nee, aba Milch könn Se ma hol’n!«

    Ich glaube, mich verhört zu haben. »Frau Hiller, ich verstehe nicht, wie ich…« Frau Hiller sieht mich groß an. »Sehn Se nich, dat ick zu tun habe? Ick kann ma nich nur um Sie kümmern! Hol’n Se Milch, is gleich Frühstück!«

    Irgendwie langt es mir. Ich hole Frau Hiller die Milch, gehe dann aber zum Direktor. Ich erkläre ihm, dass ich gerne weiter hier arbeiten würde, aber auch den Sinn meiner Arbeit verstehen möchte. »Auf dem Arbeitsamt sagte man mir, ich soll hier angelernt werden«, sage ich so ruhig ich kann, »aber mir wird nie etwas erklärt. Alles Logische kann ich mir selber erklären, aber manchmal verstehe ich etwas nicht. Sagen Sie mir bitte, an wen ich mich dann wenden kann!«

    »Na an Frau Hiller!«, lautet die verwunderte Antwort.

    »Frau Hiller hat immer so viel zu tun.«

    »Gehen Sie zu Frau Hiller, sie ist ihre Vorgesetzte und sehr kompetent! « Dem Direktor steht im Moment anscheinend nicht der Sinn danach, sich um einen Neuling zu kümmern. Ich aber werde ärgerlich.

    »Frau Hiller hat es abgelehnt!« Ich erkläre dem Direktor den Vorfall, halte mich aber zurück, Frau Hillers Äußerungen zu wiederholen.

    Der Direktor sieht mich prüfend an. »Vielleicht hat sie es Ihnen schon öfter erklärt, Sie aber passen nicht auf? Ist es nicht so, Kollegin?«

    So, jetzt bin ich nicht mehr ärgerlich, jetzt bin ich wütend. »Frau Hiller nimmt mich nicht ernst!«, sage ich leise aber scharf. »Ich habe von niemandem bisher auch nur das Geringste über diese Firma erfahren, was ich weiß, habe ich mir zusammengefragt. Ich habe gelernt, dass man im Sozialismus alle Dinge im Zusammenhang sehen muss, nur so kann man etwas verstehen und Fehler vermeiden. Ich möchte gerne keine Fehler machen, aber wenn ich auf eine Frage zur Antwort erhalte: »Ich hab jetzt keine Zeit, aber Milch könn Se mal hol’n!«, dann sagt mir das, dass ich als Mitarbeiterin nicht zähle.«

    Der Direktor ist nun doch hellhörig geworden. »Das hat sie gesagt? Milch könn Se mal hol’n? Hm! Ich werd sehen, was ich für Sie tun kann. Gehen Sie erst mal zurück. Ich melde mich.«

    Ich gehe zurück, treffe im Flur eine andere Kollegin, die mir das Formular erklärt und kann meine Arbeit erledigen.

    Gegen Abend ruft mich der Direktor zu sich. »Kollegin Bremer«, sagt er freundlich, »ich habe eine glänzende Idee! Ab Morgen arbeiten Sie bei unserem Kollegen Griewaldt. Die Kollegen dort unten sind alle sehr kollegial, Sie werden sehen! Die Abteilung befindet sich nicht hier im Haus, sondern nebenan in einem kleinen Häuschen im dritten Hinterhof. Ich glaube, das ist das Richtige für Sie. Viel Erfolg!«

    Ich bedanke mich, denn ich spüre, dass er es nun doch gut mit mir meint.

    - 4 -

    Jetzt beginnt eine wundervolle Zeit. Das kleine Häuschen im dritten Hinterhof ist urgemütlich. Irgendwann hat hier jemand gewohnt. Die Räumlichkeiten – zwei Zimmer und eine Küche – wurden ohne große Veränderungen zu Büroräumen umgewandelt. Der Herd in der Küche ist funktionsfähig und wird im Winter als Ofen benutzt, danach wird er nur angeheizt, wenn einer Kaffee oder Tee kochen will. In den beiden anderen Zimmern stehen kleine Kachelöfen, die ebenfalls in Ordnung sind. Das Klo befindet sich im zweiten Hinterhof. Der große Schlüssel dazu hängt rechts oberhalb der Eingangstür.

    Das Häuschen umgibt ein kleiner verwilderter Garten. Einige Mitarbeiter haben Liegestühle mitgebracht, in denen jeder bei schönem Wetter seine Mittagspause verbringen kann. Die ganze Mannschaft kommt mir vor wie ein verschworener Haufen, wozu Herr Griewaldt, der Abteilungsleiter, sicher maßgeblich beigetragen hat. Er ist ein großer schlanker sehr gutaussehender Mann, verheiratet, zweifacher Vater und ziemlich gesellig. Ich werde freundlich von ihm empfangen, über die Arbeit aufgeklärt und während der Frühstückspause allen Mitarbeitern vorgestellt. Sie kommen mir aufgeschlossen entgegen und sind bemüht, mich auch sogleich über sich und die Atmosphäre, die hier herrscht, aufzuklären.

    Zunächst berichten sie von der gerade bei Herrn Griewaldt stattgefundenen Pyjama-Party. Herr Griewaldt besäße ein Grundstück an einem der vielen Berliner Seen, das bestens für solche Feste geeignet sei.

    Es wird viel gelacht in der Runde, sie behandeln mich so, als würde ich längst zu ihnen gehören. Das ist angenehm. Dennoch lassen sie keinen Zweifel offen, dass sie allesamt Hallodri sind.

    Die Vertrauenswürdigste scheint mir Frau Hertha Lenzen zu sein, die mir gleich am zweiten Tag das Du anbietet, was ich natürlich annehme. Wir verstehen uns von Anfang an so gut, als seien wir schon immer Freundinnen gewesen. Unsere Schreibtische stehen in der Küche. Wir sitzen uns gegenüber und können zwischendurch miteinander »quatschen«.

    Hertha ist 36 Jahre alt, groß, stark, hübsch und sympathisch. Sie erzählt, dass sie während des Krieges einen Offizier kennenlernte, der ihr vortäuschte, ledig zu sein und sie sehr zu lieben. »Natürlich war ich ihm schnell verfallen«, sagt sie, »denn er war charmant und wollte mich heiraten! « Als sie von seiner Dienststelle erfuhr, dass er in Hamburg Frau und Kinder habe, war sie bereits hochschwanger. Sie konnte es nicht fassen, war wie vor den Kopf geschlagen und trennte sich von dem zukünftigen Vater ihres Kindes. Dann brachte sie einen Sohn zur Welt und zog ihn unter großen Entbehrungen auf. Heute ist er 12 Jahre alt und ihr ganzer Stolz. Sie hat vier Schwestern, ihre Eltern leben auch noch, alle haben ihr beigestanden – wohl dem, der eine große Familie hat!

    »Mit den Männern ist das so eine Sache«, sagt sie, »wer will schon eine Frau mit Kind!« Allerdings hätte sie einen guten Freund, der könne sich leider von seiner Frau nicht trennen, weil diese zu sensibel sei, und seine Kinder würden unter einer Scheidung auch leiden. Dafür habe sie Verständnis, nie würde sie auf einer Scheidung bestehen. »Aber die Stunden mit ihm sind zauberhaft«, gesteht sie, »das entschädigt mich für vieles. Nur die Wochenenden, die sind doch recht einsam.«

    Ich erzähle Hertha natürlich auch aus meinem Leben, was sie nicht sonderlich beeindruckt, aber sie hört wenigstens zu. Danach gibt sie mir einen Einblick in die Geschichten der anderen Kolleginnen und Kollegen, über die sie genauestens Bescheid weiß: »Kollege Freitag zum Beispiel ist Ingenieur«, erfahre ich, »seine Freundin ist schön und hochintelligent, aber er ist ein Trottel, macht alles, was sie will, dafür tanzt sie ihm auf der Nase herum. Außerdem hat er eine feuchte Aussprache. Leider merkt er es nicht. Wenn man mit ihm spricht, hat man immer das Gefühl, man müsse ihm seinen Mund abtupfen. Dabei ist er, genaugenommen, ein schöner Mann.«

    Kollege Schmidts, ein Flugzeugspezialist, ist schon älter. Nach einer Augenoperation wachsen ihm die Wimpern in die Augen hinein, weshalb er unter einer bereits chronischen Hornhautentzündung leidet.

    Ronny Heckmann ist an die Dreißig, mittelgroß, schlank, hübsch. Er hat tiefschwarze Haare und sehr helle Haut. Er kommt aus Amerika. Seine Frau nennt er »Ratte«, weil sie sich am Strand an ihn herangemacht hatte, indem sie ihm, ohne ihn zu kennen, einfach in den großen Zeh biss.

    Heinz Pieske wirkt seriös und vertrauensvoll. Auch er ist verheiratet. Aber zusammen mit Ronny tüftelt er den größten Unsinn aus, der nicht immer nur zum Lachen ist. Ingrid, die Schreibkraft, die bei ihnen sitzt, wird manchmal ganz schön von ihnen aufs Korn genommen. Aber sie bleibt ihnen zum Glück nichts schuldig.

    Das absolute 'Untier' ist Kollege Kleinfeldt, stellvertretender Abteilungsleiter, Wichtigtuer und Schleimer. Vor dem muss man sich in Acht nehmen, der schwärzt schnell mal jemanden an. Er ist Sechzig, stets korrekt gekleidet und trägt immer Binder aus Krefeld. Früher hatte er dort mal gearbeitet, und weil er bei der Firmenleitung so beliebt war, schickt man ihm aus Dankbarkeit immer noch die echten Seidenen, wie er behauptet. Herr Kleinfeldt ist verheiratet, hat aber eine Freundin, eine Kollegin im Haupthaus, die er seine 'kleine Schnalle' nennt. Er trieft zuweilen von obszönen Witzen und Gedichten, die er hauptsächlich während der Arbeitszeit verfasst und uns mit gnädigem Lächeln und Beifall heischend vorträgt.

    Zum Schluß gibt es noch Kollegin Hauf, eine rundliche kleine Person in den Vierzigern, die mit uns in der Küche untergebracht ist. Sie ist sehr mitteilungsbedürftig und stellt sich selber vor. »Ich bin geschieden«, erzählt sie, »habe eine Tochter und eine Pflegetochter. Die Pflegetochter ist meine Nichte, denn meine Schwester ist aus politischen Gründen vor ein paar Jahren in einem Schauprozess zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Das war ein so schreckliches Erlebnis«, sagt sie, »dass ich mich am liebsten nicht mehr daran erinnern möchte. Aber was will man machen, die Gedanken kommen von selbst, besonders nachts. Wir standen alle unter Verdacht, sogar meine Eltern; die Verhöre waren schlimm. Es dauerte lange, bis sie uns endlich glaubten. Wir hatten ja keine Ahnung, in was meine Schwester da verwickelt sein sollte! Es hieß immer 'Hochverrat und Spionage'. Genaueres verschwieg man uns.«

    Frau Hauf ist eine arme Seele. Sie tut uns leid, es muss schlimm sein, eine Schwester auf so schreckliche Weise zu verlieren. Wir hätten ihr gerne mehr Achtung entgegengebracht, aber ihre Art geht uns ziemlich oft auf die Nerven. Zum Beispiel kränkelt sie häufig. Dafür hätten wir sie bedauert und versucht, ihr zu helfen, aber scheinbar hat sie niemanden, der sich um ihre »Zustände«, wie sie es nennt, kümmert, denn bei jeder Gelegenheit berichtet sie uns ausführlich über alle möglichen Wehwehchen, unter denen sie leidet. Besonders ihre Augen seien betroffen. Dann wischt sie sich irgendetwas aus den Augen und zeigt es uns. Oder sie schnaubt sich die Nase, betrachtet sich das Ergebnis und berichtet darüber. Mittags wärmt sie sich ihr Essen auf dem Herd. Unangenehme Kochdüfte durchwehen dann die Abteilung. Ihre Eigenarten machen sie zum Spottobjekt der Kollegen, besonders Kleinfeldt hat es auf sie abgesehen. Hertha und ich stellen uns als Schutzschild vor sie, weil wir glauben, dass sie durch die schlimmen Erlebnisse so wunderlich geworden sein könnte… Ja, es ist sehr merkwürdig auf meiner neuen Arbeitsstelle, aber die Arbeit macht Spaß.

    Unser Unternehmen verkauft Fabriken und Maschinenanlagen. Andere Außenhandelsunternehmen verkaufen nur einzelne Maschinen. In den Unterlagen, die wir vom Haupthaus bekommen, sind alle Maschinen einer Anlage aufgeführt. Die gültigen Preise dafür müssen wir von den einzelnen Außenhandelsunternehmen, die in der Stadt verstreut sind, holen, was mit viel Außendienst verbunden ist. Die DM-Preise rechnen wir per Rechenschieber und mit dem entsprechenden Umrechnungsfaktor in Valuta um, addieren die Posten und ermitteln so den Gesamtpreis. Mit diesen Unterlagen reisen die Verkäufer ins Ausland, um die Geschäfte abzuwickeln.

    Was den Außendienst betrifft, so haben wir nichts dagegen, denn unterwegs kann sich Hertha schnell mal mit ihrem Freund zu einer Tasse Kaffee treffen, ich kann schnell mal ein bisschen einkaufen, oder, wenn Hertha am Abend Besuch erwartet, können wir auch mal ihre Wohnung etwas auffrischen. Hertha und ich, wir arbeiten zusammen, deshalb können wir auch immer zusammen losziehen. Wir lassen uns meistens Zeit, aber immer im Rahmen, so dass man uns nichts nachsagen kann. Die Männer machen es genau so. Kleinfeldt trifft sich mit seiner »Schnalle« sogar hier im Büro – wenn wir anderen ausgeflogen sind und Herr Griwaldt auf irgendeiner Versammlung weilt.

    Heckmann und Pieske sind Mitglieder der Nationalen Front, die ja in jeder größeren Firma vertreten ist. Regelmäßig finden Schießübungen statt, an denen sie teilnehmen. »Wir werden zu richtigen Soldaten ausgebildet «, erzählen sie. »Sollte es noch einmal einen 17. Juni geben, dann werden wir eingreifen«. Sie lachen: »Und mit uns ist nicht zu spaßen! « Wir lachen alle, aber so richtig wohl ist wahrscheinlich keinem dabei.

    Fast alle Kollegen sind in der Partei, Hertha auch. Ich erkläre ihr, warum ich nicht in der FDJ bin und auch nie Parteimitglied werden kann. Sie hat Verständnis dafür, zumal sie während unserer Gespräche meine prosozialistische Gesinnung erkannt hat. »Ich bin auch schon ein paar Mal in die Kirche gegangen«, erzählt sie, »Pastoren sind mitunter sehr einfühlsam. Manchmal braucht man einfach Trost, dann ist man bei denen bestens aufgehoben.«

    »Glaubst du denn an Gott?«, frage ich verwundert.

    »Manchmal. Manchmal nicht – ich weiß nicht genau. Ich hab mich nicht so viel damit befasst, aber ich lehne die Kirche nicht ab.«

    »Aber du bist doch in der Partei!«

    »Na und? Ich bin für die gute Sache. Keine Extremistin! Muss ja keiner wissen!«

    - 5 -

    Als ich eines Tages nach Hause komme, finde ich eine Einladung zur Hochzeit – Dagmar heiratet. Ich soll ihr den Schleier schenken.

    Ich bin schmerzlich berührt – Dagmar heiratet also. Wieso müssen sie alle heiraten! Am nächsten Tag mache ich mich nach Feierabend auf, das Geschenk zu besorgen. Nach langem Suchen finde ich kurz vor Ladenschluss ein sechs Meter langes sehr schönes Gebilde aus besticktem Tüll.

    Am Tag darauf drückt mir Omi aus ihrer eisernen Reserve ein paar Mark Westgeld in die Hand. »Kauf dir Stoff und lass dir ein schönes Kleid nähen. Schließlich heiratet deine beste Freundin!«

    Ich drücke sie überschwenglich und besorge den Stoff – goldschimmernden Taft. Ursels Mutti ist Schneiderin und näht mir auf die Schnelle ein traumhaftes Kleid mit sehr weitem Rock und tiefem Ausschnitt, dazu ein Bolero. Ich komme mir unglaublich schön darin vor; meine alten Einsegnungspumps, auf Hochglanz gewienert, passen zum Glück auch noch. Mama spendiert mir das Fahrgeld. Ich nehme einen Tag Urlaub und mache mich auf den Weg.

    Während der Fahrt gehen mir alle möglichen Gedanken durch den Kopf – wie kann man nur so schnell heiraten! Irgendwie kann ich mich mit Dagmars Hochzeit nicht abfinden. Wie sollen wir jetzt noch Freundinnen sein? Unsere Interessen werden schlagartig auseinandergehen. Bald wird sie Kinder haben… »Ehefrau« – wie sich das schon anhört, und gar »Hausfrau und Mutter!« Oh neiin!! Worüber sollen wir dann noch reden?

    Na, abwarten! Vielleicht komme ja auch ich bald auf den Geschmack. Ich gehe alle meine Freunde durch – immer noch ist keiner dabei, mit dem ich mein Leben verbringen möchte – Robert vielleicht, aber noch nicht gleich. In meinem tiefsten Inneren wallt ein wehes Gefühl auf, flüchtig umarme ich in Gedanken Herrn Pohl, verschließe mich aber schnell wieder.

    Dagmars Hochzeit wird das Fest der Feste in Burgstädt. Eine so schöne Braut hat das Dorf lange nicht mehr gesehen. Und auch der Bräutigam kann sich sehen lassen. Der lange Schleier erregt Aufsehen und kleidet Dagmar ganz zauberhaft.

    Mein Begleiter und Tischherr ist ausgerechnet Ali! Er sieht blendend, eigentlich umwerfend aus, nur – wir mochten uns noch nie besonders. Aber beide sind wir momentan solo. Was lag näher, als aus uns ein »Paar« zu basteln. Glücklich sind wir nicht darüber, aber wir dulden einander.

    In der Kirche gibt es inzwischen einen neuen Pfarrer. Seine Predigt gefällt mir aber auch nicht besser als die Predigten seines Vorgängers. Wenn ich schon höre: »… die Frau sei dem Manne untertan, sie soll solange an ihn gebunden sein, wie er lebt, erst nach seinem Tode sei sie frei…«, dann reicht es mir. Wenn sich der Mann nun als Mistkerl entpuppt, dann ist und bleibt sie trotzdem an ihn gebunden? Lässt sie sich dennoch scheiden, gilt sie als Ehebrecherin, er als der Betrogene oder gar als Opfer? Dieses Paulus-Kapitel ist mir noch aus dem Religions-Unterricht in Erinnerung. Nein! Das wäre nichts für mich! Nie würde ich eines Mannes Untertanin sein, nie! Ich bin fest davon überzeugt, dass Gott in Härtefällen nichts gegen eine Trennung hätte, ebenso glaube ich nicht, dass Gott die Frau als Untertanin des Mannes sieht. Das würde ja bedeuten, dass er seine Söhne lieber hätte als seine Töchter! Aber was ist denn liebenswerter an den Söhnen?

    Ich glaube auch nicht, dass es gottgewollt ist, den Mann in der Bibel immer so darzustellen, als sei er klüger, weiser, und Gott viel näher als die Frau. Ich bin ärgerlich. Was sie den Leuten immer für einen Unsinn erzählen! Der alte Pfarrer predigte sogar mal über den Paulusbrief an die Korinther, wonach der Mann »Gottes Bild und Abglanz« ist, die Frau aber nur des »Mannes Abglanz«! Was glaubten die Leute damals eigentlich! Ebenso sei Gott das Haupt von Christus, Christus aber sei eines jeglichen Mannes Haupt, also Gott und Christus zusammen seien das Haupt des Mannes! Deshalb sei es eine Schande, wenn der Mann sein Haupt beim Beten bedecken würde. Die Frau aber sei verpflichtet, ihr Haupt zu bedecken, wehe nicht! Sonst wird ihr das Haar abgeschnitten! Denn ihr Haupt sei das Haupt des Mannes! Also ein Haupt der Frau gibt es demnach nicht! Danach kann sie weder denken noch einen eigenen Willen haben! Wie soll man denn bei solchen Gesetzen fromm bleiben! Wahrscheinlich bezieht sich Paulus auf Moose und seine Weltentstehungsgeschichte, in der der Mann als Mensch bezeichnet wird, die Frau aber nur als sein Weib, außerdem sei der Mann nicht um des Weibes Willen geschaffen worden, sondern das Weib um des Mannes Willen, weil dieser nämlich eine Gehilfin brauche…

    Seltsame Gedankengänge! Man kann diese Anmaßung einfach nicht hinnehmen! Was hätten wir denn dann für einen Vater?! Es sei denn, Gott hätte erkannt, dass ein Mann nichts Halbes und nichts Ganzes ist, ein unbeholfener einfältiger Tölpel, der eine Gefährtin braucht, die klüger und weiser ist als er, sanfter und einfühlsamer, damit überhaupt einmal etwas aus ihm werden könnte…

    Im Grunde glaube ich, dass Gott will, dass Ehepartner gleichberechtigt sind, dass sie sich gegenseitig helfen, beistehen und von Herzen lieben. Bei Letzterem stimme ich mit den Worten des Pastors sogar überein: »Die Liebe sei die größte unter ihnen…« Klar, nichts ist wundervoller als die gegenseitige ganz große Liebe zweier Menschen! So habe ich sie zwar noch nicht erlebt, aber es ist mir, als würde ich sie in mir tragen, ich bin mir dessen ganz sicher! Irgendwann wird sie mich durchglühen, irgendwann – so wie die beiden da vorne am Altar – ich bin fest überzeugt, dass Dagmar und Wolfgang für immer zusammenbleiben werden.

    Die Orgel bringt mich zum Heulen, ebenso auch der Chor – Schulzen Elsa weilt nämlich unter den Gästen und singt deshalb nicht mit. Wie wundervoll das klingt: »Ich bete an die Macht der Liebe… « Oh Gott! Ich will auch die ganz große Liebe haben!

    Nach einem gemeinsamen Gebet und der Erteilung des Segens können wir endlich diese schreckliche Kirche verlassen, in der man nur friert, sich ärgern oder heulen muss. Draußen atme ich tief ein – wundervoll diese frische Luft!

    Gefeiert wird bei Albrechts. Nach einem großartigen Essen wird getrunken und getanzt. Alle sind eingeladen worden – Willi, Brigitte Fuhrmann, Buske, Siegfried, Irma Hellwig, Helmut Schreiner…

    Mit Helmut Schreiner hatte ich früher nicht viel im Sinn. Er war zwar Mitglied der Theatergruppe, doch er war mir nie aufgefallen. Jetzt aber finde ich ihn sehr interessant. Er ist ein richtig flotter Mann geworden, sogar mit einer gewissen erotischen Ausstrahlung! Wir finden Gefallen aneinander und tanzen oft zusammen.

    Helmut wohnt seit Jahren in Frankfurt, er hat Fleischer gelernt, was zwar ein ehrenhafter Beruf ist, aber allein der Gedanke daran dämpft meine Begeisterung. Nie könnte ich mit einem Fleischer zusammenleben! Um keinen Preis der Welt! Aber wie er einen in den Arm nimmt – das ist schon angenehm! Ich empfinde nicht das, was ich damals bei Herrn Pohl empfunden habe, das wird immer unerreichbar sein, aber trotzdem, doch, Helmut könnte mir gefallen.

    Die Feier endet in den Morgenstunden. Ich schlafe bei Frau Schulze, Dagmar schläft bei ihrem Wolfgang. Das ist ein komisches Gefühl – genau das aber macht es mir klar, dass Dagmar wirklich und wahrhaftig verheiratet ist, dass jetzt alles anders wird. Trotz Schwips und Müdigkeit kann ich lange nicht einschlafen.

    Am nächsten Tag treffen wir Mädchen uns und beratschlagen, was wir mit dem bevorstehenden Abend anfangen wollen. Brigitte schlägt vor, irgendwohin zu gehen, wo Tanz ist und dafür vielleicht nach Wittenberg zu fahren.

    »Und wie sollen wir da hin kommen?«, fragt Irma Hellwig.

    »Herr Pohl!«, sagt Brigitte. »Der bringt uns mit seinem Auto hin – wenn er Zeit hat.«

    Der Vorschlag wird begeistert aufgenommen. Albrechts Willi, der eigentlich »überhaupt keene Zeit nich hat«, erklärt sich, nachdem wir ihn lange angebettelt haben, endlich doch bereit, uns mit seinem alten Auto schnell nach Wiesbach zu Herrn Pohl und, falls nötig, auch wieder zurückzufahren.

    Mir ist ganz mulmig zumute. Ein wehes Gefühl durchzieht mich, das ich versuche, zu ignorieren. Ich will mir keine Hoffnungen machen. Er hatte sich damals verabschiedet, das will und muss ich respektieren. Dennoch fahre ich mit großen Erwartungen mit. Keine ahnt, was in mir vorgeht.

    Vor Pohls Haus hält Willi an und sagt: »So, nu macht hinne! Sonst bin ick weg!«

    Wie die wilden Schnattergänse stürmen wir das Haus. Herrn Pohls Bruder öffnet uns. Als er hört, was unser Begehr ist, führt er uns lachend und kopfschüttelnd in die Küche, wo Herr Pohl mit bloßem Oberkörper vor einem eisernen Waschgestell steht und sich wäscht.

    Brigitte ist Wortführerin und trägt unser aller Bitte vor.

    Herr Pohl ist überrascht, weiß erst nicht, was er sagen soll. Aber er lässt sich nicht überrumpeln. »Ich hab keine Zeit, Kinder«, bedauert er, während er sich abtrocknet, »ich muss gleich zu einer Besprechung.«

    Ich halte mich im Hintergrund, beobachte Herrn Pohl nur. Wieder ist in mir nur Bewunderung. Mein Herr Pohl! Da steht er, immer noch ziemlich mollig, aber nicht mehr so aufgeschwemmt wie damals im Krankenhaus. Ich finde ihn wie immer wundervoll – er hat mich noch nicht gesehen.

    Die Mädchen verlegen sich aufs Bitten, Herr Pohl bleibt hart: »Nein, meine Damen, es geht nicht, ich komm in Teufels Küche, die Genossen warten auf mich!«

    »Ach, Herr Pohl! Bitte! Vielleicht nach der Besprechung! Wir warten auch gerne!«

    »Kinder, es geht nicht! Beim besten Willen nicht!« Jetzt entdeckt er mich. »Wer versteckt sich denn da in der Ecke?«

    Ich trete vor, strahle ihn an: »Hallo, Herr Pohl! Schade, dass Sie keine Zeit haben!«

    »Du? Wie kommst Du denn hier her?« Herr Pohl ist offensichtlich verwirrt.

    Ich gehe zu ihm und schüttele ihm die Hand. »Dagmars Hochzeit – ich war Brautjungfer!«

    »Ach ja – jaaa - wirklich schade – sehr schade sogar – aber ich muss zu dieser Besprechung! Bist du morgen noch da?«

    Ich schüttele bedauernd den Kopf, »leider nicht, ich hatte nur einen Tag Urlaub!«

    »Hm! Zu dumm! Also das tut mir jetzt leid…« Dann wendet er sich wieder den anderen zu. »Ja, Mädels, nächstes Mal vielleicht, macht's gut, und viel Spaß heute noch!« Seine Stimme klingt nicht mehr so forsch wie vorhin. Die Mädchen verlassen die Küche.

    »Wiedersehen, Eva!« In seinem Blick liegt ehrliches Bedauern. »Wiedersehen! « Er reicht mir die Hand. »Melde dich mal!« Seine Hand hält meine fast krampfhaft fest. »Gute Fahrt morgen!«

    »Wiedersehen!« Wir sehen uns direkt an – wehe, wenn wir jetzt alleine wären! Ein Schwall von Gefühlen durchströmt mich – das wollte ich mir eigentlich nicht antun! Es gelingt mir, ihn unverbindlich anzulächeln und meine Hand, innerlich zwar widerstrebend, aus seiner Hand zu lösen. Ich nicke ihm noch einmal zu und folge den anderen. Keine hat etwas gemerkt.

    Draußen sitzt Willi wie auf Kohlen. »Noch eene Minute, denn hätteta loofen könn!« Willi redet immer so, in Wirklichkeit ist er eine Seele von Mensch, der niemandem etwas abschlagen kann.

    Wir verbringen den Abend noch in fröhlicher Runde in Albrechts Gaststube. Helmut Schreiner ist auch gekommen, in der Hoffnung, mich noch einmal zu sehen, wie er sagt. Morgen will er mich zum Bahnhof bringen, was ich ihm ausrede. Aber unsere Adressen tauschen wir aus. Er will mir schreiben – na ja, warum nicht!

    Als alle gegangen sind, verabschiede ich mich von Dagmar. Ich wünsche ihr zum x-ten Male alles Gute, viel Glück und viele Kinder, worauf sie mir ins Ohr flüstert: »Behalte es für dich! Eins ist schon unterwegs!«

    Ich bin wie erschlagen – jetzt wird sie tatsächlich schon Mutter! Wie soll man damit bloß fertig werden!

    Am nächsten Morgen sehe ich sie nicht mehr. Eine junge Ehefrau hat nach ihrer Hochzeit wenigstens das Recht, auszuschlafen, wenn es schon keine Hochzeitsreise gibt. Letzteres ist für die meisten Brautpaare zu kostspielig, auch wenn sie, wie Albrechts, keine direkt armen Leute sind.

    Während der Rückfahrt bin ich wieder nur nachdenklich. Nichts ist richtig greifbar. Am meisten geht mir Herr Pohl durch den Sinn. Auch er ist nicht greifbar. Wie soll ich ihn nur verstehen? Ich will nicht mehr so intensiv an ihn denken! Es war doch schon alles überwunden! Er hat andere Pläne – ich komme darin nicht vor! – »Merke es dir endlich!«, herrsche ich mich in Gedanken an. Uneins mit mir, versuche ich, meine Gedanken auf Helmut Schreiner zu lenken. Das gelingt wegen seines Berufes erst recht nicht. Als der Zug in Berlin einfährt, werde ich ruhiger. Ich freue mich auf zu Hause. Vielleicht kommt Robert. Eine Umarmung von ihm würde mich vielleicht zurechtrücken…

    - 6 -

    Am nächsten Tag beginnt wieder das Büroleben. Hertha erkennt sofort, dass mich irgendetwas bedrückt. Ich rede mich heraus und schildere ihr die Hochzeit in den lustigsten Farben, bringe aber nebenbei zum Ausdruck, dass ich noch lange nicht die Absicht habe, dem Beispiel meiner Freundin zu folgen. Von Herrn Pohl erzähle ich ihr nichts.

    Zur Adventszeit schmücken wir die Büros mit Tannen, jeder bringt sich für seinen Schreibtisch ein kleines Gesteck mit. In den Pausen sitzen wir gemütlich bei Kerzenschein und unterhalten uns.

    Grundsätzlich geht es sehr harmonisch bei uns zu – abgesehen von Kleinfeldts schrecklichen Witzen, die leider Heckmann und Pieske zur Nachahmung anregen. Ellenlange Gedichte denken sie sich während der Arbeitszeit aus, hinterhältig und mies auf Kollegin Hauf gemünzt. Ingrid, die alles abtippen muss, wird gleich mit verdorben. Auch ihr fallen triefende Verse ein. Immer, wenn Frau Hauf mal auf dem Klo ist oder Haushaltstag hat, liest sie uns aus den gesammelten Werken des Mittelbüros vor. Wir hören zu, sind mehr als unangenehm berührt, und versuchen möglichst locker wenigstens Ingrids Sichtweise zu ändern. Hertha meint, dass Kritik mit drohendem Zeigefinger nichts ändern würde, deshalb versucht sie immer wieder, Verständnis für Frau Hauf zu wecken. Aber sie entschuldigt auch das Mittelbüro: »Im Grunde meinen sie es ja auch alle nicht böse«, sagt sie, »bloß Kleinfeldt – der ist ein richtiges Schwein!«

    - 7 -

    Zuhause wird alles für das Weihnachtsfest vorbereitet – wir backen Plätzchen, Papa besorgt einen Baum, den wir im Wohnzimmer vor das Fenster stellen. Peter und ich basteln wieder Fensterbilder aus Seidenpapier und alten Heftdeckeln und Sterne aus Stroh. Omi erzählt uns Geschichten.

    Am Heiligen Abend verläuft alles sehr festlich. Tante Hete ist zu Gast. Am nächsten Tag besuchen uns Tante und Onkel. Am zweiten Feiertag trödeln wir so dahin.

    Sylvester versuchen wir krampfhaft, fröhlich zu sein, Papa tanzt sogar mit Mama und mir. Später kommen Bekannte aus der Nachbarschaft, Tante Hete beglückt alle mit ihrem Pludderkissen – irgendwie bin ich froh, als die Feiertage endlich vorbei sind.

    Die Geburtstage von Mama und Papa werden nur nachmittags gefeiert, denn abends treffen sich die beiden jedes Mal mit Tante Erna und ihren Freund Gerhard, den alle Chambo nennen, in der Stadt, wo sie irgendwo zum Tanzen gehen. Und dann haben wir auch schon wieder Februar.

    »Wo die Zeit bleibt, ist mir ein Rätsel«, stöhnt Papa, wobei er an den Abgabetermin für das Manuskript seiner Übersetzungsarbeit denkt. Um den Termin zu schaffen, arbeitet er mit Hochdruck, und Mama muss bis zu 70 Seiten pro Tag auf der Schreibmaschine tippen. Papa muss ihr zwischendurch den Nacken massieren.

    Als das Manuskript endlich zum Verlag gebracht werden kann, sind die beiden erledigt, die prompt eintreffende Überweisung aber gibt ihnen wieder Aufschwung.

    - 8 -

    Etwas ganz Großartiges geschieht – wir bekommen Telefon! Ich halte uns jetzt für richtig vornehme Leute, denn wer hat hier schon Telefon! Wir gehören zu den Ausnahmen. Aber wer soll uns anrufen?

    Einmal allerdings kommt es mir sehr gelegen, denn ich vergesse in der Firma meinen Personalausweis. Schildow gehört zur DDR, ich aber arbeite in Ostberlin. Immer, wenn man diese Grenze überqueren will, muss man seinen Ausweis vorzeigen. Als ich durch die Sperre am Ortseingang gehen will, bemerke ich es. Ich durchsuche meine Tasche, werde immer aufgeregter und der Polizist immer misstrauischer. Ein anderer Polizist kommt herzu, erkundigt sich, was los sei und meint: »Geben Sie zu, dass Sie versucht haben, sich ohne Ausweis hier durchzuschmuggeln. « Ich widerspreche, erkläre den Sachverhalt und dass ich jeden Tag mehrmals hier durchgehe.

    Das wäre ganz egal, heißt es, ich könne ja viel erzählen, und auf meine Tour hätten es schon mehrere versucht. Ich sei vorläufig festgenommen.

    Zwei Polizisten nehmen mich in ihre Mitte, ein Polizist läuft hinter uns, auf diese Art bringen sie mich in den Ort hinein zur Kaserne. Es ist sehr peinlich, denn mehrere Leute begegnen uns, die mich kennen.

    Ich werde einem Obersten vorgeführt, der sich die ganze Geschichte noch einmal erzählen lässt. Danach werde ich von ihm nach allem Möglichen gefragt – Name, Adresse, Arbeitsstelle und vieles andere – ich antworte gereizt.

    »Das kann stimmen«, sagt er unbeeindruckt, »muss es aber nicht!«

    Eine Weile geht es hin und her, der Ton ist nicht direkt feindlich, aber eisig. Ich empfinde einerseits Empörung in mir, andererseits Befremden. Geht man so mit Menschen um? Dann überlege ich krampfhaft, wie ich meine Aussagen beweisen kann. Da fällt mir unser Telefon ein.

    »Wäre es möglich, dass Sie meine Eltern anrufen?«, frage ich höflich, »dann können sie Ihnen wenigstens eine meiner Aussagen bestätigen, nämlich, dass ich hier wohne!« Ich sage ihm die Nummer, er ruft an.

    Mama meldet sich. Der Oberst fragt, ob sie eine Tochter habe, wie diese heiße, wann sie geboren sei und wo sie arbeite. Mama beantwortet die Fragen ganz aufgeregt, denn sie glaubt, dass mir etwas zugestoßen sei, wie sie mir später erzählt.

    Ich beobachte den Oberst. Mit unbeweglicher Miene sagt er auf Mamas Aussage nur: »Gut, danke.« Dann wendet er sich an mich. »Sie können gehen!« Er schreibt etwas auf einen Zettel und gibt ihn mir.

    »Hier ist ein Passierschein für morgen früh. Und nächstes Mal denken Sie an Ihren Ausweis!« Er geleitet mich zum Ausgang und lächelt ein wenig.

    Ich verabschiede mich möglichst unbefangen. Er soll nicht denken, dass ich Respekt vor ihm hatte oder dass er mich mit seiner blöden Art eingeschüchtert haben könnte. »Dein dämliches Grinsen reißt dich jetzt auch nicht heraus!«, denke ich. Am liebsten würde ich ihn verwirren. Ich gebe meinem Gang ein bisschen Koketterie, strahle ihn beim Verlassen der Kaserne noch einmal vielsagend an und ernte doch tatsächlich einen interessierten »Männer-Blick«! Als ich mich noch einmal umsehe, winkt er mir sogar verstohlen nach!

    »Na, du könntest lange warten!«, denke ich voller Triumph. »Dich könnten sie mir nachschmeißen, du Blödmann!«

    Als ich Mama von meiner Verhaftung erzähle, schüttelt sie den Kopf und sagt: »Also, haben die nichts Wichtigeres zu tun? Lächerlich!«

    Papa sagt nur: »Was erwartet ihr? Ohne Ausweis ist man hier verloren! «

    Ich sage zwar nichts, aber innerlich gebe ich Papa Recht. Ohne über die Zusammenhänge lange nachdenken zu wollen, tue ich das Vorkommnis zwar vorerst als übertrieben bürokratisch ab, aber in mir baut sich eine Art Platzangst auf. Der Vorfall geht mir nicht mehr aus dem Kopf. In diesem Land braucht man gar nichts verbrochen zu haben, um eingesperrt werden zu können. Das ist überhaupt kein Problem für die. Mir fällt die Leibesvisitation damals auf dem Bahnhof ein. Sie holten die Leute aus den Abteilen und tasteten sie überall gründlich ab. Im Nu kann man hier seine Menschenwürde verlieren – irgendetwas läuft hier total schief!

    - 9 -

    Am 7. März 1957 werde ich 19 Jahre alt. Letztes Jahr hat mir Robert noch gratuliert. Dieses Jahr kommt er nicht. Merkwürdig, wundere ich mich.

    Ein paar Tage später treffe ich Dixy, einen seiner Freunde. Ich kenne Roberts Freunde nur flüchtig, sie sind alle nett, aber Dixy ist netter als die anderen. Ich mag ihn, Dixy ist übrigens sein Spitzname. In Wirklichkeit heißt er Dirk Sawatzki.

    Auf meine Frage, was denn mit Robert los sei, sieht er mich erstaunt an: »Hat er nich erzählt, dass er abhaun will?«

    »Nee, wieso? Ist er?«

    Dixy nickt. »Vorjestern! Warum, weeß ick och nich jenau. Aba er erzählte mal, dass se ihn inner Mangel hatt’n. Entweder er jeht inne LPG oder zum Militär. Die wollt’n ihm ne Offiziersausbildung uffdrücken. Er wollte dit allet nich, aba die ließen ja nich locker – vielleicht dassa deswegen…«

    Ich versuche, Dixy nach allen Regeln der Kunst auszufragen, wie Roberts Landwirtschaft lief, ob er Sorgen hatte usw. Dixy hält sich zurück.

    »Komm mich doch mal besuchen«, lade ich ihn ein, »vielleicht erinnerst du dich noch an irgendwas!« Dixy fällt nichts mehr ein, aber von nun an besucht er mich öfter. Er ist ein lieber Junge, ich bin gerne mit ihm zusammen, von ihm geht so viel Ruhe und Selbstsicherheit aus.

    Dass Robert die Republik verlassen hat, geht mir sehr nahe. Außerdem wird mir bewusst, was für eine schlechte Freundin ich ihm war. Ich kam gar nicht darauf, ihn nach seinem Hof zu fragen, ihn zu besuchen oder zu fragen, ob ich ihm helfen kann. Einmal war ich mit auf seiner Wiese und habe mit ihm Heu gewendet, aber sonst – hätte er doch mal was gesagt! Ich komme lange nicht über Robert hinweg. Er fehlt mir, ich vermisse ihn furchtbar, besonders, weil ich ein schlechtes Gewissen ihm gegenüber habe. Wie konnte ich diesen Menschen nur so behandeln!

    Papa sagt: »Der Junge hat es richtig gemacht! Er ist ein Prachtkerl. Der kann ja drüben nur sein Glück machen – hier wär er untergegangen! «

    Mama trauert Robert ebenfalls nach, sie mochte ihn und hat mein Verhalten ihm gegenüber öfter kritisiert. Als sie sieht, wie unglücklich mich seine Flucht macht, sagt sie: »Ja siehst du, erst, wenn man jemanden verliert, wird einem klar, wie viel er einem bedeutet.«

    Ich versuche, mich mit spannenden Büchern abzulenken – 'Der stille Don' von Scholochow zum Beispiel, nach dem mir aber zur Zeit nicht der Sinn steht, ich schaffe den ersten Band nur bis zur Hälfte. 'Der grüne Heinrich' von Gottfried Keller nimmt mich schon eher gefangen, und von Heinrich Manns 'Henri Quatre' kann ich mich nicht mehr losreißen. Ich lese jede freie Minute und bin für die Familie so gut wie nicht anwesend. Als das Kinoprogramm wechselt, schlage ich Omi zwar vor, den neuen Film anzusehen, aber sie spürt, dass ich keine rechte Lust habe und sagt: »Ach, na lass man heute!«

    Ich versuche, sie zu überreden, aber ohne Nachdruck. Sie lehnt ab und ich bin froh, mich wieder in mein Buch vertiefen zu können.

    Eine Woche später wird Omi krank – eine kleine Erkältung, wie wir annehmen. Wir besorgen ihr 'Brionia', kleine weiße Kügelchen, die sie immer für ihr Asthma nimmt. Auch Hingfong holen wir und Aspirin, nur keine Ärztin.

    Omis kleine Erkältung verschlimmert sich. Wir geben ihr heißen Kräutertee mit Honig und bereiten ihr Kamillen-Dampfbäder. Ihre Brust reiben wir mit heißem Öl ein. Aber der Husten wird quälender.

    »Es werden ihre typischen Asthma-Anfälle sein«, denken wir, »was könnte man denn bloß noch machen?«

    Dann stellt sich Fieber ein. Mama holt nun doch die Ärztin. »Ihre Mutter hat eine Lungenentzündung«, sagt diese zu Mama, nachdem sie Omi untersucht hat, »warum haben Sie mich nicht eher geholt?« Als sie hört, dass Omi vorher kein Fieber gehabt hat, sagt sie: »Leider verharmlost man so etwas oft. Aber alte Menschen sind nicht mehr so widerstandsfähig, da sollte man immer gleich zum Arzt gehen, nicht erst, wenn Fieber auftritt!«

    Wir bereiten Omi das Bett auf der Couch im Wohnzimmer, damit sie tagsüber nicht allein im Schlafzimmer liegen muss, denn die Ärztin hat Bettruhe verordnet. Aber es wird nicht besser, trotz starker Medikamente.

    Wir betten Omi zurück ins Schlafzimmer in Mamas Bett, weil das für sie bequemer ist. Sie hat heftige Rückenschmerzen. Mit Einreibungen versuchen wir, es ihr zu erleichtern, aber Omi wird schwächer.

    Mama macht sich furchtbare Vorwürfe: »Warum habe ich denn bloß die Ärztin nicht früher gerufen!«, stöhnt sie. Aber nicht nur sie macht sich Vorwürfe, auch Papa. »Ich hätte es wissen müssen«, sagt er, »mit der Lunge ist nicht zu spaßen.« Und ich denke: »Ich hatte nur mit mir selber zu tun, nicht mal ins Kino bin ich mit ihr gegangen!«

    Peterchen hat natürlich andere Gedanken. Der kleine Kerl fühlt sich ganz unglücklich in der niederdrückenden Stimmung zu Hause. Zum Glück gibt es Helga, mit der er jede freie Minute verbringt. Mama hat nichts dagegen, denn ihr ist bewusst, dass es bei uns zurzeit unerträglich ist, was sich aber hoffentlich bald ändern wird. Mama meint damit, dass Omi ja nun bald genesen müsste. Sie kommt gar nicht darauf, dass Omi es nicht schaffen könnte. Für uns alle ist so etwas undenkbar. Und während wir auf ihre Genesung warten, schwinden Omis Kräfte immer mehr.

    Eines Morgens wacht sie nicht mehr auf. Ich merke es nicht, weil ich schon früh zur Arbeit muss und es eilig habe. Als ich abends nach Hause komme, liegt Omi mit gefalteten Händen in Mamas Bett – bereits für den Sarg hergerichtet. Neben ihr stehen ein Blumenstrauß und eine Haushaltskerze, die aber nicht brennt. Als ich dieses Bild sehe, schreie ich auf, denn ich wollte Omi eben begrüßen. Es war niemand zu Hause, der mich warnen konnte.

    Im ersten Schreck reiße ich die Schlafzimmertür wieder zu, dann aber öffne ich sie vorsichtig und gehe hinein – auf Zehenspitzen. Ich beuge mich über Omi, sehe sie mir genau an – das Gesichtchen wirkt klein und eingefallen, die ganze Gestalt so arm und einsam. Tiefes Mitleid erfasst mich – mein Gott…

    Ich berühre Omis Wange und erschrecke mich vor der Kälte, die ich spüre. Ich trete einen Schritt zurück und betrachte die kleine Person noch einmal. In diesem Moment kommt sie mir fremd vor. Das ist sie nicht, geht es mir durch den Sinn, das hier hat mit Omi nichts mehr zu tun. Sachlich denke ich: »Ob sie schon unterwegs ist? Aber wohin?« Mit Macht wird mir plötzlich bewusst, dass sie nicht mehr da ist. Das Atmen fällt mir schwer. Ich verlasse den Raum. Der Schmerz will sich Bahn brechen, aber ich erlaube es nicht.

    Gewohnheitsgemäß gehe ich in die Küche. Doch was will ich hier? Ratlos laufe ich herum, setze mich im Wohnzimmer ans Klavier und beginne zu spielen, aber selbst Pianissimo kommt mir zu laut vor – warum hat man eigentlich immer das Gefühl, leise sein zu müssen, wenn jemand gestorben ist?

    Eiskalt berührt mich noch einmal die ganze unwiderrufliche Wahrheit: meine Omi ist gestorben, sie ist weg – für immer!

    Jegliche Distanz zum Geschehen, die ich mir wohl bewahren wollte, ist verschwunden. »Das Wort 'Sterben' sollte man verbieten«, denke ich wie zum Trotz, und versuche, mich zur Ruhe zu zwingen. »Außerdem war sie schon zu Lebzeiten ein Engel!« Merkwürdigerweise tröstet mich der Gedanke. Leise lasse ich die ersten Akkorde zu ihrem Lieblingslied anklingen. Aber jetzt verliere ich den letzten Rest meiner Fassung. Ich kann mich vor Tränen nicht halten.

    Irgendwann endlich dreht sich der Schlüssel im Wohnungstürschloss. Mama und Papa kommen nach Hause. »Wo wart ihr denn«, schluchze ich ihnen entgegen, »ich wusste ja nicht, dass Omi…«

    »Ja, es ging nicht anders«, bedauert Mama, »aber in so einem Fall gibt es gleich so viel Rennerei.«

    Die Wohnungstür klappt nochmals, Peter kommt nach Hause. »Wo wart ihr denn so lange?«, fragt auch er.

    »Ja, es hat sich etwas verzögert«, sagt Papa. »wir haben den Sarg bestellt und dann noch Möbel gekauft.«

    »Waaas habt ihr?« Ich kann es nicht fassen.

    »Den Sarg bestellt und auch noch Möbel gekauft, ja!!«, wiederholt Papa. »Wie soll Mama denn je wieder in dem Bett schlafen können, in dem ihre Mutter gestorben ist! Das ganze Zimmer muss renoviert werden! «

    »Also wirklich! Omi ist gerade gestorben, und ihr kauft schon Möbel! « Mein Ton klingt ziemlich anmaßend.

    »Ja, wie denkst du dir das denn!« Papa ist ärgerlich. »Die Nächte bisher waren und sind jetzt erst recht eine Qual für Mama. Soll sie wegen der Pietät weiter auf der Couch schlafen oder im Feldbett? Das ganze Zimmer muss verändert werden! Es darf überhaupt keine Ähnlichkeit mehr mit dem hier haben!«

    »Papa hat Recht«, pflichtet Mama ihm bei. »Aber am liebsten würde ich hier ausziehen!« Mama sieht schlimm aus, so, als sei sie selbst lange Zeit krank gewesen.

    »Ja«, denke ich, »es war richtig, dass sie gleich Möbel gekauft haben.« Ich verstehe es jetzt, Mama wird sowieso über Omis Tod schwer hinwegkommen! Immerhin hat sie ihre Mama verloren… »Was habt ihr denn gekauft?«, frage ich, mich zur Sachlichkeit zwingend.

    »Eine Doppelbettcouch, zwei Sessel, einen Tisch, dazu eine Stehlampe, einen alten Schreibtisch und eine Musiktruhe!«

    »Ach! Und das habt ihr alles so schnell kaufen können?« Ich bin erstaunt. »Wo gibt’s denn so etwas?«

    »Alles beim Altwarenhändler«, sagt Papa. »Die Sachen sind fast neu, und sie waren nicht teuer!«

    Jetzt lächelt sogar Mama. »Neu hätten wir uns das alles nicht leisten können, hätten wir ja auch für den Preis nirgends gekriegt! Sie liefern sogar frei Haus! Nächste Woche! Wir kamen zufällig an dem Laden vorbei. Es war eine Gelegenheit.«

    »Wann ist denn

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