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Der Waffenmeister des Königs
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eBook449 Seiten7 Stunden

Der Waffenmeister des Königs

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Über dieses E-Book

In den Wirren und Scharmützel um die Schlacht am Lechfeld (955 n.Chr.) über­lebt Michael als einziger seiner Familie und Freunde einen feigen mörderischen Raubüberfall, der den marodierenden Magyaren angehängt wer­den soll.

Auf seiner Flucht in den Süden trifft Michael auf Johannes, einen Eremiten, der ihn durch sein umfang­reiches Wissen derart in Bann zieht, so­dass er gerne in dessen Dienste eintritt, um einerseits Lesen und Schreiben zu lernen und dann auch in Mechanik und physika­lische Techni­ken ein­geweiht zu werden, die ihn seit jeher faszinierten. Die Kunst, einen Bogen zu bauen, das Wissen darüber, wie man Kräfte verteilen und vervielfachen kann, der Bau von kleinen Mühlen und Anlagen, die bislang dem frühmittelalterlichen Auge und Geist kaum bekannt waren.

Nach seiner Lehrzeit bei Johannes begibt sich der Ju­gend­liche endgültig auf Wanderschaft in Richtung des sagenhaftes Lan­des, wo die Zitronen blühen sollen. Da das Hochgebirge im Spätherbst jedoch unpassierbar ist, verbleibt er in einem kleinen Ort am Fuße der Alpen, wo er vorerst durch seine Hauswirtin, eine Witwe in die für ihn neuartigen Geheim­nisse der Liebe eingeweiht wird. Dem ihm ebenso unbekannten Alkohol zugetan, lässt er sich auf weitere Affären mit verheirateten Frauen ein, was offenbar kein gutes Ende nehmen kann.

Als nicht nur Frau sondern auch die junge Tochter seines Lehrherrens Interesse an ihm zu zeigen beginnen, überstürzen sich die Ereignisse ...
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum17. Okt. 2014
ISBN9783958305441
Der Waffenmeister des Königs

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    Buchvorschau

    Der Waffenmeister des Königs - Marion deSanters

    respektieren!

    Trübe Erinnerungen

    Ich kann nur mit dem Bewusstsein der im Nachhinein betrachteten und wissentlichen Ereignisse ungefähr erahnen, wann ich geboren wurde, und gleichermaßen kann ich auch nur recht ungenau sagen, wie jene Gegend oder auch nur Landstrich hießen, auf welchem das Haus meiner Eltern stand. Das heißt, Hütte oder Unterschlupf wäre wohl die bessere Bezeichnung gewesen, aber wenigstens hatten wir trotz all der Wirren der Zeiten von Anfang an ein Dach über dem Kopf, solange ich mich erinnern kann.

    Dieses unsichere Wissen über meine Herkunft und meinen wirklichen Stand hat weitaus weniger damit zu tun, dass ich etwa den Namen vergessen hätte, sondern dass es seinerzeit dafür gar keine konkrete Bezeichnung gab, wo sich dieser Unterschlupf zum Teil gut getarnt zwischen Wald, Wiese und Fluss hinein gezwängt hatte.

    Lech - so hieß der Fluss, das wusste ich von Anfang an mit Sicherheit – und die Tücken dieses Gewässers wurden uns quasi schon als Kinder warnend mit in die Wiege hinein gelegt. Nicht dass ich damit andeuten will, dass ein Knabe von fünf oder sechs oder auch neun Jahren wirklich einzuschätzen vermag, was gefährlich ist und woher die Gefahr auch stammen mag, aber es war faszinierend und zugleich erschütternd zu beobachten, wie rasch sich die Wassermassen in dem sonst beengten Flussbeet ausweiten konnten. Und wie leicht und gerne sich der Fluss in den Auen zu manchen Zeiten gerne breit machte, wo er sonst die meiste Zeit das Jahr über in trägen Mäandern sich zu verlaufen schien. Und manchmal, meist aber im Frühjahr, wenn die große Schneeschmelze der weit entfernten und weiß bedeckten Berge einsetzte, dann trat diese Lech derart rasch und intensiv über die Ufer, dass man dem Anschwellen und der steigenden Kraft direkt mit Erschaudern zusehen konnte. Konnte man sonst glauben, dass ihm das Ufer ein Gürtel wäre und Grenzen setzte, so erkannte man sehr rasch, dass keine Gewalt auf dieser Erde wohl die wahre Urgewalt, die in ihm schlummerte, hemmen konnte.

    Und dieser Fluss riss somit alles mit, was sich ihm und seinem Verlauf in den Weg gestellt hätte, egal ob Baum oder Haus oder Vieh oder auch Mensch – wir alle waren nur ein Spielball seiner Kräfte.

    Aus diesem Grund heraus war unsere Hütte auf einer leichten Anhöhe errichtet worden, entstanden wohl über die Zeiten und Jahre durch verschiedene Anbauten und Reparaturen und Erneuerungen, teils auch getrieben davon, dass fast jedes Jahr ein neues hungriges Maul gestopft werden musste, oder ob es nun neben den Hühnern und Enten auch andere Tiere zu füttern und verwahren gab. Und dann wiederum entstanden eher Scheunen oder Verschläge, wo so manche Ernte zumindest vorübergehend geschützt vor dem Wetter untergebracht werden konnte. Es waren oft eilends erbaute Konstrukte, teils eher zeltartig zusammen geschichtete Stämme und Zweige darüber geschichtet, die dann mit Lehm verschmiert worden waren und ein Behelfsdach bildeten, das nur in sehr wenigen Bereichen des Hauses so gedeckt war, dass es auch dem stärkeren Regen strotze und die Nässe nach außen abhalten konnte. Und auch die Schneelast im Winter stellte eine nicht zu unterschätzende Gefahr dar, die Balken und Tramen darunter durchaus knicken ließ.

    Schilfgeflechte und Lehm, Lianen und hanfartige Schnüre und Verbindungen aus dem herzustellen, was in der Natur um uns herum zuhauf sich anbot, das lernte ich schon als kleines Kind kennen – und von alledem hatten es mir vor allem die Schnüre und Stricke angetan und die Möglichkeiten, damit etwa Holz und Stämme und Äste biegen zu können, geschmeidig zu machen und daraus einerseits kindliches Spielzeug in unserer Phantasie herstellen zu vermögen aber auch Dinge des täglichen Lebens, die uns zum Teil die Handhabung erleichterten: aber dazu später noch mehr im Detail, was ich damit denn genau meinte.

    Wenn ich sage, ich könnte nicht sagen, wo unser Haus, diese Hütte, dieser Unterschlupf entlang des Lech gestanden ist, dann vor allem auch deswegen, dass sich in meiner Abwesenheit die Natur alles derart zurück genommen hatte, was wir ihr spärlich abzuringen versucht hatten, dass wohl kaum noch jemand erkannt hätte, wo die Bretter und Löcher und Scheunen zu stehen vermochten, in denen wir seinerzeit hausten. Von einer Grundfeste oder einem gemauerten Bereich, ja gar einem Kellerbereich, wie ich diesen später in städtischen Bauten viel tiefer im Süden und gar nicht mehr in unseren Landen kennen lernte, war ohnehin niemals die Rede gewesen. Wenn der Fluss die Bretter wegspülte und die Wände wegriss, die das Haus bestimmten, dann war wohl spätestens im nächsten Jahr nichts mehr davon zu sehen. Nicht mal mehr eine Ausbuchtung oder eine Grube hätte darauf hin gedeutet, dass dort einmal ein Haus gestanden war, so sehr wären Schlamm und Schwebestoffe der Lech darüber glättend gezogen worden.

    Die Lichtung vielleicht, die sich doch um unseren Wohnbereich aufgetan hatte, und die meine Mutter vor allem zu ihren Hausgarten umwidmete, die würde noch einige Jahre in Anspruch genommen haben, um wieder zuwachsen und verwildern zu können und dann mit jenen typischen Pflanzen überwuchert zu sein, die in den weitläufigen Auen heimisch waren. Dann blühten dort sicher weniger tiefgelbe Ringelblumen, aus denen Salben hergestellt wurden, wenn wir uns die Knie beim Spielen und Toben aufgestoßen hatten. Und all die anderen wunderbar duftenden Blumen – wer weiß, vielleicht überdauerten diese sogar den Ansturm der Natur und erfreuten immer noch das Herz eines zufällig vorbei kommenden Wanderers, jedenfalls aber das von Bienen und Schmetterlingen. Dieser Ort, umschwirrt und umsurrt von diesen kleinen Lebewesen war immer wie ein kleiner Rückzugsort von meiner Mutter gewesen– wenn sie sich einmal die Zeit nahm, um kurz auszuruhen und nicht Tag und Nacht sich abrackerte.

    Und dort bei dieser Bank war ja dann auch ihr Grab gewesen, wo ich diese letzte traurige Pflicht all denen erwei-sen musste, die es  nicht so wie ich geschafft hatten, dem feigen Überfall und dem mannigfaltigen Morden zu entgehen.

    Es wäre also auch mit Sicherheit nicht möglich, noch Reste zu finden, oder käme wohl einem jahrelangen Suchen nach der Nadel im Heuhaufen gleich, wenn ich nun in meinem hohen Alter das Grab aufsuchen wollte, in dem ich seinerzeit als gerade mal neunjähriger meine Eltern und all die vielen Angehörigen dazu verscharrt hatte, von denen noch Reste übergeblieben waren …

    Und ob ich wirklich das Bedürfnis in mir verspürte, an jenen Ort und somit auch das direkte Grauen zurück erinnert zu werden, das wagte ich mir gar nicht auszudenken. Viel zu virulent waren auch so stets die Erinnerungen in mir wach geworden, die mich über Jahre hinweg kaum schlafen ließen oder immer wieder aus dem Reich der Träume hoch schnellen, mit kaltem Schweiß auf Stirne und Brust und einem erstickenden Schrei auf den Lippen … niemals sicher gewesen, ob ich nur im Traum wie irr um Hilfe geschrien hatte, um die Räuber und Mörder zu verjagen oder auch in Realität.

    Und wie es denn hatte sein können, dass ich der einzige war, der diesem Gemetzel und Morden entgangen war ...

    Mit jedem Frühjahr, jedem Sommer, wenn es etwa stark regnete, da konnte ich sogar als Kind mich daran erinnern, dass sich der Lauf des Flusses immer wieder stark änderte: wo im Vorjahr noch Wiese war, hatte sich oft genug ein Seitenarm dieses Flusses breit gemacht, sei es nur für eine Jahreszeit oder aber auch permanent, wie es uns erschien. Und anderswo, dort wo seine fließende Kraft Schlamm und teils auch Geröll wohl aus dem Gebirge abgelagert hatte, da ergaben sich für das laufende Jahr dann neue fruchtbare Anbauflächen, wo mein Vater das auszusäen gedachte, wovon wir sodann ein Jahr lang uns ernähren mussten oder aber Teile davon verkauften, falls wir doch ein wenig im Übermaß geerntet hatten. Oder aber es wurde mit Teilen der Ernte das Vieh gefüttert, das wir dann, wenn es fett war, im Herbst wiederum auf einem der Märkte und Messen in der Stadt verkaufen konnten. Wobei, wenn ich von der Stadt und diesen Dingen so rede, als wenn ich dabei gewesen wäre, so kann ich nur sagen, dass ich dafür zu jung war, um jene Ortschaften als Kind je mit meinen eigenen Augen gesehen zu haben.

    Ab dem Alter von zehn Jahren hätte ich dann mitkommen sollen, so hieß es, dann wäre ich wohl alt und stark und auch groß genug, den Kräfte raubenden Tagesmarsch durch halten zu können – und das wäre eben im Jahr darauf gewesen und nicht im für uns so schicksalhaften Jahr des Herren 955, im August … und eben in jenen Landstrichen, die später als Lechfeld wegen der darauf erfolgten Schlacht in der geschichtliche Beschreibung einen bedeutenden Eingang finden sollten.

    Was wir auf den Feldern so anbauten, da glaube ich, es war eher Hirse und Roggen und Hafer als Weizen, was wir kultivieren konnten, denn einerseits waren die Böden dafür nicht so gut geeignet, wie ich mich der Gespräche entsinnen kann, ohne aber den Grund verstanden zu haben. Und dann schienen Gebote und Verbote zu existieren, die ich nur wieder geben konnte, nicht aber verstand oder direkt gehört oder gelesen hätte. Ach ja – gelesen … das war auch ein Punkt, von dem ich sehr lange keine Ahnung hatte, wo es ja nicht im geringsten die Möglichkeit gab, Schrift und Sprache so zu erlernen, wie es manche Städter beherrschten oder aber vor allem die Geistlichkeit.

    Mein Vater, so hörte und wusste ich von ihm, konnte lesen und schreiben. Aber weder sagte er mir je, wo er dies erlernt hatte, noch fand er die Zeit, dieses Wissen an mich oder ein anderes meiner Geschwister weiter zu geben. Sicherlich war ich zu jung und viel zu unerfahren und auch schüchtern, ihn direkter zu fragen und zu bitten, wenigstens im Winter, wenn die Arbeit weniger war, mir einige Buchstaben zu zeigen oder auch Rechenschritte. Aber ich hatte auch den Eindruck, dass im Umfeld dieses Wissens etwas geschehen war, das seinen Geist betrübte. Oder besser gesagt, er sich an Geschehnisse zurück erinnern musste, die er lieber verdrängte, über die er vielleicht nur mit meiner Mutter sprach, die wohl die einzige war, die ihn auch von früher her kennen mochte, als er noch nicht Bauer in dieser fast Gott verlassenen Gegend war.

    Und selbst meine Mutter war in diesen Belangen sehr schweigsam – sie lehrte uns lieber Lieder und Gedichte oder aber, was wichtiger für uns alle war, zu unterscheiden und erkennen, ob nun ein Pilz genießbar war oder aber giftig. Und bei Beeren und Kräutern zeigte sie uns ebenso, woran wir diese feinen Unterschiede erkennen konnten und welches Kraut und welche Wurzel somit gegen welche Krankheit und Übelkeit gewachsen war und wahre Wunder bewirken konnte. Und in welcher minimalen Dosis man etwa Frauenkraut oder aber verlockend tief blaue schwarze Tollkirschen zu sich nehmen konnte, um besonders munter zu bleiben. Nur wenn man diese Menge nicht beachtete, dann wäre das genaue Gegenteil erreicht und man wäre nicht munter, sondern schlief wohl sein restliches Leben lang – eine für mich faszinierende kleine natürliche Wissenschaft, die sich da auftat, mich aber dennoch nicht in jenen Bann ziehen konnte wie andere teils geradezu banal erscheinende Dinge des täglichen Lebens. Etwa wie man es schaffte, sich Werkzeug oder Hilfsmittel so anzueignen, dass die Arbeit nicht so hart und schweißtreibend war und wie man auch ohne Tiere größere Lasten heben und verschieben konnte oder wie man die Kraft und Spannung von gebogenen Stöcken und Bäumen ausnützen konnte, um damit Dinge in die Luft zu schleudern.

    Vor allem dieses Werfen und Schleudern und Losschnellen lassen von Steinen und Stöcken und die Beobachtung der Flugbahnen und ihre Unterschiede waren es, die mich in Bann zogen. Ich hatte keine Hilfsmittel am Anfang, keine Messer, keine Axt und keine Säge, die bestens verwahrt von meinem Vater in einer versperrten Kiste aufgehoben wurden und wie ein Schatz gehütet wurden. Also konnte ich nur mit der Kraft meiner Hände und mit Lianen und anderem Geflecht mir helfen, diverse Hölzer und Stöcke zusammen zu stecken und miteinander verbinden. Wenn ich eine Säge oder Feile oder Reibe benötigte, dann fand ich schon die entsprechenden Hilfsmittel in Form von scharfen Steinen oder geschlagenen Klingen, mit denen ich sodann schaben und polieren, schneiden und kerben konnte, so wie es eben meiner kindlichen Vorstellung genügte.

    Insbesondere das Anfertigen von Pfeil und Bogen hatte es mir von allem Anfang an angetan, ohne dass ich jetzt oder damals eine direkte Begründung dafür hätte abgeben können. Ich weiß nur, dass ich schon als Kind damit begonnen hatte, Stöcke so zu biegen oder zu formen, dass sie möglichst weit mithilfe einer gespannten Sehne geschleudert werden konnten. Und dass ich mit diesen kindlichen spielerischen Untersuchungen für mich zu einer Zeit begonnen hatte, als ich noch niemals einen wirklichen Bogen oder einen Pfeil gesehen hatte, mit dem man jagen konnte oder aber auch diesen als tödliche Waffe einsetzen: nicht nur gegen das Tier, sondern vor allem eben auch gegen Menschen, waren es nun Krieger des feindlichen Heeres oder aber Bürger und Bauern so wie wir, die schutzlos gegen solche Waffen waren.

    Was ich mich erinnern kann, so erkannte ich bereits sehr bald als kleines Kind schon, dass die pure Muskelkraft wohl niemals ausreichen würde, um Dinge zu bewegen, Steine zu schleudern, Pfeile zu schießen, sondern dass es immer Hilfsmittel zu geben schien, welche den Kraftaufwand erheblich reduzierten. Manchmal war es leichter, etwa eine Sehne zu spannen, indem ich dies nicht mit roher Gewalt und Spannung durch meine kindlichen Finger versuchte, sondern ich entdeckte etwa, dass ich mehr Kraft hatte, wenn ich nicht die Hände verwendete, sondern sogar meine Füße. Nun sah es wohl wirklich fast lächerlich, in jedem Fall aber komplett ungewohnt aus, am Rücken zu liegen und so zu schießen, aber der Erfolg gab mir sogar mehr als recht. Und in Wirklichkeit war es nur eine Frage des Ziels, das man erreichen wollte und nicht unbedingt des Weges, wie man dort hin gelangen wollte. Wenn es mir darum ging, mit meiner reinen Muskelkraft möglichst weit einen Pfeil zu befördern, dann hatte ich nur in dieser liegenden Position die besten Chancen. Stand ich aufrecht und so, wie all die anderen Kinder und Geschwister es instinktiv taten, so flog der Pfeil um viele Fuß weniger weit als der meine. Und dass ich mit meiner Liegetechnik sogar meine um etliche Jahre ältere Kumpanen übertrumpfen konnte, gab mir ein wunderbares innerliches Gefühl, etwas entdeckt zu haben, was eine Verbesserung darstellte und eine gewisse Überlegenheit in der Technik.

    Dass ich diese technische Überlegenheit aber dann durch wütende Fäuste und Hiebe immer wieder spüren musste, war der schale Seiteneffekt meiner frühen Erkenntnis über Mechanik und Physik, ohne je diese hier verwendeten Begriffe zu diesem Zeitpunkt gehört zu haben.

    Ich denke, dass meine Mutter am meisten wusste, woher ich die Kratzer und blauen Flecken immer wieder hatte und dass ich nicht von Dornen alleine so aussah und durch Stürze von Baum und Strauch. Denn wenn ich meine Brüder noch verraten hätte, so würden sie mich in der Lech untertauchen und ersaufen wie die Katzen, hatten sie mir gedroht. Und selbst wenn es grotesk erscheinen mag, wenn ich sage, dass wir uns sonst aber gut vertrugen und eine verschworene Einheit bildeten, dann war entsprach das schon den Tatsachen.

    Man könnte es auch anders bezeichnen – die längste Zeit, an die ich mich als Kind erinnern kann, wuchsen wir auf wie die Tiere oder auch die Wachhunde dieses Gehöfts. Kaum jemand kümmerte sich direkt um uns und auch umgekehrt, wir sahen als Geschwister und großer Familienverband einfach der eine auf den anderen und der ältere auf die jüngeren vor allem. So hatten wir allesamt unsere teils stetig wachsenden Aufgaben zu erledigen, die meistens mit dem Hüten der Tiere, dem Sammeln von Pilzen und Beeren sowie Schilf und Holz und Lianen verbunden waren. Es gab aber nichts, was über das notwendige zum Leben und Überleben hinaus ging, das wir sonst erlernt hätten. Nicht einmal das, was ich später mit Staunen sehen sollte und auch konnte, was als Buch bezeichnet wurde, hätte es bei uns gegeben … aber da waren wir und unsere Familie wohl wahrlich nicht die einzigen in der ganzen Gegend. Wir hätten es alle nur ehrfurchtsvoll durchblättern können und uns über die kunstvoll gedrehten Schnörksel auf dem Pergament wundern, was sie wohl bedeuteten. Und nur die Gelehrten, darunter eben die Pfaffen und die Adeligen und die Richter und die hohen Bürger, die ich aber nie zu Gesicht bekommen hatte zu dem Zeitpunkt, die waren angeblich dieser Sprache mächtig.

    Und auch wenn zu dem Zeitpunkt meines Tuns und Wirkens keinesfalls die Aussicht bestand, dass ich so etwas einmal je wissen könnte und sollte, so hatte das Bewusstsein alleine doch einen gewissen tiefen Eindruck in mir hinterlassen. Das alles, obwohl ich ja nicht einmal je ein Buch bis dahin gesehen hatte und so auch nicht einmal die Möglichkeit gehabt hatte, einer Idee zu folgen, was denn Schrift wäre und was davon als mächtig und wichtig zu bezeichnen gewesen wäre. Aber der Eindruck in mir war jedenfalls bemerkenswert.

    Als Haus oder Hof konnte man nach den Begriffen, was ich später alles gesehen hatte, unsere Bleibe keineswegs titulieren, aber es gab uns doch genau jene Menge an Schutz und Unterschlupf, die wir auch als Familienverband dringend benötigten. Warum wir für meine Begriffe so weit weg unterhalb der nächsten Stadt, ja sogar auch von jeder noch so kleinen Ortschaft waren und wohnten, konnte ich auch nicht erklären: Ich bildete mir eher im Nachhinein meinen Reim daraus, dass sich vor allem mein Vater dort am ehesten versteckte oder es einfach aus unterschiedlichen Gründen in der Stadt nicht aushielt.

    Vielleicht wurde er sogar von den Obrigkeiten gesucht, aber das heißt keineswegs, dass er ein Verbrecher oder Dieb war, denn diese Beschuldigungen bis hin zu gar Verurteilungen waren so schnell und rasch ohne Beweis erbracht worden und ehrliche Gerichtsverfahren waren ein derartiges Fremdwort, dass es nur dann gerade überhaupt welche gab, wenn es auf Leben und Tod herging. Und auch dies, so würde ich später aber erst feststellen und zum Teil miterleben können, waren nur marktschreierische Aufführungen, als wollte man auf diese Art und Weise das Volk scheinbar beruhigen, selbst wenn ein jeder wusste, dass mit der Rechtsprechung keinesfalls Gerechtigkeit gesprochen wurde.

    Aber wie gesagt, es kann ja auch sein, dass mein Vater nicht mit anderen Menschen auf einem engen Raum wohnen wollte und konnte, hinter Schutzwälle und Mauern eng zusammen gepfercht, weil nur diese ein wenig Einhalt bieten konnten vor häufigen Überfällen und Übergriffen.

    Reitervolk vor allem aus dem Osten sollte es sein, das die Gegend schon so lange terrorisierte, dass sich selbst die Ältesten an keine Kindheit zurück ersinnen konnten, wo die Gegend nicht von dieser Plage heimgesucht worden war. Wie die Heuschrecken die Gefahr für die Ernte darstellten, so waren es diese marodierenden Reiterbanden, die fast pünktlich sich ab Juni oder spätestens August einstellten, um ihr Unwesen zu treiben. Nachfahren der Hunnen waren es, wie manche behaupteten und das in einer Ausdrucksweise deklarierten, dass ein jeder innerlich zitterte und erschau-derte. Wer aber diese Hunnen gewesen waren, konnte mir keiner sagen, außer dass sie eine sehr ähnliche Taktik zu haben schienen wie die heutigen Reiter: blitzartig zuschlagen, reitend einen Regen von tödlichen Pfeilen verschießen, alles rauben, morden und niederbrennen, ehe sie wieder abzogen und alles mitschleppten, was nicht niet und nagelfest war.

    Und jedes Jahr seit Gedenken waren sie eingefallen, hatten marodiert, geplündert, geraubt und geschändet und waren dann wieder abgezogen in eine Ebene weit unterhalb von Györ und Sopron. Magyaren sollten es sein oder auch Ungarn, wie manche sagten – wobei mich weder die eine noch die andere Bezeichnung irgendwie deswegen anders stimmte. So sollten wir ja Franken sein, Ostfranken genau genommen, wie ich gehört hatte und als solches waren wir in einem Königreich, das nun von einem Otto regiert werden sollte, dem ersten eben mit diesem Namen. Oder aber von dem Geschlecht der Ottonen – und dem Vernehmen nach, ohne aber die Gespräche zu verstehen, die manchmal kurz angedeutet und beim Essen gemurmelt wurden, da sollte sich wieder eines der Kinder gegen seinen Vater zu stellen versuchen. Angeblich sollte sich der eine, hieß er nun Konrad der Rote oder war es Luitpold, sogar mit den direkten Feinden des Landes verbündet haben, um so an die Macht zu kommen und den Willen des Vaters hinsichtlich der Erbfolge zu ignorieren. Und Feinde des Landes oder des Königs, die schien es genug zu geben. Hunnen, Magyaren und Ungarn hatte ich schon oft genug gehört, aber dann gab es auch die Böhmen und die Slawen – ja quasi von überall her schien es Bedrohung auf die eine Art oder Weise zu geben, die das Reich ins Wanken bringen konnten.

    Wobei ich mir unter Reich nichts vorstellen konnte in dem Sinn, wie man da vorgehen sollte, um etwas zusammen zu halten, das schon aus so vielen Menschen und Städten und Interessen bestand, dass es bald verschiedener nicht hätte sein können. Gerade mal die Sprach war so halbwegs gemeinsam, wenn der Dialekt nicht zu wild und schnell gesprochen wurde. Und selbst diese Gleichheit war nicht mehr  gegeben, wenn man an die Ungarn dachte oder die Slawen, ja gar die Vikinger, die vom Norden her über das Meer eine stets Bedrohung darstellten. Von allen Seiten schien somit stets das Reich bedroht zu sein und es konnte auch dies der Grund sein, dass Otto stets mit seinem ganzen Hof unterwegs war und keine Hauptstadt gewählt hatte, wo er residierte. Und nicht nur von außen her drohte die Gefahr, sondern auch von innen, wenn wiederum ein Fürst sich abspalten wollte oder eben eines seiner Kinder die Erbfolge nicht so akezptieren wollte, wie vom Vater gedacht.

    Am wenigsten jedoch drohte Gefahr aus dem Süden, dort wo es warm und wärmer wurde, wenn man es geschafft hatte, dieses natürliche Bollwerk zu überwinden, das einem dafür entgegenstand. Die Alpen eben – ein hoher Gebirgszug, viele Tagesmärsche von uns entfernt. Und diese Berge dort sollten so hoch sein, dass ganz oben ewiger Winter herrschte – also immer Schnee und Eis, kein Grün und Gras … gerade mal viele Wasserfälle im Sommer, wenn der Schnee schmolz. Wenn man aber dann über diese Alpen und ihre Pässe gestiegen war, dann sollte es immer flacher und wärmer und schöner werden in dem darunter liegenden Land. Man sprach dort zwar eine andere Sprache und nicht ein wie bei uns fast überall, selbst in Dialektvarianten verständliches Deutsch, aber die Leute schienen wegen der vielen Sonne alleine schon freundlich und fröhlich zu sein. Und friedlich vor allem und singen bei der Arbeit und Wein trinken und … und überhaupt, alles schien anders zu sein, ein kindliches Paradies von einer Vorstellung.

    Und selbst die Bauten sollten ganz andere sein als hier bei uns, nicht so sehr Holz und Höhlen quasi, sondern viele Städte aus Stein und edlem Stein vor allem, weißer Marmor etwa. Das klang wie eine Vorstufe zum Paradies, stellte ich mir das Leben immer wieder in meiner kindlichen Gedankenwelt vor.

    Und dann sollte es dort auch Früchte geben, die ihr Fruchtfleisch unter einer dicken Schale verbargen, die man nicht essen konnte wie etwa bei uns den Apfel oder die Birne. Sondern man musste eben diese farbige Hülle entfernen und dann wäre die Frucht ein Genuss wie die Sünde auf Erde. Und so manche hätten auch fast gesagt, es war wohl nicht ein Apfel am biblischen Baum, sondern eine dieser gelben Früchte, die diese Eva so angelockt haben musste, davon zu kosten. Denn Apfel und Birne war ja etwas für uns allgegenwärtiges, das jedoch, was knallgelb war und als Zitrone bezeichnet wurde, das musste etwas ganz besonders wertvolles und wohl auch köstliches sein, denn sonst hätten wir ja auch diese Früchte bei uns daheim im Garten. Und dass wir die gleichen Früchte jetzt hätten wie im Garten Eden, das war kaum anzunehmen – nur wer das laut dachte, der wäre im Minimum vom Pfaffen gescholten worden, falls nicht gar noch ärgeres: der Ketzerei und Häresie und ähnlich gefährlich klingender Worte beschuldigt worden.

    Das wäre ja auch meine naheliegende Idee gewesen: diese Frucht, wie auch immer sie sich wohl auch über Kerne vermehren konnte, wie die Äpfel, an eine warme Stelle in unsere Erde zu setzen und zu hegen und pflegen und im Winter vielleicht auch die Triebe mit Heu und Stroh abdecken, um ein wenig Wärme unter Eis und Schnee dennoch bewahren zu können. Aber das schien wohl genau das Problem zu sein, dass etwa diese Pflanze unser Klima nicht ertragen konnte: zu nass vermutlich, zu kalt vor allem und dann so wenig Sonne vor allem in der klirrenden Zeit von Frost und Schnee. Aber in meinen kindlichen Vorstellungen, da würde ich einmal in meinem Leben mit Sicherheit diese leuchtende Frucht in meinen Händen halten, die Schale sodann in Streifen ziehen und das Fruchtfleisch mit einem Genuss in meinen Mund hinein stopfen, der kaum noch von dieser Welt sein mochte.

    So wie ich verstand oder besser gesagt zu hören glaubte, schien unser König Otto genau das zu machen, was auch etwa bei Bauern und Adeligen eben auch der Fall war. Der erstgeborene, natürlich nur ein Knabe, denn die Mädchen zählten nichts, die wurden gerade mal verheiratet … der älteste also, der schien alles zu bekommen, auf dass das Reich oder eben der Hof nicht geteilt werden mussten. Machterhaltung hieß dies wie ein Zauberwort, das ich auch versuchte, in meinen stets wachsenden Sprachschatz einzugliedern, ohne die wirkliche Auswirkung abmessen zu können, was dies denn in all seinen Konsequenzen bedeutete. Bei mir hatte es immer schon geheißen, dass ich eben nicht der erste, sondern der letzte war, der geboren wurde, also musste ich eben dann vom Hof gehen – früher oder später auf jeden Fall.

    Was nun ein König aber sein sollte und warum wir zu einem Reich gehören sollten und warum dieser nun diverse Rechte automatisch über uns und seine Untertanen haben sollte, verstand ich weder als Kind und später schon gar nicht als Erwachsener. Aber ich denke auch da ging ich so vor, wie wohl ein jeder Bewohner in seinem Reich gleichermaßen: eher nicht nachdenken, warum dies so war oder wie es vielleicht geändert werden konnte. Es schien ja von keinen direkten Belangen zu sein, wem man nun zugeteilt war – um das wahre Überleben musste man sich selbst kümmern und entsprechende Obsorge treffen. Nur dann, so hatte ich den Eindruck, wenn es um Krieg und gröbere geplante Überfälle ging, dann schien es so manche zu treffen, die mit dem Heer oder Tross mitgenommen wurden, ob sie nun wollten oder nicht. Für diese als solches teils Zwangsverpflichtete wurde gesorgt, was man so hörte, für diejenigen, die zurück blieben keinesfalls. Und falls, was oft genug ja auch der Fall war, der Mann nicht mehr aus dem Feldzug zurück kehrte, so gab es niemanden, der für diesen Verlust aufkam. Weder moralisch mit Zuspruch und auch nicht finanziell, indem man wenigstens eine kleine Leibrente gezahlt hätte. Nein, direkt im Gegenteil – wenn der Mann wieder heimkam, dann hatte er es offenbar überlebt. Und wenn nicht, dann tat man durchaus auch so, als hätte er die Gelegenheit genützt um Reißaus zu nehmen und anderswo ein anderes vielleicht sogar besseres und nicht so beschwerliches Leben zu beginnen.

    Und sei es eines im Jenseits, wie ja die Pfaffen dann immer so salbungsvoll von sich gaben – als wäre dies das anzustrebende Ziel im Leben … hin auf den Tod zu arbeiten, sich vorzubereiten und eben stets daran denken, dass man bereits morgen nicht mehr unter den Lebendigen weilen musste.

    Mag sein, so sagte ich mir, dass dies alles etwa ein Grund war, dass mein Vater sich solchen ungerechtfertigten Zugriffen für Kriegs- und Frondienste entzogen hatte, dereinst vielleicht … aber das war mein Gefühl angesichts dessen, dass ich von ihm immer den tiefen Eindruck hatte, dass er alles vehement ablehnte, was mit Kriegshandwerk zu tun hatte. Dabei war er stark und muskulös und scheute nicht, sich bei der Arbeit ins Zeug hinein zu legen – wahre Kräfte wie ein Ochse schien er dann zu entwickeln, wenn es gefragt war und sein musste.

    Und sein Oberkörper war muskulös, vor allem sein Nacken und seine Oberarme zeigten, dass er immer viel getragen, gehoben oder geschwungen hatte – die Dicke eines sonstigen Oberschenkels schienen sie zu haben, so dachte ich mir manchmal. Und wenn ich an die Narben dachte, die auch auf seiner Brust, niemals aber am Rücken zu sehen waren, dann schien es mir später auch nicht mehr so glaubwürdig zu sein, dass die von der Feldarbeit und von Tieren mit ihren Hörnern zugefügt worden waren. Zu glatt erschien mir die Wunde, jetzt im Wissen über Schwert, Pfeil und Speer, sodass ich immer sicherer mir bin, dass er früher auch in einem Heer gedient haben musste. Vielleicht sogar bei Otto oder eben dessen Vater Heinrich und vielleicht war ja sogar er auch jenseits der Alpen gewesen bei diesem einem Italienfeldzug, wo er doch vieles von jenen Landen zu wissen schien.

    Das von den Früchten etwa, den Zitronen … eben jenem Land, wo die Zitronen blühen.

    Aber als Kind fand ich es schade, dass er uns und mir nicht davon Geschichten erzählte, deren viele er sicherlich hätte schildern können. Es mussten ja nicht die Kriegs und Gräueltaten sein, die es uns als Abend oder Bettgeschichte erzählt hätte, sondern wie warm es dort war, wie die Blumen rochen und die Früchte schmeckten und wie die Häuser aussahen. Und ob es wirklich stimmte, dass es dort Wasser gab, das sauer schmeckte, als wäre darin Salz gelöst worden. Und wie es sein konnte, dass man so wertvolle Stoffe eben in das Wasser geschüttet hätte, wo wir uns wiederum kaum diese weißen Kristalle leisten konnten, die das Essen so trefflich würzten.

    Aber ich schweife schon wieder ab in meiner Erzählung – eben hin in jenes Land, wo es warm war und die Zitronen blühten …

    Wie weit weg nun aber jenes Land sein mochte, aus dem die alljährliche Bedrohung her stammte  und in welche Richtung hin man wie weit reisen musste, das konnte wohl keiner sagen, woher diese Magyaren denn genau kamen. Aus dem Bereich, dem Osten natürlich, wo die Sonne aufging, wo sie entlang eines großen Stromes, noch breiter und wilder als die Lech, Donau genannt, immer wieder herauf zogen und die Gegend terrorisierten und ganze Landstriche verwüsteten:

    Ja – das wussten wir alle und konnten es wiederholen und vor uns her plappern. Aber es war von keiner greifbaren Bedeutung für uns. Dem Vernehmen nach waren diese Horden immer nach der Schneeschmelze schon, also im April oder Mai aus ihren Gebieten weggezogen, um sodann im Juli oder spätestens August in unserer Gegend fette Beute zu machen. Natürlich hatte dieser Zeitplan auch damit zu tun, dass dann die Ernte schon oft genug abgeschlossen und eingefahren war – und es war wohl leichter, die Getreidespeicher zu plündern und leeren als selbst die anstrengende Feldarbeit zu verrichten. Im Gegenteil sogar – Felder, die noch nicht abgeerntet waren, wurden von ihnen mit der Flamme versehrt. Ein Geruch von Brand, auch Verwesung und Zerstörung zog hinter ihnen her und teils auch wieder vor ihnen, wenn sie dann im frühen Herbst mit Beute vollbeladen den Rückzug in ihre ungarische Tiefebene antraten.

    Nur wenige konnten glaubhaft behaupten, jemanden zu kennen, der aus dieser Gegend je zurück gekommen war. Und wenn, dann waren es nicht Händler mit Pferd und Wagen sondern Flößer, die eben auf dieser Donau ihre Waren in noch weiter unten liegenden Städte brachten. Städte, die noch bedeutend größer sein mussten als hier die nächst gelegene, die ich ja auch noch nie gesehen hatte.

    Sonst wusste man eher von jenen, die immer wieder über die hohen und fast stets mit Schnee bedeckten Alpen nach Süden reisten, um dort Handel zu betreiben und Waren aller Art dann auf dem beschwerlichen Landweg zu verteilen, die dorthin auf riesigen Schiffen gebracht worden waren. Auf diesen Wegen war die Natur weitaus gefährlicher als der Mensch – so schienen sich Risiko und Gewinnmöglichkeit in gewisser Hinsicht auszugleichen. Schöner in jedem Fall, das war die ganz eindeutige Meinung und die Schilderung von allen, ob sie nun überhaupt je dort gewesen waren oder auch nicht, das war über die Alpen dann hinunter in das warme und fruchtbare Land. In jenes Land, das früher den Römern vor allem als Heimat und Kern diente, ehe dieses Reich dann auch vor vielen Jahrhunderten durch den beständigen Völkeransturm aus dem Osten zu Fall gebracht worden war.

    Aber was hörte oder verstand ich gar schon von Geschichte und den Zusammenhängen in jenem Flecken Erde, das wir hier in den Auen des Lech bewohnten. Wenn jemand sagte, dass wir Franken waren, dann konnte ich genau so dazu nicken, wie wenn er gemeint hätte, wir wären aber vielleicht auch noch Sachsen oder Bayern oder … ich konnte nicht sagen, was unsere besondere Prägung nun gewesen wäre. Die Sprache alleine war es nicht – die war ähnlich zwischen uns, aber manchmal ja fast von Dorf zu Dorf wiederum ganz leicht verschieden, wenn sich dort ein sonderlicher Dialekt entwickeln konnte, weil etwa ein schroffer Berg dazwischen trennend stand und man sich nur selten sah. Oder aber auch anders ausgedrückt – warum sollte man einen beschwerlichen Weg etwa über die Berge sich antun, wenn man keinen triftigen Grund dazu hatte. Handel und Verkauf wäre der eine gewesen, aber wir alle hier, eben mit Ausnahme dann der angeblich Reichen in Augsburg, wir waren ja Bauern, Arbeiter, Tagelöhner, die quasi von der Hand in den Mund lebten und nicht Lager voll mit wertvoller Ware hatten. Gewürze etwa oder edle Stoffe und Düfte und Gold und Silber, Geschmeide und andere Schätze, die sich für uns so unerreichbar anhörten, dass ich sie immer im Bereich der Fabel und Sage angesiedelt sah.

    Und für viele andere Berufe, die es nur in der Stadt zu geben schien, weil die Menschen dort sich nicht alles selber machen konnten oder wollten, da brauchte man besondere Ausbildung oder aber Beziehungen und Mitgliedschaften in Zünften und Vereinigungen. Das waren alles Dinge, von denen ich damals, mit meinen gerade mal acht oder neun Jahren noch nicht einmal einen Hauch einer Ahnung hatte, dass es so etwas gab. Ein Schreiner etwa, ein Zimmermann, ein Fassbinder, ein Schmied, ein Köhler – geschweige denn von Berufen, die ich selbst später nie ganz verstanden hatte, warum diese gar so angesehen und wichtig waren. Wie etwa ein Schreiber oder ein Advokat oder ein Rechtsanwalt, der Unsummen an Geld für Leistungen verlangen konnte, die für niemanden von uns nachvollziehbar waren. Und bei diesen späteren Berufen da ging es auch immer um diese eine Wichtigkeit, die mir so lange ominös und nicht nachvollziehbar im Kopfe schwebte:

    Die Mächtigkeit des Lesens und Schreibens.

    Und vielleicht war es auch das am ehesten, was meinen Vater aus der Stadt vertrieben hatte aufs Land hin, dass er von einem dieser Winkeladvokaten ein Schriftstück vorgelegt bekommen hatte, um dieses zu unterschreiben. Und was ihm gesagt worden war, dass darauf stehen sollte, wo er doch nicht gut genug lesen konnte, das hatte nie und nimmer gestimmt – und davon schien er nicht nur ein einziger zu sein, der von den edlen Herren betrogen und um Haus und Hof, Gut und Land oder was auch immer so gebracht worden war.

    Aber das, um mich nun wohl ein letztes Mal zu wiederholen, ist alles Mutmaßung – wobei die möglichen Gründe erst über die Jahre in mir so entstanden sind.

    Als Kind war es in gewisser Hinsicht sogar einfach – wir lebten weit weg von einer Stadt und auch der nächsten Ortschaft, waren auf uns allein gestellt. Und wir, das waren die Eltern, meine Geschwister und dann auch noch Mägde und Knechte und teils auch deren Kinder. Wie viele wir wirklich waren – es klingt eigenartig,

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