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Am Ufer des Varmo: Dorfgeschichten
Am Ufer des Varmo: Dorfgeschichten
Am Ufer des Varmo: Dorfgeschichten
eBook229 Seiten3 Stunden

Am Ufer des Varmo: Dorfgeschichten

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Über dieses E-Book

Die Wiederentdeckung des bedeutendsten italienischen Romantikers

In seinen Dorfgeschichten, den Novelle paesane, beschreibt Ippolito Nievo die herbe Schönheit Friauls und stellt dem idyllischen Leben auf dem Lande die Dekadenz des Adels gegenüber. Er erzählt von der Lebensgeschichte zweier Müllerskinder und ihren wilden Spielen am Flussufer des Varmo; von einem beherzten Mädchen auf der Reise zu ihrem cholerakranken Bruder nach Brescia oder von zwei Liebenden, die am Hochmut eines italienischen Felix Krull fast zerbrechen.
SpracheDeutsch
HerausgeberFolio Verlag
Erscheinungsdatum23. März 2015
ISBN9783990370421
Am Ufer des Varmo: Dorfgeschichten

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    Buchvorschau

    Am Ufer des Varmo - Ippolito Nievo

    978-3-99037-042-1

    Am Ufer des Varmo

    Für Francesco Verzegnassi

    Die Bilder, die vom Gefühl vervielfacht werden und sich der Seele in Stunden des Friedens und der Güte einprägen, bevölkern mit ihren verschiedenen Phantasmen den Schrein des Herzens. Diese Erzählung, die sich an den Erinnerungen eines Spaziergangs inspiriert, den wir, die wir in Bezug auf unsere Werke und auf unsere Bildung so verschieden sind, gemeinsam unternahmen, bleibe bestehen: als Pfand der Freundschaft und der geistigen Übereinstimmung.

    I.

    Jedes noch so schlichte und spröde natürliche Gebilde vermittelt dem kundigen Betrachter eine einzigartige Poesie, und seine flüchtigen und zarten Schönheiten offenbaren sich umso mehr, je weniger offenkundig und augenscheinlich sie sind. Wenn ein Reisender den üppigen Landstrich um Treviso verlässt und nach dem Ponte della Delizia abbiegt und mit dem Trugbild des Reichtums vor Augen durch die karge Ebene, die vom Flussbett des Tagliamento ausgefüllt wird, nach Camino weiterwandert, sehnt er sich sofort nach den schwarzen Äckern von Oderzo und den laubreichen Hügeln um Conegliano zurück und würde die Kieswüste gern dem Pfeifen der Bora und den Wolkenbrüchen überlassen. Der Maler auf Schusters Rappen jedoch mit dem Ranzen auf dem Rücken und der Kunst im Herzen fühlte sich, selbst wenn er gerade aus Neapel oder der Schweiz käme, versucht, weiterzugehen; und tatsächlich würde er alsbald beinahe unwillkürlich stehen bleiben; umsonst allerdings, denn keine Palette wäre imstande, diese ursprüngliche Einfachheit, die mit keiner künstlichen zu vergleichen ist, wiederzugeben. Das sind die Landschaften, wo die Natur sich karg und majestätisch, stumm und erhaben, verschlossen und unendlich darstellt, wie die griechische Göttin Diana, die sich auf ihrem Weg vom Olymp in die Grotte einer Quelle nicht weniger stolz und göttlich zeigt. Nichts auf dieser Welt wird von diesem schimmernden Horizont übertroffen, der sich am Ufer des Tagliamento in tausend verschiedenen Schattierungen in der Unendlichkeit verliert, von den vielen Rinnsalen, die das breite Kiesbett wie ein Netz durchziehen und sich bei Sonnenuntergang in bebendes Silber verwandeln, wobei jedes Steinchen und jede sich kräuselnde Welle ein eigenes Licht verströmt, so wie jeder Stern im Blau der Nacht sein eigenes Licht entzündet, und die Wiesen ringsherum sich in gleicher Weise ausbreiten wie der Himmel sich in die Höhe wölbt; und die Türme der spärlichen Dörfer sich im Licht des Sonnenuntergangs hintereinander aufreihen, während ein Glockengebimmel herüberdringt, das aufgrund der Weite der Ebene und der Entfernung derart leise ist, dass man einen Chor von weder irdischen noch himmlischen Stimmen zu vernehmen glaubt, in dem sich die Gebete der Menschen auf geheimnisvolle Weise mit den Segenssprüchen der Engel vermischen. So erstirbt die ruhige Sonne, und die schneebedeckten Gipfel der fernen Alpenkette tauchen deren Kuss in ein jungfräuliches Licht, während die tiefer liegenden Hänge, die Ebene und die Luft dazwischen in einem Licht erstrahlen, das nur der Pinsel Gottes jemals wahrhaftig wird darstellen können. Dennoch hält dieser Landstrich nur Unfruchtbarkeit und Mühsal bereit, die Bäume sind krumm und zerzaust, bescheiden und baufällig sind die Häuser, schmucklos die Kirchen, armselig und wie zufällig zusammengewürfelt die Dörfer; aber über der offenkundigen Hässlichkeit liegt unsichtbar eine gewisse Atmosphäre des Friedens und der Heiterkeit, die üppigeren und fruchtbareren Landschaften oft fehlt und direkt zum Geist spricht, ohne den Umweg über die Augen zu nehmen. Denn bei jedem Schritt offenbaren sich im hellen Kies klare und ewige Quellen und hinter der schütteren Hecke dringt ein umso köstlicherer Veilchenduft hervor, und in der gesunden und klaren Luft liegt von morgens bis abends der fröhliche Gesang der Nachtigallen; hier grasen Herden mit kurzen und zarten Gliedern, die vor den vollen Futterkrippen der Ebene muhend zugrunde gehen würden; hier leben kräftige, einfache, ruhige Menschen, die in der harten und undankbaren Erde Wurzeln geschlagen haben und ihr zärtlich verbunden sind; hier gedeiht zwischen den Furchen die knotige, kümmerliche Ulme, und der Weinstock, dessen Trauben jahrelang den großzügigsten Wein des Friaul gegeben haben, rankt sich langsam an ihr empor; und jetzt stehen die beiden da wie zwei alte Eltern, die sich in stummer Trauer um den Verlust des einzigen Sohnes umarmen; und hier schließlich ist der üppige Maulbeerbaum tief in der Erde verwurzelt, allem zum Trotz, und wie durch ein Wunder steht er gerade und strahlend da und schmückt sich im Frühling mit den zarten, geäderten, glatten Blättern, aus denen Natur und Kunst die schönste Seide der Welt spinnen.

    Mitten in diesem Gebiet entspringt aus mehreren Quellen, die sich vielleicht aus unterirdischen Kanälen des nahen Tagliamento nähren, ein lieblicher Fluss namens Varmo, der hübsch und heiter anzusehen ist wie eine Waldnymphe, die von ihrer Anmut weder etwas weiß, noch sich um sie kümmert. Anders als bei Flüssen, die zur Bewässerung der Äcker genutzt werden, gibt es am Ufer weder Verzierungen noch Wälle, weder verdunkelt er sich unter Brückenbogen noch verliert er sich in den Kanälen einer Fabrik, sondern er fließt frei durch Felder und Wiesen, verzweigt sich zuweilen in mehrere Arme, um sich selbst zu umschlingen, und so bildet er Tümpel und kleine Teiche für Schnepfen und Enten; dann lässt er sich von einer Schlucht einsperren, als wäre er der Freiheit überdrüssig, aus der er gurgelnd wieder hervorbricht, um sich zwischen grünen Weidenwäldchen zu verbreiten, und wenn hin und wieder der Schatten eines Steges aus tonhaltiger Erde auf ihn fällt, macht er ihn sich zunutze, um den Fröschen und den Krebsen darunter ein undurchsichtiges Nest zu bauen, und wenn er hin und wieder über das Mühlrad stolpert, scheint er diese Abwechslung sogar zu genießen und es fröhlich zu drehen, und sich dabei in Form schillernder Tropfen oder wie ein Diamantregen zu zerstäuben.

    Erst seit wenigen Jahren spannen zwei Gemeindestraßen einen fünf Meter langen Bogen über das ruhige Wasser des Varmo; aber sie haben nur geringen Schaden angerichtet, und das stille Wasser hat sich gerächt, indem es im Herbst vor einigen Jahren die beiden Brücken gezwungen hat, einen grotesken Kniefall vor ihm zu machen; die Brücken wurden erneuert, aber etwas höher, sodass der schlaue Fluss etwas mehr Luft zum Atmen hatte, die Gemeinde brachte die ersten Kosten auf, und die Ingenieure jubelten. Gewiss, wenn der Gemeinderat von Anfang an davon überzeugt gewesen wäre, dass er dem aufmüpfigen Bastard des Tagliamento Gewalt antat, indem er ihm dieses leichte Joch auferlegte, hätte man die Furt einfach so gelassen, wie sie war, aber zu ihrem Glück hatten die Ratsherren nie einen Blick in den Spiegel der von Satyren bewohnten Wasser geworfen, noch hatten sie auf seinem vielfärbigen Grund die langen Büschel der in der Strömung wogenden, schwarzgrün gestreiften Algen gesehen, noch die orangenen Narzissenblätter, noch das schattige, samtartige Moos, weshalb in ihren von jeder Poesie befreiten Gehirnen auch nie die Angst aufkeimte, man könne eine Nymphe in ihrem Unterschlupf aufscheuchen, und so wurde der Übergriff begangen, den sie nun von Generation zu Generation büßen.

    Dennoch legte der Fluss aufgrund der Frechheit seiner Meister nie seine Unverschämtheit ab. In seinem leuchtenden Schoß haben in weniger bunten und fantastischen Grotten sanfte Aale und goldene Nattern ihr Reich errichtet.

    II.

    Allen diesen wunderbaren Schönheiten, die wir hier flüchtig aufgezählt haben, zollte der Varmo auf seinem Weg durch das armselige Dörfchen Glaunico freundlich Respekt; tatsächlich mangelt es in dieser Gegend nicht an Labyrinthen, Bächen, funkelnden Teichen und Grotten; und ebenso ist der Fischfang hier auch ertragreicher als an anderen Stellen des Flusslaufs; sogar während der Fasttage isst jede Familie zusätzlich zur Polenta mindestens einen Aal und bringt den Rest in einem Korb zum Verkauf in die Nachbarhäuser, sodass am Ende des Jahres der Ertrag den Zeitverlust und den Verschleiß der Netze wettmacht. Das Dorf ist, wie man sieht, weit davon entfernt, im Überfluss zu schwimmen, deshalb hat es den Entschluss gefasst, sich so zu zeigen, wie das Schicksal es gemacht hat, und selbst die Straßen sind so holprig und gefährlich, dass man beim ersten Schritt schon ahnt, in welch armseliges Dorf sie führen; außerdem sieht man schon in einer Meile Entfernung über den spärlichen Reihen der Weinstöcke die Strohdächer und die kaputten Schornsteine und den halb eingestürzten kleinen Campanile; wer an die Schwelle dieses armseligen Dorfes tritt und Buße für eine große Sünde leisten möchte, könnte fröhlich ausrufen: „Oh Gott, ich danke dir." Allerdings unternimmt der kleine Fluss Varmo tapfer alles, um das Elend erträglicher zu machen; und ich schwöre Euch, wenn man das auf den Kopf gestellte Bild der Häuschen von Glaunico in seinem tiefblauen, bebenden Spiegel sieht, wo die warmen Farben des Grundes sich mit dem Widerschein der Perspektive vermischen, legt der Geist die Traurigkeit ab; und die kleine Brücke und das Ufer und die Weiden, die ihre Äste in die Strömung hängen lassen, und die Herden, die ihre Nüstern benetzen, erwachen zu einem ganz neuen Leben und gewinnen eine derartige poetische Kraft, dass sie an die Bucolica und die Odyssee erinnern. Und auch die nahe Mühle raubt dieser Szene nicht die Anmut, wie es für gewöhnlich der Fall ist, wenn von Menschenhand Geschaffenes sich mit der Schönheit der Natur verbindet; sie verleiht der ländlichen Einsamkeit vielmehr eine entsprechende Bewegung, um nicht zu sagen Worte. Dennoch muss ich den Ausdruck „von Menschenhand geschaffen" gerechterweise zurücknehmen, denn die Mühle ist meines Erachtens nach so alt, dass die Natur sie wie aus einem Recht auf Verjährung heraus Stück für Stück zurückerobert hat; die Mauern sind abgebröckelt und von Pflanzen überwuchert, und das Dach ist so uneben und moosbedeckt, dass es wie ein Werk des Zufalls wirkt; und bei jeder Umdrehung des Rades wundert man sich, dass es nicht zerbricht; obgleich morsch und zahnlos, rumpelt es weiter, und während es früher auf das Schönste mit Flechten und Moos überzogen war, schmückt es sich jetzt mit hundert Wasserpflanzen; mich dünkt es ein Bild des alten Anakreon, der mit einem Rosenkranz auf dem Haupte ein Trinklied auf den Tod sang.

    Diese Mühle verfügt mittlerweile nur noch über eine Polentamahlanlage, aber in glücklicheren Zeiten mahlte sie schönen Weizen, und so stand sie schließlich verdientermaßen in hohem Ansehen. Mastro Simone, der Müller, rühmte sich ihrer zu Recht, und obwohl ihm von den vielen Söhnen nur der älteste geblieben war, der etwas abseits ein eigenes Haus bezogen hatte, lebte er mit seiner Frau in bescheidenem Wohlstand, und zum Wohlstand gesellen sich, wie alle wissen, gern Fröhlichkeit und Herzensfriede. Das war die schöne Zeit, als ein Scheffel gelben Mehls einen Händedruck kostete und der Wein in Strömen floss, und der Liebe Gott absichtlich Regen und Schönwetter, Leben und Tod schickte. Aber selbst damals galt das Sprichwort Bertoldos, wonach auf Sonne immer Regen folgt, und der seligen Harmonie wurde von einer Fieberseuche ein Ende gesetzt, der in Piave eine große Anzahl von Menschen zum Opfer fielen. Und für den Fall, dass Sie es nicht wissen, möchte ich an dieser Stelle sagen, dass Glaunico wie alle Dörfchen in der Gegend der Pfarre Pieve di Rosa untersteht; wo sich auch der Gemeindefriedhof befindet und wohin viele streitsüchtige Dorfbewohner gehen, um sich, nachdem sie sich lange gezankt haben, wieder zu versöhnen. Derweil wurden die Familien durch das Fieber schwer dezimiert, allein jene des Müllers war nicht weniger geworden, sondern hatte ein Familienmitglied dazu gewonnen, ein kleines Mädchen, das Fortunata genannt wurde und dem Brauch entsprechend Tina gerufen wurde; aber abgesehen von der Gesundheit ging auch diesen armen Teufeln jedes Vorhaben schief, weil sie im falschen Augenblick das Bedürfnis hatten, Schleusen und Dämme zu bauen, zu einer Jahreszeit, in der die Arbeitstage sehr teuer waren, und auch die Arbeit nicht voranging, da alle aus Angst vor der Krankheit zu Hause blieben; ein großer Verlust entstand zusätzlich wegen der liegen gelassenen Arbeit, und außerdem wurden in dieser Zeit vielen Mühlen in der Gegend die Aufträge entzogen. Trotz alledem überlebten die drei Unglücklichen den Sturm, und dem alten Simone war soviel Lebensmut geblieben, dass er nicht nur an sich dachte, sondern auch den anderen so gut wie möglich zu helfen versuchte. So hatte es eine unglückliche Nachbarin, eine Witwe mit einem vierjährigen Kind, nur ihm zu verdanken, dass sie den folgenden Winter überlebte. Aber dann wandten sich die Dinge zum Besseren, und als der Müller mit Ehrlichkeit und Fleiß den Großteil seiner Aufträge zurückerobert hatte, konnte er die Witwe ohne allzu große Einbußen unterstützen, im Winter darauf fiel jedoch auch sie der Auszehrung zum Opfer. Da überkam Simone eine düstere Stimmung, und schließlich öffnete er seiner Gattin seine Seele und beratschlagte sich mit ihr, was er nur in großer Bedrängnis zu tun pflegte, aus Angst vor ihrem übermäßig großen Glauben, wie er sagte. Es ging um das Schicksal des armen Jungen, den die Vorsehung als Waise zurückgelassen hatte, und wie ihr mir glauben könnt, veranlasste ihn dazu nicht das Gefühl christlicher Nächstenliebe, sondern das Vertrauen in sein Glück, und er legte ihr offen dar, was er für den Knaben empfand. Und als er mit seiner Erzählung fertig war, hob er den Blick und als er sah, dass sie ihn streng und finster anblickte, fuhr er mit honigsüßer Stimme fort:

    – Und so habe ich mich, meine liebe Polonia, mit Euch beraten, und Ihr solltet Euch mit dem Lieben Gott beraten, auf dass sein Wille geschehe. Aber ich bitte Euch, lasst Barmherzigkeit walten!

    Und nach einer kleinen Überwindung fügte er hinzu: – Meine liebe Polonia!

    Diese Zärtlichkeit, die er seit dem Abend vor der Hochzeit nicht mehr an den Tag gelegt hatte, verriet die Absicht, seine Gattin dazu zu bewegen, dem Kind gegenüber Milde walten zu lassen.

    – Was seid Ihr doch für ein wackerer Mann, antwortete sie, und so wie ihr Mann im honigsüßen Tonfall zu ihr gesprochen hatte, zwang auch sie ihre von Natur aus schrille Stimme zu einer künstlichen Disharmonie.

    – Wenn wir zwei unterschiedliche Haltungen einnehmen, beratschlagt Ihr Euch nie mit mir, aber wenn uns die Notwendigkeit zwingt, eine Partei zu ergreifen, erweist Ihr mir sehr wohl die Ehre! … Wem solltet Ihr mehr gehorchen als den Geboten Gottes! … Lasst dem Nächsten angedeihen, was Ihr Euch wünscht, dass man Euch angedeihen lässt, und versucht mich nicht mit Eurer Heuchelei zu überreden, lieber Simone! Bis heute morgen habt Ihr Euch um das Begräbnis der Ärmsten gekümmert, wollt Ihr den Toten zu Hilfe eilen und die Lebenden im Stich lassen? Ach, lieber Mann, man sieht wahrhaftig, wie das Alter Euch den Verstand raubt! Was für ein Glück, sagte sie dann, wobei sie sich in den Hüften wiegte, – dass ich jünger bin als Ihr! Und mit diesen Worten nahm sie Tina auf den Arm, die in ihrer Wiege zu wimmern begonnen hatte, entblößte ihre Brust und stillte sie, ohne sich weiter um den Müller zu kümmern.

    – Und?, wagte dieser zu fragen.

    – Und, und, seid Ihr seit heute Morgen taub? kreischte Polonia. – Nehmt halt den kleinen Bastard ins Haus, damit die Sache erledigt ist, und vor allem belästigt mich nicht damit, indem Ihr so tut, als würdet Ihr mich um Rat fragen; letzten Endes setzt Ihr ja doch Euren Willen durch, wenn es Euch in den Kram passt, wie man bei den Schleusen und dem Fluss gesehen hat …

    In diesem Augenblick stellte Simone fest, dass das Konsilium beendet war und sie schon wieder zu der abgestandenen Strafrede ansetzte, mit der sie seit einem Jahr die üble Gewohnheit krönte, ihn vom Morgen bis zum Abend schlecht zu behandeln. Deshalb schlich er hinaus, und kaum hatte er den Hof zur Hälfte durchquert, begann Polonia lächelnd und zärtlich mit ihrem Kind zu spielen, und als sie spürte, dass sie von einem neuen Zahn in die Brust gebissen wurde, kreischte sie spielerisch auf. Und als es endlich satt war, legte sie es auf ihren Schoß und sang es mit glockenheller Stimme in den Schlaf, und ihre Stimme war viel zärtlicher als der normale Klang ihrer Stimme, die ihrem Mann gegenüber immer herb und schrill war. Aber so war die Frau nun mal beschaffen. Und sie war für ihre vierzig Jahre noch so üppig und kräftig, dass es einen nicht wunderte, dass sie einen Engel in den Armen hielt, der gerade vom Himmel herabgestiegen war, nämlich Tina.

    III.

    Eine Stunde später kam der alte Simone ins Haus zurück, mit einem kleinen Zigeuner an der Hand, der so dreckig und ungehobelt war, dass er tatsächlich wie ein kleiner Bastard wirkte; unter dem Arm trug er ein Lumpenbündel, seine einzige Erbschaft. Als Polonia Pierino, den kleinen schwarzen Teufel mit dem Lumpenbündel sah, wie er dreckig und dürr vor ihr stand, raufte sie sich die Haare und begann zu kreischen, dass er sie ins Unglück stürzen würde und dass sie sich für den kleinen Strolch ausbluten würden, und die unaufhörlichen Wehklagen machten dem Kind ein wenig Angst; sodass es sich zwischen den Beinen des Müllers verkroch und ihn leise fragte, wann er ihn zu seiner Mutter zurückbringen würde.

    – Siehst du, was du mit deinem Kreischen anrichtest?, schrie Simone verärgert. – Das Kind lehnt sich auf und wird dich hassen, und so hast du zwei Kreuze zu tragen anstelle von einem; wenn du ihn hingegen behandelst wie unser eigen Fleisch und Blut, wirst du ihn formen wie Teig; und wenn er etwas größer ist, wird er dir helfen, das Vieh zu hüten oder auf die Kleine aufzupassen, wenn du auf den Markt gehst oder deine Cousine in Rivignano besuchst; und in der Fastenzeit werden wir ihn fischen schicken, und er wird dir die Schwarzgrundeln braten, von denen du jede Nacht träumst, und wegen der ich mir zu jeder Fastenzeit einen Haufen Vorwürfe und Gejammer anhören muss.

    – Ja, ja, antwortete Polonia noch immer schlecht gelaunt, packte Pierino an der Hand und blickte ihn mit finsterer Neugier und überhaupt nicht wohlwollend an. – Eigentlich müsste man ihm die Haut von der Fresse ziehen, die dreckiger ist, als es meine Füße sind, weil Ihr mich immer barfuß zur Messe schickt.

    – Nun kommt schon, ich habe

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