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Ich aber erforsche das Leben. Die Lebensgeschichte des Jean-Henri Fabre
Ich aber erforsche das Leben. Die Lebensgeschichte des Jean-Henri Fabre
Ich aber erforsche das Leben. Die Lebensgeschichte des Jean-Henri Fabre
eBook246 Seiten3 Stunden

Ich aber erforsche das Leben. Die Lebensgeschichte des Jean-Henri Fabre

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Über dieses E-Book

Lange Zeit vergessen, gilt der Naturforscher Jean-Henri Fabre (1823-1915) heute als Vorbild einer sanften Wissenschaft und eines anderen Umgangs mit der Natur. Vom Töten und Sezieren im Dienste der Wissenschaft hielt er wenig; Fabre praktizierte vielmehr das geduldige und unermüdliche Beobachten des Verhaltens von Insekten. Zu Lebzeiten blieben diesem »Homer der Insekten« Ruhm und Reichtum verwehrt, doch wurde die Schönheit seiner Sprache, sein Staunen über die Natur von Philosophen und Dichtern verehrt.

"Zur Einführung und Einstimmung in das Werk des großen Franzosen gibt es derzeit nichts Besseres!"
J.Janssen, amazon.de

Focus Bestenliste 27/95

SpracheDeutsch
HerausgeberMartin Auer
Erscheinungsdatum26. Feb. 2011
ISBN9781458072702
Ich aber erforsche das Leben. Die Lebensgeschichte des Jean-Henri Fabre
Autor

Martin Auer

Scroll down for English bio Martin Auer wurde 1951 in Wien geboren. Er hat die Universität besucht und dort ein Jahr lang das Studium von Germanistik und Geschichte und dann ein weiteres Jahr das Dolmetsch-Studium geschwänzt. Stattdessen hat er Theater gespielt. War sieben Jahre lang Schauspieler, Dramaturg und Musiker am „Theater im Künstlerhaus“. Hat dann eine Band gegründet. Ist als Liedermacher aufgetreten. Hat Gitarreunterricht gegeben. Die Weltrevolution vorbereitet (gratis). Als Texter für Werbung und Public Relations Übertriebenes, Unwahres und Einseitiges verbreitet (für Geld). Für Zeitungen gearbeitet. Sich zum Zauberkünstler ausgebildet. Ist bei Betriebsfesten und Kindergeburtstagen aufgetreten. Hat irgendwann einmal auch ein Kinderbuch geschrieben. Das 1986 veröffentlicht wurde. Seither betrachtet er sich als Schriftsteller und hat aus diesem Grund noch über vierzig weitere Bücher geschrieben, davon ca. zwei Drittel für Kinder. Auch einige Preise eingeheimst, z.B. den Kinderbuchpreis des Kultusministers von Nordrhein-Westfalen 1990, den Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis 1994, 1998 und 2000, den Förderpreis des österreichischen Bundesministeriums für Verkehr (das damals auch für Wissenschaft und Kunst zuständig war) 1996 und den Jugendbuchpreis der Stadt Wien 1997 und 2002. Er wurde nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 1997, und für den internationalen Hans-Christian Andersen-Preis 1997. 2005 wurde ihm für Verdienste um die Republik Österreich der Berufstitel Professor verliehen, was er ehrend, aber auch irgendwie lustig findet. Martin Auer ist Vater einer erwachsenen Tochter, Großvater von zwei etwas jüngeren Enkeln und Vater einer kleinen Tochter. Er lebt in Wien und hat keine Katzen. Martin Auer (pronounce as in “happy hour”)was born in 1951 in Vienna, Austria. He attended university but never really studied anything there. He was an actor, a musician, a singer-songwriter, a teacher, a journalist, a stage magician, a copy-writer for public relations agencies. His first book was published in 1986, and since then he has been a free lance writer. By now he has published over 40 books, among them childrens books which have won various awards and have been translated into several different languages.

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    Buchvorschau

    Ich aber erforsche das Leben. Die Lebensgeschichte des Jean-Henri Fabre - Martin Auer

    I

    Sonne

    In der lähmenden Hitze des Mittags, unter dem stählernen Blau des südfranzösischen Himmels, liegt ein kleiner alter Mann auf dem glühenden, von der Trockenheit steinhart gebackenen Lehmboden eines Feldrains. Nur ein schwarzer, breitkrempiger Filzhut schützt seinen Kopf vor der Ungnade der Sonne. Der alte Mann liegt auf dem Bauch und beobachtet geduldig eine Sandwespe.

    Das schwarze, vielleicht zwei Zentimeter lange Insekt mit den zottigen Beinen und dem roten Hinterleibsring gräbt mit seinen Kiefern ein Loch in die spärlich mit Gras durchwachsene Wegböschung. Ohne Hast nagt das Tier einen Gang in das Erdreich und schiebt, was es aufgeschürft hat, mit den Vorderbeinen fort. Wenn irgendein Steinchen besonders schwierig fortzuschaffen ist, hört der alte Mann vom Grunde des Schachts ein scharfes Knirschen. Der ganze Körper der Wespe vibriert dann vor Anstrengung, das ruft das Geräusch hervor. In kurzen Abständen kommt das Insekt mit einer Ladung Abraum zwischen den Kiefern ans Tageslicht, die es in einiger Entfernung vom Nest fallen läßt. Doch gewisse der ausgegrabenen Steinchen, bemerkt der alte Mann, finden wegen ihrer flachen Form und ihrer Größe besondere Beachtung. Die Wespe legt sie unmittelbar neben der Öffnung nieder.

    Der alte Mann wartet geduldig. Einmal holt er einen Apfel aus seiner Rocktasche und verspeist ihn, während er weiter den Nestbau beobachtet. Einmal gehen zwei Frauen vorbei, Bäuerinnen oder Landarbeiterfrauen aus der Gegend. Sie zeigen auf ihn und flüstern sich kichernd etwas zu. Der alte Mann bemerkt es. Aber er zuckt nicht einmal die Schultern.

    Gegen Abend ist das Nest noch nicht fertig. Die Sonne ist weitergewandert, nun liegt es im Schatten. Jetzt sieht der alte Mann, was der Zweck der beiseite gelegten Steinchen ist. Die Wespe wählt eines aus, das etwas größer ist als die Schachtmündung. Sie packt es mit ihren Kiefern und benützt es als vorläufigen Verschluß für ihr noch unvollendetes Werk. Dann fliegt sie fort. Der alte Mann steht langsam auf und folgt ihr mit den Blicken. Anscheinend besucht sie noch ein paar Blumen in der Nachbarschaft, um im letzten Tageslicht ein paar Tropfen Zuckersaft zu schlürfen. ›Wie ein Grubenarbeiter, der sich nach der Plage im Stollen mit einem Abendschoppen stärkt‹, denkt der alte Mann. Er markiert seinen Beobachtungsort mit ein paar Zweigen, die er in die Erde steckt. Dann geht er nach Hause.

    Erde

    Der Planet wird von Insekten bewohnt. Eine Million Arten oder mehr haben ihn unter sich aufgeteilt, haben eine Million Lebensräume darin gefunden. Haben Wasser, Erde, Luft besiedelt. Weiden, jagen, sammeln, leben als Parasiten auf dem Körper, im Körper anderer Tiere, anderer Insekten. Leben einzeln für sich, paarweise, in kleinen Gruppen, in riesigen, gleichförmigen Schwärmen, in verwickelt zusammengesetzten Staaten. Bauen Nester aus Steinen, Sand, Nadeln, Wachs, Karton, Holz, Blättern, Speichel, Luft. Bringen Pflanzen dazu, fremde Gebilde hervorzubringen, nicht Frucht, nicht Blatt - »Früchte«, die als Samen die Brut der Insekten tragen. Schaffen sich künstliche Körper aus Sand, aus Nadeln, aus Ästchen.

    Sie verwandeln sich, leben zwei Leben, manche noch mehr. Einmal als Fresser, Aufspeicherer von Energievorräten, oft langsam, faul, in paradiesischer Überfülle »wie die Made im Speck«, von den Eltern mit allem versorgt, im geschützten, gut verschlossenen Nest, in einer Frucht, in einem Kadaver, unter der Erde, im Innern von Bäumen, in einer Kugel aus Kot. Oder auch als hilfloser Säugling, gefüttert, gereinigt, ins Warme, ins Kühle getragen, umsorgt und beschützt. Oder als gefräßiger, räuberischer Jäger, listig, hungrig.

    Dann ein zweites Leben, meist in ganz anderer Gestalt, mit anderem Stoffwechsel, anderer Nahrung, auch ohne Nahrung. Die Nahrung dient nicht mehr dem Aufbau des eigenen Körpers. Jetzt meist geflügelt, beweglich, braucht das Insekt Energie für die Suche nach dem Fortpflanzungspartner, nach dem günstigsten Ort für die Eiablage, für den Nestbau, die Versorgung der Brut mit Vorräten.

    Manche überdauern Jahre, vor allem als Larven, manche nur Stunden. Manche verstehen es zu erstarren, Kälte, Trockenheit zu überdauern. Andere begehen, wenn der Winter kommt, massenhaft Selbstmord, fressen die Eier auf, rotten die Maden aus, hungern sich dann zu Tode. Manche werden, wenn die Brut versorgt ist, zu Kannibalen, rotten sich gegenseitig aus. Männchen werden nach der Begattung aus dem Stock geworfen, werden während der Begattung aufgefressen. Weibchen sterben im Moment der Eiablage, dienen den eigenen Maden als erste Nahrung.

    Insekten befruchten Blütenpflanzen, fressen Landstriche kahl, säubern den Boden des Planeten von Kot und Kadavern, verbreiten Seuchen, dienen Vögeln, Fischen, Säugern, Spinnen und anderen als Nahrung.

    Die Tiere des Planeten folgen zwei großen Entwicklunglinien: Wirbeltiere und Wirbellose. Die Insekten sind der vorläufige Höhepunkt der Entwicklungslinie der Wirbellosen. An der vorläufigen Spitze der anderen Linie steht ein Tier, dessen Individuenanzahl vielleicht ein Hundertmillionstel der Insekten ausmacht. Selbst sein Anteil an der Biomasse des Planeten ist kleiner. Von den Insekten unterscheidet sich dieses Tier fast so sehr wie von den Pflanzen. Die gemeinsamen Vorfahren liegen ganz am Anfang auf dem Stammbaum des Lebens, irgendwo bei den ersten mehrzelligen Organismen. Keine zwei Tiergruppen auf dem Planeten könnten einander fremder sein.

    Zeit

    Als der alte Mann geboren wurde, waren die Städte klein. Noch lebten fast alle Menschen auf dem Lande. Die erste Lokomotive war schon gebaut. Die erste Eisenbahnlinie wurde erst zwei Jahre später eröffnet. Es gab schon Dampfschiffe. Sie sahen noch aus wie Segler. Sie hatten Masten und Takelage und wurden von Schaufelrädern angetrieben. Die Schiffsschraube wurde erst drei Jahre nach seiner Geburt erfunden. In die Luft aufsteigen konnte man mit Heißluft- und Wasserstoffballons. Den elektrischen Telegraphen gab es noch nicht. Es gab Semaphore, hohe Masten, in Sichtweite voneinander, an deren Enden bewegliche Latten verschiedene Zeichen formen konnten. Es gab schon »Galvanische Batterien«, noch keine Stromgeneratoren. Der elektrische Lichtbogen war entdeckt, elektrische Beleuchtung gab es noch lange nicht. Es gab Spiegelteleskope, Neptun und Pluto waren noch unbekannt.

    Die Fabriken wurden mit Dampfmaschinen betrieben, deren Kraft mit Transmissionsriemen auf die einzelnen Werkzeugmaschinen übertragen. Die Maschinen selbst wurden noch von Handwerkern gebaut. Die Fabrikarbeiter lebten in kaum vorstellbarem Elend. Die billigsten Arbeitskräfte waren Kinder, die zwölf Stunden oder mehr an den Maschinen standen. In der Landwirtschaft arbeitete man mit dem Pferd, es gab weder Traktoren noch Kunstdünger oder chemische Schädlingsbekämpfungsmittel.

    Napoleon war vor kurzem in der Verbannung gestorben, in Frankreich herrschten wieder die Bourbonenkönige. Der alte königliche Adel, die Geistlichkeit hatten einen Großteil der Privilegien zurückbekommen, die ihnen die Revolution genommen hatte. Zeitungen und Bücher wurden zensuriert, die Schulen standen unter der Aufsicht der Bischöfe. Verschwörer gegen die Krone wurden hingerichtet. Die Bauern hatten das Land behalten, das sie sich in der Revolution erkämpft hatten, doch 1825 wurde ein Gesetz erlassen, nach dem die vor der Revolution geflohenen Emigranten für ihren verlorenen Grundbesitz mit einer Milliarde Franc entschädigt werden sollten.

    Das »Gesetz über Gotteslästerung« sah als schwerste Strafe für Vergehen gegen Religion und Kirche die Todesstrafe vor, mit vorausgehendem Abschlagen der rechten Hand.

    II

    Kienspan

    Der alte Mann hieß Jean-Henri Fabre. Er wurde geboren im Jahr 1823, drei Tage vor Weihnachten. Sein Geburtsort Saint-Léons-du-Levezou ist eine kleine Gemeinde im Rouergue, einer bergigen Landschaft im Süden Frankreichs, im Massif Central¹.

    Sein Vater war Antoine Fabre, Pflüger und Feldhüter, seine Mutter Victorine, geborene Salgues, Tochter des Gerichtsvollziehers von Saint-Léons.

    Die Gegend war arm. Die Leute da konnten sich nicht einmal Kerzen oder Lampenöl leisten, man verschaffte sich am Abend ein bißchen Licht von einem Kienspan. Mit einem Stück Schiefer wurde er in eine Mauerritze geklemmt. Im Winter schliefen sie im Stall, sparten Brennholz. Manchmal konnten sie durch den Sturm ganz nah die Wölfe heulen hören.

    »In meinem armen Heimatdorf mit dem rauhen Klima und dem kargen Boden, wie konnte man da sein Leben verdienen? Der Besitzer von einigen Morgen Grünland züchtet Schafe. In den fruchtbarsten Ecken seines Grundstücks kratzt er das Erdreich mit einem Pflug ohne Räder auf; terrassenförmig legt er Felder an, die von kleinen Steinmauern abgestützt werden. Körbeweise trägt der Esel Stallmist dort hinauf. Vortrefflich gedeiht fortan die Kartoffel, die, gargekocht und sehr heiß in einem geflochtenen Strohkörbchen serviert, das Hauptnahrungsmittel im Winter darstellt.

    Wenn die Ernte den Bedarf des Haushalts übersteigt, wird mit dem Überschuß ein Schwein gefüttert, dieses kostbare Tier, Schatz aus Speck und Schinken. Die Schafherde liefert Butter und dicke Milch; der Garten hat Kohl, Rüben und sogar ein paar Bienenstöcke in gut geschützten Winkeln. Mit solchen Reichtümern kann man der Zukunft ruhig entgegensehen.

    Aber wir, wir haben nichts, nichts als das Häuschen, ein Erbe der Mutter, mit einem kleinen Garten daneben.«²

    Er verbrachte nur wenige Jahre in Saint-Léons. Als er kaum laufen konnte, wurde er zu den Großeltern gebracht. Der Weiler hieß Malaval³, bestand aus zwei Höfen, voneinander noch durch einen Streifen Wald getrennt. Den einen bewirtschafteten die Eltern des Vaters. Kartoffeln, Roggen und Hafer konnten sie anbauen in dem kargen Hochland, ein paar Kühe, und Schafe halten.

    Die Großmutter erzählte den Kindern Märchen, spann dabei. Aber andere Wunder beschäftigten den Kleinen mehr.

    Die Welt des Kindes waren die farnbestandenen Waldlichtungen, die Ginsterfelder, die brombeergesäumten Feldwege von Malaval. Schon »als kleines Kerlchen von sechs Jahren, noch im Kleidchen aus grobem Wollstoff«, faszinierten ihn die Flügel eines Schmetterlings, die glänzenden Deckflügel eines Mistkäfers. Es zog ihn »zu den Blumen, zu den Insekten, wie den Kohlweißling zum Kohl und den Fuchs« - nämlich den Schmetterling dieses Namens - »zu den Brennesseln«.

    »Eines Tages, die Hände hinterm Rücken, stehe ich da, nachdenkliches Kerlchen, zur Sonne gewandt. Der blendende Schein fasziniert mich. Ich bin der Nachtfalter, den das Licht der Lampe anzieht. Ist es mit dem Mund, oder ist es mit den Augen, daß ich den strahlenden Glanz wahrnehme?

    Solcherart ist die Fragestellung meiner erwachenden wissenschaftlichen Neugier. Lache nicht, Leser: Der zukünftige Beobachter übt sich bereits, experimentiert. Ich öffne ganz weit den Mund und schließe die Augen. Der Glanz verschwindet. Ich öffne die Augen und der Glanz erscheint wieder. Ich beginne noch einmal. Selbes Ergebnis. Es ist geschafft: Ich weiß ganz sicher, daß ich die Sonne mit meinen Augen sehe. O schöne Erkenntnis! Am Abend teile ich sie dem Haushalt mit. Die Großmutter lächelt sanft über meine Naivität. Die anderen lachen. So geht die Welt.«

    Zwei Jahre nach dem Erstgeborenen kam sein Bruder Frédéric zur Welt. Sie waren gegensätzlich, sollten dennoch gute Freunde bleiben. Frédéric interessierte sich für Geschäfte und Verwaltungsangelegenheiten. Der Ältere begeisterte sich für Wissenschaft und Poesie.

    Esel

    Als der Bub sieben Jahre alt war, holten ihn seine Eltern zurück nach Saint-Léons, damit er in die Schule gehen konnte. Schule hielt sein Taufpate.

    Klassenzimmer war das Wohn-, Schlaf- und Eßzimmer des Lehrers und seiner Frau. Nur einen weiteren Raum hatte das Lehrerhaus. Zu dem kletterte man über eine Leiter hinauf, er war Heuboden und Vorratskammer. Waren unten die Vorder- und Hintertüre geschlossen, war ein niedriges Fenster die einzige Lichtquelle. Unterm Fenster saßen die Großen an dem einzigen Tisch, die Kleinen auf einer Bank um den Herd herum, auf dem den ganzen Tag das Futter für die Schweine kochte.

    »Die Wagemutigsten unter uns fischten sich, wenn der Lehrer einmal wegschaute, mit ihrem Messer eine gargekochte Kartoffel heraus und aßen sie zu ihrem Stück Brot; denn es muß gesagt werden: Wenn in meiner Schule auch nicht viel gearbeitet wurde, so wurde doch wenigstens viel gegessen. Es war üblich, ein paar Nüsse zu knacken, seine Brotkante zu knabbern, während man eine Seite vollschrieb oder Zahlen aneinanderreihte.«

    Die Hintertür führte auf den Hühnerhof. Die Kinder ließen sie listig offenstehen, dann dauerte es nicht lange, bis die Ferkel, die dort auch ihren Auslauf hatten, vom Geruch des kochenden Schweinefutters angelockt wurden und ins Schulzimmer eindrangen.

    »Sie kamen grunzend dahergetrippelt, mit fein geringelten Schwänzchen; sie strichen an unseren Beinen entlang; mit ihrer rosigen frischen Schweineschnauze schnüffelten sie in unseren Händen, um den Rest eines Brotes zu erwischen; mit ihren kleinen wachen Augen schauten sie uns fragend an, um herauszufinden, ob in unseren Taschen nicht doch noch eine getrocknete Kastanie für sie steckte. Nachdem sie ihre Runde gedreht und dabei hier ein bißchen, dort ein bißchen ergattert hatten, kehrten sie auf den Hof zurück, liebevoll verjagt vom Taschentuch des Lehrers.«

    Der Lehrstoff war karg.

    »Reden wir zuerst einmal von den Kleinen, zu denen auch ich zählte. Ein jedes von uns hielt, oder besser hätte eigentlich ein kleines Buch für zwei Sous in der Hand halten sollen: das Alphabet, gedruckt auf graues Papier. Das begann zunächst mit dem Buchdeckel, auf dem eine Taube oder so etwas zu sehen war. Danach kam ein Kreuz, und dann die Buchstabenreihe. Hatten wir diese erste Seite umgeblättert, so stand da das schreckliche ›ba, be, bi, bo, bu‹, für die meisten von uns die schlimmste Klippe. Und wenn wir dieses gefürchtete Blatt hinter uns gebracht hatten, wurde von uns erwartet, daß wir lesen konnten, und wir gehörten zu den Großen.

    Doch damit wir dieses kleine Buch hätten richtig benutzen können, hätte sich der Lehrer wenigstens ein bißchen mit uns beschäftigen und uns zeigen müssen, wie wir das anfangen sollten. Dazu fehlte dem guten Mann aber die Zeit, denn er wurde von den Großen viel zu sehr in Anspruch genommen. Das Taubenalphabet gab man uns einzig und allein auf, damit wir den Anschein erweckten, Schüler zu sein. Auf unserer Bank sitzend, mußten wir uns damit beschäftigen, es mit Hilfe des Nachbarn zu entziffern, falls dieser zufällig schon einige Buchstaben mehr kannte.«

    Hauptbeschäftigung des Lehrers war, die Gänse- oder Truthahnfedern anzuspitzen, mit denen geschrieben wurde. Danach schrieb er die Buchstaben oder Wörter vor, die die Schüler nachmalen mußten. Wenn er so eine Zeile vorgeschrieben hatte, folgte sein Meisterstück: eine Girlande aus Ringen, Spiralen und Korkenzieherlocken, die einen Vogel mit ausgebreiteten Schwingen umrahmte, alles in einem einzigen Strich. Auf diesem Kunststück beruhte seine Autorität bei Schülern und Eltern.

    »Was wurde in meiner Schule gelesen? - Auf französisch bestenfalls einige Kapitel aus der biblischen Geschichte. Latein kam öfter vor, damit wir die Nachmittagsvesper singen konnten, wie sich das gehörte. Die Fortgeschrittenen unter uns versuchten, ein Manuskript zu entziffern: die ›Verkaufsakte‹, unverständliches wirres Geschreibsel irgendeines Dorfnotars.

    Und Geschichte, Geographie? - Keiner von uns hat je etwas darüber gehört. Was kümmerte es uns schon, ob die Erde nun rund war oder würfelförmig! An der Mühsal, sie etwas hervorbringen zu lassen, änderte das doch nichts.

    Und Grammatik? - Der Lehrer kümmerte sich so gut wie gar nicht darum - und wir erst recht nicht. Substantiv, Indikativ, Konjunktiv und andere Begriffe aus der Sprache der Grammatik hätten uns durch ihre ungewohnten und wenig zugänglichen Wendungen mehr als verwirrt. Die Vervollkommnung der geschriebenen und gesprochenen Sprache sollten wir durch den Gebrauch erreichen. Außerdem quälten keinen

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