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Darwin
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eBook298 Seiten4 Stunden

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Über dieses E-Book

Im Sommer 1858 befindet sich Charles Darwin auf der Höhe seiner geistigen Kraft. Nur die Veröffentlichung der "Entdeckung der Arten", seiner großen Theorie der Evolution, stockt. Da erreicht ihn vom Malaiischen Archipel ein Brief des jungen Zoologen Russell Wallace, in dem er von seiner Reise berichtet. Dem Schreiben liegt eine wissenschaftliche Arbeit Wallace' bei, die zu begutachten er den 14 Jahre älteren Kollegen bittet. Ein Schock für Darwin. Wallace' Thesen gleichen den seinen allzu sehr. Unabhängig voneinander haben sie beide dieselbe Entdeckung gemacht. Doch Wallace den Ruhm überlassen? Darwin beschließt zu handeln. Atmosphärisch dicht und spannend erzählt Petra Werner von einem Wendepunkt im Leben des großen Naturforschers. Sie berichtet von seinen Zweifeln, seinem Ringen mit Gott und dem langen Weg zur Erkenntnis.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum1. Jan. 2017
ISBN9788711449639
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    Buchvorschau

    Darwin - Petra Werner

    Holmes

    Kapitel 1

    Der Schock

    I.

    Down. Im September 1842 waren Charles und Emma Darwin zum ersten Mal in den kleinen Ort 16 Meilen südlich von London gekommen. Ihre Kutsche rollte den Weg hinauf, Platanenblätter fielen vor ihnen auf den mit Feuersteinen gespickten Sand. Die Steine waren gespalten und offenbarten ihren blaugrauen Kern mit wirren Mustern aus blauen und weißen Äderchen, die sich in der Mitte verknäuelten und an den Rändern verloren. Die wenigen Menschen, die hier draußen lebten, wussten die geheimen Botschaften der Erde zu schätzen und hatten die Fassaden ihrer Häuser mit aufgeschlagenen Feuersteinen dekoriert.

    Darwin und seine Frau passierten von London aus kleine Orte, in denen nur wenige Häuser und stets eine alte Kirche standen. Im Kirchgarten von Down, direkt gegenüber dem Pub »Georg und der Drache«, stand ein riesiger Lebensbaum, ein Solitär mit hohlem Stamm, in dem sich mindestens zehn Kinder zugleich verbergen konnten.

    - Ja, entschied Darwin spontan, und Emma verstand ihn ohne Erklärung.

    Das Paar erreichte ein Haus, das mit Efeu bewachsen war, und Darwin bestand darauf, zuerst die Umgebung zu sehen. Im Garten stand ein riesiger Maulbeerbaum, dessen Früchte man von den oberen Stockwerken aus pflücken konnte.

    - Milton, sagte Darwin nur, und da Emma fast alle seiner Geschichten kannte, wusste sie, dass er sich wieder an den riesigen Maulbeerbaum im Garten des Christ College in Cambridge erinnerte, wo er studiert hatte. Dort hatte der große Dichter und Philosoph, diese Leuchte der englischen und der Weltliteratur, wenn nicht sogar der Weltwissenschaft oder der Wissenschaft von der Welt, John Milton, einen Maulbeerbaum gepflanzt, den Generationen von Gärtnern liebevoll pflegten. Niemand erwähnte jemals, dass dieser Baum das Zeugnis eines gescheiterten Traums von einer Seidenraupenzucht war, von dem Deutsche und Franzosen einst gleichermaßen besessen waren. Zuweilen stellten sich Studenten unter die tief herabhängenden Zweige und hofften auf Inspiration, zuweilen sogar auf Erlösung von echten oder vermeintlichen Sünden. Rund um den Stamm hatten Gärtner große Mengen Erde angehäuft, die nun mit einem dichten Teppich aus Efeu bedeckt war. Darwin, der dünne Student aus reichem Hause, hatte den Baum geliebt, er war nachts auf den Hügel geklettert und hatte sich in dem hohlen Stamm verkrochen, um dem Summen der Bienen zuzuhören, den Zickzackflug der Fledermäuse zu verfolgen, die Himmel und Hölle mit unregelmäßigen Stichen zusammennähten.

    Und nun fand Darwin, fünfzehn Jahre später, wieder einen großen Maulbeerbaum vor. Er, seine Frau und die Kinder würden die Früchte aus dem Fenster der oberen Etagen pflücken können, wunderbare, säuerliche Beeren, die dunkelrote, markante und deshalb sehr gefürchtete Flecken hinterließen.

    - Ja!, sagte Charles Darwin noch einmal und Emma gab ihm spontan recht.

    Nachdem sie eine Weile unter dem Maulbeerbaum geruht und in den Himmel geschaut hatten, dessen Licht von den Blättern gefiltert wurde und gelblich und grünlich niederschien, gingen sie auf überwachsenen Pfaden in den Garten hinter dem Haus. Die Anlagen waren ein halbes Jahr ohne Pflege geblieben und das Ergebnis war für jeden Engländer ein Schock. Alles war verwildert und ungepflegt, nur der Rasen war bis zuletzt betreut worden, mochten die Eigentümer auch noch so krank und gebrechlich gewesen sein. Noch nachts und an zwei Krücken waren sie aufgestanden, hinausgeschlurft und hatten ihr Werk vollbracht.

    War er dicht genug? Hatten sich nicht etwa Spitzwegerich oder gar Löwenzahn eingeschlichen? Oder, was noch schlimmer war, ein Käfer? War der Rasen feucht genug, aber nicht zu feucht? Vermittelte er beim Betreten das gute Gefühl, auf einem Perserteppich zu laufen, etwa so wie im Londoner Opernhaus, wo man in den Flor einsank und in dem man einen abgerissenen Knopf oder eine Brillantbrosche niemals wiederfand?


    Rasenpflege war man dem Empire schuldig.

    - Knopfkraut, sagte Emma.

    - Braut im Schleier, antwortete Darwin.

    - Heide.

    - Kamille.

    - Jelängerjelieber.

    - Vergissmeinnicht.

    - Hafer.

    - Hornklee.

    - Rotklee, Speise von tausend Eseln.

    Sie lachten.

    - Eine Rose, jubelte Darwin plötzlich, die Lord-Byron-Rose, rot-weiß gestreift.

    Sie blieben lange stehen, um abwechselnd ihre Nasen ins Innere der auffälligen Blüten zu versenken, die sich weit geöffnet hatten und schon den Verwesungsgeruch des Herbstes in sich trugen.

    - Und hier steht die Napoleon-Rose, ergänzte Emma lächelnd.

    - ’Tis done – but yesterday a King! And arm’d with Kings to strive – And now throu art a nameless thing: so abject – yet alive!, deklamierte Darwin Byrons Ode an Napoleon Bonaparte.

    - Aber es heißt auch: but once – the world was mine!, fügte Emma hinzu und meinte:

    -Napoleon. . . Ich habe ihn immer bewundert, immerhin konnte er mit dem Säbel Champagnerflaschen köpfen.

    Emma warf ihren Kopf mit einem Ruck nach hinten, wobei das Medaillon auf ihrer Brust herumflog und seine goldene Rückseite zeigte. Darwin schwieg ärgerlich, weil er Frankreich weniger liebte als seine Frau, die sich von Frédéric Chopin im Klavierspiel hatte unterrichten lassen. Außerdem beschlichen ihn unablässig Sorgen, nach den Goldfunden in Kalifornien könnten seine Investitionen wertlos werden, seine Kinder nicht den richtigen Platz im Leben finden und die Franzosen könnten das Empire besetzen. Bonaparte war tot, aber was hatte Napoleon III. vor?

    - Bonaparte war übrigens auch nicht gesund, setzte Darwin das Gespräch nicht ohne Befriedigung fort, angeblich ist er vergiftet worden und an einem Leberleiden gestorben. Am Ende muss er völlig gelb ausgesehen haben. Ich habe in St. Helena von seinem Grab etwas Erde und einen abgeschlagenen Stein mitgebracht. Ich habe beides an Ehrenberg nach Berlin geschickt.

    - Du hast was? Aber Charles!, sagte Emma und bekreuzigte sich, während sie ihn wie ein ungezogenes Kind anschaute.

    II.

    Im Juni 1858, sechzehn Jahre später, traf in Down ein Brief aus Malaysia ein. Darwin war gerade auf dem Sandweg unterwegs, den er Think Path nannte. Er trug Hausschuhe mit großen schwarzen Schnallen, die nicht geschlossen waren und ständig hin und her klappten, und, obwohl es warm war, zwei Pullover und eine Jacke. Zu groß war seine Angst, sich zu erkälten oder gar an einer Lungenentzündung zu sterben. In dieser Sorge glich er, freilich ohne es zu wissen, Voltaire.

    Der Schlängellinie des Think Path folgte er für gewöhnlich zweimal am Tag, um über seine Projekte nachzudenken. Diesen Sandweg war er schon viele tausend Mal gegangen, es war eine Art behüteter Zwischenwelt, die das Haus mit der Wildnis, mit Wiesen, Schafen und fremden Menschen verband. Hierher hatte er seine Fragen und seine Einsamkeit getragen, hatte er schleppenden Schrittes jahrzehntelang seine Runden gezogen. Heute war er am frühen Morgen zwischen den Baumstämmen dahingegangen und hatte über die Folgen der Domestikation von Tauben nachgedacht. In das Gesumm von Bienen hinein nannte er die Namen der Züchtungen: Schopftauben, Purzeltauben, Perückentauben, Mähnentauben, Rebhuhntauben, Pfauentauben, Verkehrtflügel-Kröpfer, Altdeutscher Kröpfer. Besonders die Kröpfer, Tauben mit riesiger gewölbter Brust und noch größeren, filzlatschenähnlich bewachsenen Füßen, mit denen es unmöglich war zu fliegen, interessierten ihn. Waren diese hochgezüchteten Haustaubenrassen, die alle aus der bescheidenen, eleganten Felsentaube hervorgegangen waren, nicht sehr gute Beispiele für die Macht des Menschen, die Natur zu beeinflussen? Übernahm nicht der Züchter gleichsam die Rolle der Natur? Friedfertig wie Tauben? So etwas konnte nur jemand sagen, der nichts über Tauben wusste, waren sie doch die zänkischsten Lebewesen, die er kannte. Ihm fiel der Satz ein: Die Poesie kommt zuweilen auf Taubenfüßen, und er musste an die plumpen, befiederten Füße der Zuchttauben denken und lächelte. Dann fielen ihm sogenannte Purzeltauben ein, die kopfüber Leitern herunterfielen. Wie viele unterschiedliche Taubenskelette lagen auf seinem Schreibtisch! Wie viele einzelne Knochen und Knöchelchen musste er vergleichen!

    Nachdem er mehrere Runden auf dem Think Path gedreht und jedes Mal mit der Spitze des Spazierstocks einen Feuerstein vom Haufen geschlagen hatte, blieb er für eine Weile in einem weißen, gezimmerten Kasten sitzen – einer Bank mit Regen- und Windschutz –, um ein paar Stichwörter in ein Notizbuch zu schreiben. Früher waren seine Notizbücher rot, nun schwarz eingebunden.

    Danach ging er durch die Gartentür zurück auf sein Grundstück und inspizierte die Blumen. In den Beeten steckten kleine Holzschilder, auf denen Nummern standen. Den Kindern hatte Darwin streng verboten, die Beschriftungen zu entfernen oder, was sie einmal getan hatten, um ihren Vater zu necken, gar zu vertauschen. Das Notizbuch in der Hand, stellte er fest, dass sich die Farbe einer spät blühenden Rosensorte wiederum verändert hatte, ein Vorgang, den die Züchter als »Brechen« bezeichneten – noch vor fünf Jahren hatte sie in einem sehr dunklem Rot geblüht, das sich aber von Generation zu Generation in ein blässliches Rosa verwandelt hatte. Selten zeigten sich diese Änderungen nach Beobachtung von Darwin im Laufe eines Pflanzenlebens, vielmehr in der Abfolge von Generation zu Generation. Manche Rosen mit ursprünglich einzeln stehenden Blüten waren nun in Büscheln gewachsen, mit Blütenblättern, die von dunklem Bronze bis zu Weiß mit gelben Einsprengseln alle Farbtöne zeigten. Darwin war fasziniert, wenn auch nicht überrascht, hatte er doch denselben Effekt bei Chrysanthemen, Azaleen, Dahlien und Stiefmütterchen bemerkt. Aber nicht nur die Blüten hatten sich gewandelt, auch die Blätter von Bäumen, was ihnen ein anderes Aussehen verlieh, bewegten sich doch dreieckige Blätter im Wind anders als herzförmige oder runde. Nachdem Darwin sich, noch immer sein Notizbuch in der Hand, im Garten umgeschaut hatte, ging er ins Gewächshaus, um nach den Orchideen zu sehen.

    Seit er zum ersten Mal einen Dschungel betreten hatte, interessierten sie ihn besonders, die traubigen, meist vielblütigen Blütenstände mit den großen Lippen, die Käfer und andere Insekten anlockten. Die Namen, die er ihnen gab – unabhängig davon, ob sie wirklich so hießen – beschrieben ein Geheimnis, ein Beispiel war der »Venusschuh«, diese Bezeichnung gefiel ihm am besten. Was die Farbe betraf, so zeigte die Natur die ganze Palette ihrer Möglichkeiten, die von dunklem Rot über Violett und Gelb bis hin zu reinem Weiß reichten.

    Orchideen waren nicht nur empfindlich, sondern es war in Europa auch bisher selten gelungen, sie durch Samen zu kultivieren. Wie viel Pflege war nötig, wie viel Aufmerksamkeit – das Wasser musste handwarm und gereinigt sein, am besten destilliert, Salze auf einer Apothekerwaage abgewogen werden, bevor sie zugesetzt wurden, auch die Luftfeuchte galt es möglichst konstant zu halten. Darwin benutzte zur Luftbefeuchtung einen Gummiball aus der Hausapotheke, mit dem in der Familie normalerweise Einläufe verabreicht wurden. Er besprühte die Pflanzen und schaute zu, wie sich die Tröpfchen auf den Blättern verteilten und kleine Inseln bildeten, in denen sich das Licht brach. Manchmal schwebte über ihnen für ein paar Sekunden ein künstlicher Regenbogen. Darwin mochte diese bizarre Welt seines Möchtegerndschungels, die Minuten der absoluten Kontrolle, die doch eine Illusion war, denn ein Insekt, zufällig hereingekommen, durchschnitt die Luft im Zickzackflug und landete unrettbar im glatten Trichter der Venusfliegenfalle. Vorbei. Das Tier starb eines qualvollen Todes und wurde zu einer zähen Flüssigkeit aufgelöst. Die Schönheit dieser Pflanze hatte eben ihren Preis und der hieß Stickstoff.

    Darwin öffnete die Tür, genoss die frische Luft und lief zu dem Beet mit den Feuerbohnen, die unkompliziert waren, weil sie bei jedem Wetter wuchsen und schon im Frühsommer ihre strahlend roten Blüten reckten. Darwin liebte die Schnelligkeit, mit der diese schlichten Pflanzen die hohen Stangen erklommen und mit den Ranken umschlangen. Sie blühten rot, immer war der Farbton feuerfarben und intensiv. Man wusste, was kam, hier passierte nichts Neues, bei ihrem Anblick konnte er sich erholen.

    III.

    Schon das Papier des Briefumschlags, den ihm der Postbote auf dem sauber geharkten Weg vor dem Haus übergab, zeigte durch seine fremdartige gelbe Farbe und die grobe, ungewöhnliche Struktur die exotische Herkunft an, ebenso die bunten Briefmarken und zahlreichen Schmutzflecken, die scharf nach Schwefel rochen. Darwin hielt den verschlossenen Umschlag für einen Moment unter die Nase. Seine Erinnerung täuschte ihn nicht – es war der unvergessliche Geruch von Vulkanen, jene abenteuerliche Mischung aus Verbranntem, Schimmelkäse, frischen Erdbeeren, Kloake und einer Komponente, die man nie herausbekommen würde, vielleicht handelte es sich um Reste eines tödliches Gases, das aber auf dem weiten Weg durch die Poststationen verflogen war.

    Das Schreiben war tatsächlich auf Ternate, einer Vulkaninsel im Malayischen Archipel, aufgegeben worden und hatte den Schwefelatem seiner Umgebung angenommen. Der Absender hieß Alfred Russel Wallace. Darwin kannte den begabten jungen Naturforscher und wusste, dass er zurzeit allein durch Malaysia, Borneo und andere Gebiete des Archipels reiste. Eine Persönlichkeit wie Wallace vergaß man nicht: Auf den ersten Blick wirkte er elegant wie ein Dandy, aber sein gewölbter Brustkorb und die krummen Beine verrieten Mangelernährung, wie sie in den Armenvierteln der wachsenden Großstädte und auf Schiffen üblich war, seine Bewegungen wirkten in Momenten, in denen er sich nicht unter Kontrolle hatte, eckig. Sein Gesicht erinnerte an ein nicht entgratetes Metallstück aus einer der vielen Manufakturen seiner Geburtsstadt Usk, auch seine Hände schienen Metallgeruch auszuströmen. Seine Augen strahlten gierig von verschwimmender Ferne und dem Wunsch, große Entdeckungen zu machen. Darwin las die Briefe von Wallace gern, weil der es verstand, seine Reiseerlebnisse farbig und mit einem unschuldigen Hang zur Dramatik zu schildern, der die feinen Härchen auf seinem Oberarm sträuben machte.

    Darwin empfand, in seinem Garten stehend und von der Bläue des Frühsommertages eingehüllt und durch sie gestärkt, den noch ungeöffneten Brief in den Händen, freudige Erregung, etwa so, als schaue er auf den Einband eines Abenteuerromans. Seine, Darwins, Abenteuer fanden seit Jahren, Jahrzehnten gar, im Kopf statt, seine Reiselust trat nur zuweilen und als Anfall auf und zeigte ihm, dass die Begierden noch nicht erloschen waren. Das Außerordentliche, der unerwartete Reiz, das Dämonische blieben seiner Phantasie vorbehalten. Aber sobald ein bestimmtes Wort fiel, etwa »Macchiabusch« oder »Meeresleuchten« oder jemand erwähnte in der Kneipe zum »Georg, dem Drachentöter«, heiser vor Sehnsucht, den Namen eines Vulkans, vielleicht nur, weil er über dessen Ausbruch in der Zeitung gelesen hatte, begannen sich Erinnerung und Phantasie zu einem eng gewobenen Gebilde zu verknüpfen. Dann sah sich Darwin wieder in der Steppe liegen, nur die Sterne in kalter Klarheit über sich, ein Eigenbrötler, gebettet auf die Gewissheit, dass das ganze Universum ihn beherrsche, besitze und verlasse zugleich, oder, was häufiger vorgekommen war, an der Reling stehen, eingehüllt in den Mantel des Windes, das Gesicht der salzigen Gischt ausgesetzt, und unbekannte, unbewohnte Inseln ohne Namen, die nur drei Menschen vor ihm, wenn überhaupt, jemals gesehen hatten, zogen in langer Reihe vorüber. Gelegentlich genügte Darwin auch ein Wort, das jemand falsch aussprach, eine Verwechslung, eine akustische Täuschung, eine Silbe, die im Nebel hängen geblieben war wie eine dunkle Frucht, um den intensiven Geruch nach Schweiß, gebratenem Fleisch, Gewehröl und Verwesung, dominiert von Minze- und Macchiaduft, zu imaginieren.

    Und nun der Brief vom jungen Wallace, der erschien wie ein als Poltergeist verkleideter Erzengel. Hohe Luftfeuchtigkeit. Dickdunstiger roter Himmel, in dem eine riesige Sonne schlagartig untergeht und nur Dunkelheit zurücklässt. Hitze. Das Gebrüll von Affen. Der Singsang von Zikaden, dieses ewige Hintergrundgeräusch der Tropen.

    Nein, in den Dschungel hatte es Darwin nie gezogen. Er liebte das Offene, die freie Fläche, die der Phantasie Raum gab. Darwin hatte sich mit Kollegen über diese seltsame Vorliebe unterhalten, mit Christian Gottfried Ehrenberg zum Beispiel, der Wüsten liebte, und Alexander von Humboldt, der beides kennengelernt hatte, tropische Fülle und die Kargheit der Ebenen Patagoniens und sich im Zweifelsfalle immer für Patagonien entschied. Diese Ebenen konnten nur durch Abwesendes beschrieben werden: ohne Wohnstätten, ohne Wasser, ohne Bäume, ohne Berge trugen sie meist zwerghafte Pflanzen, und Darwin fragte sich oft, warum ausgerechnet diese baum- und strauchlosen Ebenen einen so festen Platz in seinem Gedächtnis errungen hatten. Darwin konnte für sich selbst diese Empfindung kaum verstehen, war jedoch davon überzeugt, dass hier der Einbildung volle Freiheit gegeben war. Die Ebenen Patagoniens waren ohne Grenzen, sie waren kaum zu durchschreiten und daher unbekannt, über Jahrhunderte hatten sie so bestanden, wie er sie gesehen hatte, und es schien ihm so, als bestände keine Grenze für ihre Dauer durch künftige Zeiten. »Wenn die flache Erde, wie die Alten vermuteten, von einem unüberschreitbaren Gürtel von Wasser oder von Wüsten umgeben wäre, die bis zu einem unerträglichen Übermaß erhitzt wären, wer würde nicht auf diese Grenzen für die Kenntnisse des Menschen mit tiefen, aber schwer bestimmbaren Empfindungen hinblicken?« Hatte er das bei Humboldt gelesen?

    Wallace dagegen reizten Licht und Schatten, fettes, abenteuerlich wucherndes Kraut mit giftroten Blüten, das Versteck, in dem die Überraschung lauerte, ein unerwartetes Rascheln in den Baumkronen, Scharen von Fledermäusen, die seltsame Muster in den Himmel malten, kreischend über ihm dahinflogen und auf den Palmen dicke Krusten stinkenden Kots zurückließen. Große Vögel, die mit langen Hälsen und seltsam geformten Schnäbeln gravitätisch zwischen milchweißen Seerosen hindurchschritten, Blüten, die bei leisem Wind jenen Sahnetuffen auf Torten glichen, die sich in der Hitze auflösen und am Ende an Tröpfchen von Mondspucke erinnerten. Wallace konnte fünf Minuten lang fasziniert und ohne Anflug von Angst oder gar Mitleid zuschauen, wie sich im Gebüsch eine Korallenotter einer Maus näherte, in der Weite dagegen, so hatte Wallace einst gesagt, fühle er sich ausgeliefert wie ein Wurm auf einer Mauer. Außerdem bedeute der Dschungel Fülle, Artenreichtum, Vielfalt an Farben und Formen. Wenn Darwin Wallace’ Briefe las, staunte er stets, welche seltsamen Tiere es doch auf der Welt gab, welche verdrehten Formen, Hervorhebungen einzelner Organe, Anpassungen von Farben an die Umgebung! Ihm fielen winzige, hundeartige Raubtiere mit riesigen Ohren ein, Heuschrecken, die Blütengebinden aus grünen und roten Paradies- oder Teufelsblumen glichen, und Kröten, die den Gesichtsausdruck alter, grimmiger Männer zeigten. Und erst die Käfer. Ihm fiel die Begegnung mit einem alten Bauern aus seiner Heimatstadt ein, der das erste Mal in seinem Leben im Londoner Zoo war. Dort hatte er Elefanten und Tiger gesehen und, nach Hause zurückgekommen, ausgerufen: nein Kinder, das müsstet ihr aber mal sehen, da laufen lebendige Tiere herum, die es gar nicht gibt!

    Darwin öffnete genussvoll und langsam den Umschlag des soeben eingetroffenen Schreibens und nahm das blaue, sehr dünne Briefpapier in die Hand. Es war so hauchzart, dass die Sonne hindurchschien, die Schatten der Büsche zu sehen waren, und so blau, dass es die Bläue des Himmels verstärkte. Diesmal schilderte ihm Wallace seine Beobachtungen über Baumkängurus und Flugfrösche und legte sogar eine Zeichnung bei. Äußerlich wirkten diese Lebewesen, so Wallace, wie eine Fehlkonstruktion der Natur, so seltsam plump und ohne Proportion der Gliedmaßen. Die weiblichen Tiere seien etwas größer als die Männchen, auch die Aufzucht ihrer Jungen, so Wallace mit ironischem Unterton, betrieben sie merkwürdig und unlogisch. Das Junge komme zu früh zur Welt und bliebe als Frühgeburt fünf Monate lang im Beutel, aus dem es ab und zu den Kopf herausstecke. Warum nicht?, dachte Darwin. Immerhin bedeutete ein Beutel die Sicherheit einer Höhle.

    Auch Flugfrösche hatte Wallace eindrucksvoll geschildert, beobachtet auf Sumatra, Borneo und in Thailand. Diese Tiere hatten sehr große, vorstehende Augen, Haftscheiben an den Fingerspitzen und Schwimmhäute zwischen den Zehen. Die Schwimmhäute benutzte der Frosch nach Beobachtung von Wallace jedoch nicht zum Schwimmen, sondern spannte sie wie kleine Fallschirme auf. Wallace selbst hatte den Frosch damit im tropischen Regenwald von Baum zu Baum schweben sehen und auch beobachtet, dass die Flugfrösche ausschließlich zur Paarung die Baumkronen verließen. Die Weibchen produzierten ein Sekret, das sie mit den Beinen zu Schaum schlugen, um daraus ein Nest zu formen.

    Diese Gegenden der Welt, in denen Wallace Kängurus, Frösche, Käfer und Spinnen sammelte, würde er, Charles Robert Darwin, nie sehen. Wenn er eines im Leben verloren hatte, so war es die Fähigkeit der Jugend, sich kurz entschlossen auf eine weite, gefahrvolle Reise zu begeben, über sich nur den Himmel.

    IV.

    Der Schreck traf ihn wie kaltes Wasser.

    - Mummy, rief Darwin mit lauter, heiserer Stimme, die mit der Schwächlichkeit seines Körpers kontrastierte, und lief eilig ins Haus, in der einen Hand den aufgerissenen Umschlag, in der anderen das Schreiben von Wallace. Seine Stimmung war von einer Sekunde zur anderen umgeschlagen.

    Als Emma Darwin sah, dass ihr Mann am ganzen Körper zitterte und völlig verstört war, drückte sie ihn so zärtlich, wie es ihrer kämpferischen Natur möglich war, auf die Couch im Wohnzimmer und legte ein ammoniakgetränktes Tuch auf seine Stirn.

    Die Porträts der Verwandten, in einer Reihe über dem englischen Buffet altarähnlich drapiert, blickten ernst auf das Paar herab. Sie hatten, so schien es, ihren wohlwollenden Gesichtsausdruck verloren. Emma nahm ihrem Mann wortlos den Brief von Wallace aus der Hand, aber außer Freundlichkeit, einer gewissen Selbstverliebtheit und Freude an der Beschreibung von Farbe und Form fiel ihr nichts weiter auf. Wortlos zeigte Darwin auf den letzten Abschnitt des Schreibens. Dort erklärte Wallace, dass er den Brief in einem kleinen Haus in der Nähe des Vulkankraters des Santubong auf Borneo geschrieben habe. Er sei sehr einsam, klagte der Kollege, und er habe während der langen Abende und sehr nassen Tage in der Regenzeit nichts anderes zu tun gehabt, als seine alten Papiere zu ordnen, Bücher von Alexander von Humboldt und Charles Lyell zu lesen und über Dinge nachzudenken, die ihn schon lange interessiert hatten. Das Ergebnis seiner Bemühungen, die Einsamkeit zu vertreiben, war ein Essay über Evolution, den er beilege. Er würde gern wissen, was er, Darwin, der erfahrene und geschätzte ältere Kollege, von dieser Arbeit halte. Emma Darwin verstand nicht, was daran problematisch sein sollte und sah ihren

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