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Mutterschaden
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eBook309 Seiten4 Stunden

Mutterschaden

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Über dieses E-Book

Wenn die eigene Mutter der schlimmste Feind ist, zerbricht die Seele

Seelische Wunden sieht man nicht. Und die Opfer schweigen darüber aus Angst, ohne sichtbare Verletzungen nicht ernst genommen zu werden. Wenn dann nach einem ganzen Leben voll Psychoterrors durch die eigene Mutter nur noch ein Kontaktabbruch mit ihr als „finale Rettungsmaßnahme“ bleibt, ist der irreparable Schaden bereits angerichtet.
Valentina Bruno beschreibt eindrücklich ihr Martyrium der massiven, noch weit bis ins Erwachsenenalter andauernden seelischen Misshandlungen durch ihre Mutter. Sie zeigt die Spätfolgen, unter denen Betroffene über Jahrzehnte hinweg leiden, die sie an den Rand der psychischen Zerstörung bringen oder sogar in den Selbstmord treiben. Trotzdem hat sie ihren Weg zur Heilung und zum Verzeihen gefunden.

Ein erschütterndes Dokument eines Jahrzente währenden Martyriums.
SpracheDeutsch
Herausgebervss-verlag
Erscheinungsdatum20. Juli 2018
ISBN9783961271283
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    Buchvorschau

    Mutterschaden - Valentina Bruno

    Seele

    Impressum

    Mutterschaden

    Valentina Bruno

    © 2018 vss-verlag, 60389 Frankfurt

    Covergestaltung: Hermann Schladt

    Lektorat: Hermann Schladt

    www.vss-verlag.de

    Über die Autorin

    Valentina Bruno ist das literarische Pseudonym einer deutschen Folksängerin und Songwriterin.

    Gewidmet allen Menschen, die sich gezwungen sahen, den Kontakt zu einem Elternteil oder beiden permanent abzubrechen. Ihr habt nichts falsch gemacht!

    Böses Kind!

    „Urteile nie über einen anderen, bevor du nicht einen Mond lang in seinen Mokassins gelaufen bist."

    Sprichwort der nordamerikanischen Ureinwohner

    Was mit einem Menschen passiert, der von frühester Kindheit an von einem Elternteil oder beiden Eltern physisch und/oder psychisch misshandelt wurde, ist hinlänglich bekannt. Die Medien sind voll von Berichten über Amokläufer, Kindsmörderinnen und -mörder, Sexualstraftäter, aggressive Schläger und andere Verbrecher, deren Anwälte bei der Verurteilung mildernde Umstände erwirkten mit dem Hinweis auf eine schlimme Kindheit. Mal war der Schuldige ein liebloser, mit oder ohne Alkohol- oder Drogenmissbrauch gewalttätiger Vater oder/und die lieblose, die Kinder mit oder ohne Alkohol- oder Drogenmissbrauch prügelnde Mutter. Oder/und ein Elternteil hat das Kind sexuell missbraucht. Und allzu oft gab es „nur" oder zusätzlich seelische Gewalt durch psychoterrorisierende Familientyrannen. In zu vielen Fällen trifft alles zusammen zu.

    Dass aus Kindern, die so aufwachsen mussten, psychisch gestörte Erwachsene werden – wenn auch nicht jeder dieser Erwachsenen zwangsläufig ein behandlungsbedürftiges Krankheitsbild entwickelt oder zum Verbrecher wird –, ist seit Jahrzehnten bekannt. Dass aus geschlagenen Kindern später ihre eigenen Kinder schlagende Eltern werden – weil sie es nicht anders kennengelernt haben –, ist mindestens ebenso lange bekannt. Nicht ohne Grund wurde mit Wirkung zum 1. Januar 1980 die in den Paragrafen 1626 bis 1698 des Bürgerlichen Gesetzbuches verankerte „elterliche Gewalt durch die „elterliche Sorge ersetzt. Trotzdem dauerte es noch zwanzig weitere Jahre, bis zum 1. Januar 2000 der Absatz 2 des Paragrafen 1631 ins BGB aufgenommen wurde: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig."

    Damit wurden erstmalig physische und psychische Misshandlungen („Bestrafungen") als Straftat definiert. Für alle noch lebenden Menschen – Erwachsene wie Kinder – die vor dem Jahr 2000 geboren wurden, kam der Paragraf jedoch zu spät. Und auch für etliche seitdem geborene Kinder verhindert(e) er nicht, dass sie von ihren Eltern misshandelt werden, denn in der breiten Masse der Bevölkerung ist dieses Gesetz weitgehend unbekannt. Obendrein meinen trotzdem viele Eltern, die es zwar kennen, dass es für sie nicht gelte, weil der Gesetzgeber ja keine Ahnung habe, mit was für einem renitenten (alternativ: ungezogenen, bösen, schwer erziehbaren, frechen, uneinsichtigen, unverschämten, vorlauten, dreisten usw.) Kind sie sich plagen müssen, dem anders als mit Gewalt und seelischen Verletzungen nicht beizukommen sei.

    Anderen ist gar nicht bewusst, dass verächtliche Bemerkungen wie „Du stellst dich mal wieder dümmer an, als die Polizei erlaubt!, „Du kannst aber auch nichts richtig machen!, „Andere Kinder schreiben viel bessere Noten als du!, „Du bist wie dein Vater/deine Mutter/dein Großvater! (was nie als Kompliment gemeint ist), „Du bist so eine Enttäuschung!, „Und wenn du nicht endlich ..., dann kannst du zusehen, wie du allein zurechtkommst! und dergleichen mehr, genau die Art von die Seele des Kindes schädigende Entwürdigungen sind, die der Gesetzgeber mit § 1631 Abs. 2 unterbinden wollte.

    Nicht alle Kinder besitzen genug Resilienz (seelische Widerstandskraft), um diese Verletzungen unbeschadet oder weitgehend unbeschadet zu überstehen. Bis ans Lebensende anhaltende Minderwertigkeitsgefühle, Beziehungsstörungen, Suchtverhalten (von Alkohol-, Nikotin- und Drogenmissbrauch über Essstörungen, Arbeitssucht, Spielsucht und alle anderen Arten von Süchten), Depressionen bis zum Selbstmord und schwere Persönlichkeitsstörungen sind die Folgen.

    Nicht jede „Kleinigkeit" oder eine unzusammenhängende Menge von Einzelereignissen als Ausnahmen hinterlässt prägende Spuren in der kindlichen Seele. Aber wenn solche negativen Erlebnisse permanente Grunderfahrungen darstellen, ist die Schädigung programmiert. Weichenstellend ist das gesamte Klima im Elternhaus, in dem wir aufwachsen (müssen). Je heftiger und intensiver das in/seit frühester Kindheit erlittene Trauma ist, desto größer ist nicht nur die Wahrscheinlichkeit, eines Tages behandlungsbedürftig psychisch krank zu werden, sondern auch die Intensität der Krankheit. Nicht jeder so geschädigte Erwachsene wird zum (Schwer)Verbrecher. Aber für allzu viele ist ein normales, glückliches Leben nicht mehr möglich.

    Mag man sich vorstellen, was mit einem Kind passiert, das nicht nur mit seelischer und körperlicher Misshandlung durch die Mutter aufwachsen musste, sondern obendrein noch von derselben Mutter zur Erfüllung der eigenen emotionalen Bedürfnisse missbraucht wurde? Das von seinem nur auf sein eigenes Wohl bedachten Vater nicht nur nicht vor diesen Misshandlungen beschützt wurde, sondern von ihm oft genug absichtlich der mütterlichen Willkür überantwortet wurde, damit er selbst seine Ruhe hatte? Wer solche Eltern hat, braucht keine Feinde mehr.

    Den Anlass, mein eigenes Martyrium aufzuschreiben, lieferte nicht nur die Erfahrung, dass es mir schon immer geholfen hat, mir meinen Kummer in Tagebüchern von der Seele zu schreiben, sondern auch der Schlusssatz eines Zeitungsartikels. In dem ging es um den Selbstmord einer alten Frau, die tagelang tot in ihrer Wohnung gelegen hatte, weil niemand sich um sie sorgte, niemand sich um sie kümmerte. Die einzige Tochter hatte den Kontakt zur Mutter Monate vorher abgebrochen und die alte, aber keineswegs pflegebedürftige und noch sehr rüstige Frau sich selbst überlassen. Aus diesem Grund beendete der Verfasser des Artikels seinen Text mit den Worten: „Juristisch ist der Tochter kein Vorwurf zu machen." Unausgesprochen dahinter stand die Ergänzung, die sich als Meinung des Autors auch im gesamten Artikel abzeichnete: „Moralisch ist ihr aber sehr wohl ein Vorwurf zu machen."

    Das machte mich wütend. Wieder einmal maßte sich bei diesem Thema ein Fremder an, der die Verhältnisse in der betreffenden Familie überhaupt nicht kannte, ein Urteil zu fällen. In der breiten Masse der Bevölkerung hält sich ohnehin immer noch hartnäckig die Ansicht, dass Kinder für ihre Eltern dazusein haben und, wenn die Eltern alt sind, für sie zu sorgen und sich um sie zu kümmern haben. Tenor: „Die Eltern haben euch großgezogen (und dafür auf so manches verzichtet), also schuldet ihr ihnen das!"

    Dieser Forderung, dieser Ansicht kann ich mich nicht anschließen. Im Gegenteil empfand ich schon als Kind und später als Jugendliche die Aufbürdung dieser einseitigen „Schuldenlast als ungerecht. Wer Kinder in die Welt setzt, übernimmt mit dieser Entscheidung die gesetzliche und selbstverständlich auch moralische Verpflichtung („elterliche Sorge), im bestmöglichen Maß nach bestem Wissen und Können für sie zu sorgen, bis sie in der Lage sind, das selbst zu tun, also erwachsen sind. Diese Verpflichtung haben alle Eltern freiwillig übernommen, denn niemand hat sie gezwungen, ein Kind oder mehrere in die Welt zu setzen. Vielleicht haben sie sich mit der Entscheidung für ein Kind/Kinder einem gesellschaftlichen Druck gebeugt, weil sie glaubten oder von ihrer Umwelt vermittelt bekamen, dass ein (Ehe)Paar nur dann „vollständig" ist oder gesellschaftskonform handelt, wenn es mindestens ein Kind in die Welt setzt. In diese Bresche schlägt auch die diskriminierende und in meinen Augen menschenverachtende Überlegung von manchen Politikern, kinderlose Paare oder Einzelpersonen höher zu besteuern, um die Rentenkassen besser zu füllen.

    Oder ein Kind gehört für die Eltern ganz selbstverständlich zu einer Ehe, weil für sie Ehe ohne Familiengründung und damit ohne Kinder aus persönlichen oder religiösen Gründen undenkbar ist. Vielleicht wollten die Großeltern unbedingt (einen) Enkel haben. Vielleicht wollten die Eltern sich durch das Großziehen von Kindern den Vorwurf ersparen, der den Kinderlosen allzu gern gemacht wird, selbstsüchtige Egoisten zu sein, die ihre persönlichen Bedürfnisse über die „Pflicht" stellen. Mit dieser Behauptung wird – ebenfalls unter anderem in Politikerkreisen, aber nicht nur dort – immer wieder gern und in der Regel ohne Kenntnis der wahren Gründe jeder gescholten, der sich bewusst gegen ein Kind/Kinder entscheidet oder der aus biologischen/gesundheitlichen Gründen kein Kind empfangen/zeugen kann.

    Natürlich gibt es auch eine Menge Eltern, die in Kindern die Krönung und ultimative Erfüllung ihrer Liebe zueinander sehen und/oder die Entscheidung fürs Kind um des Kindes willen treffen. Und es gibt auch die „Unfälle", die zur Zeugung eines Kindes führen und bei denen sich die Mutter oder beide Elternteile für das Kind und gegen eine Abtreibung entscheiden.

    Doch welches Motiv der Entscheidung für ein Kind auch zugrunde liegt, dieser Entschluss ist und bleibt die freie Wahl der Eltern, zu der niemand sie gezwungen hat; allenfalls sie sich selbst. Aus dieser spätestens seit der Einführung von Verhütungsmitteln und der Möglichkeit zur Abtreibung freiwillig getroffenen persönlichen Entscheidung für ein Kind ein „Schuldnerverhältnis" zu Lasten des Kindes abzuleiten, bürdet den Kindern die Verantwortung für etwas auf, mit dem sie nicht das Geringste zu tun hatten.

    Eltern, die glauben, dass ihre Kinder ihnen etwas schuldig seien für die ihnen entgegengebrachte Fürsorge, für diese freiwillig übernommene, aber gesetzlich gebotene Pflicht, verkennen diese Tatsache. Die Zeiten, in denen die Alten nur überleben konnten, indem sie möglichst viele Kinder in die Welt setzten, die sie versorgten, wenn sie selbst nicht mehr arbeiten konnten, sind seit Einführung der Rente, Krankenversicherung, Sozialhilfe, Grundsicherung und der hochwertigen medizinischen Versorgung in unserem Land vorbei. Außerdem: Aufrichtige Liebe, wie Eltern sie für ihre Kinder empfinden sollten, ist immer selbstlos, verlangt keine Gegenleistung und macht auch keine „Schuldnerrechnung" auf.

    Trotzdem wird von uns Kindern erwartet, dass wir uns um unsere Eltern kümmern, wenn ihnen das aufgrund von Alter oder Krankheit schwerfällt oder nicht mehr möglich ist. Wenn das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern gut oder zumindest erträglich ist, ist das kein Thema. Dann wird jeder gern die Eltern unterstützen. Doch auch wenn die Eltern oder ein Elternteil das eigene Kind misshandelt und schwer psychisch, vielleicht auch körperlich geschädigt hat, wird von eben diesen Eltern und auch von dem Gros der Gesellschaft erwartet, dass die misshandelten Kinder sich kümmern.

    Die Kinder haben sich gefälligst für die Eltern aufzuopfern, auch wenn ihnen das wegen ihrer physischen, psychischen oder finanziellen Konstitution nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich ist. Ein erwachsenes Kind, das sich diesem Anspruch verweigert, sogar verweigern muss oder – noch schlimmer – den Kontakt zu den Eltern komplett abbricht, gilt als egoistisch, als undankbar, moralisch verwerflich und als schlechter Mensch. Böses Kind! Pfui, schäm dich! Diese Einstellung ist nicht nur fatal, sie negiert das vorangegangene immense Leid des Kindes, das zu diesem schwerwiegenden Schritt geführt hat.

    Kein Kind bricht den Kontakt zu den Eltern oder einem Elternteil leichtfertig ab, weil es gerade nichts Besseres zu tun hat oder wegen einer Kleinigkeit oder einer Reihe von Nichtigkeiten, die im Verhältnis zwischen Eltern und Kind nicht stimmen. Dem Kontaktabbruch ist immer eine lange, in der Regel über Jahre und Jahrzehnte hinweg dauernde, konfliktreiche Leidensgeschichte vorausgegangen, in der das betreffende Kind – oft noch bis weit ins Erwachsenenalter hinein – Opfer war: Opfer von physischer Gewalt und/oder psychischer Gewalt und/oder verbaler Gewalt beziehungsweise Verächtlichmachung und/oder sexualisierter Gewalt. In den meisten Fällen treffen die drei Erstgenannten als ein „Trio infernal" zusammen.

    Der Kontaktabbruch ist lediglich der Schlusspunkt, der allerletzte Ausweg, aber meistens die einzige nach außen sichtbare „Spitze eines riesigen Eisbergs aus Misshandlungen, von denen oft nicht einmal die Verwandten etwas mitbekamen, weil sie vertuscht wurden – von den Eltern, um sich nicht für ihre Taten rechtfertigen zu müssen. Und aus Scham sowie aus irrationalen Schuldgefühlen auch von den Kindern, weil sie von den Misshandlern vermittelt bekamen: „Du bist schuld, dass ich dich misshandle, denn du zwingst mich dazu, weil du dich nicht so verhältst, wie ich das will/meine Bedürfnisse nicht befriedigst/nicht das bist, was ich haben will/brauche! Und dergleichen mehr.

    Und natürlich schweigen die Opfer auch aus leider berechtigter Angst, dass man ihnen nicht glaubt, wenn sie von ihrem Martyrium erzählen. Denn das Tückische an seelischen Wunden ist, dass sie unsichtbar sind. Seelenblut sieht man nicht, einen gebrochenen Geist oder zerstörten Lebensmut auch nicht.

    Obwohl es eine natürliche und sehr intensive Bindung und Liebe von Kindern zu ihren Eltern gibt, müssen die Eltern, wenn sie sich diese Liebe erhalten wollen, ihre Kinder entsprechend liebevoll behandeln. Kein psychisch gesunder Mensch mit einem Mindestmaß an Selbstachtung bliebe mit einem anderen Menschen befreundet oder hielte Kontakt zu ihm, wenn er von ihm permanent beschimpft, seelisch verletzt, niedergemacht und/oder geschlagen oder vergewaltigt würde. Sind aber die eigenen Eltern die Misshandler, machen erwachsene Kinder noch unendlich viele Zugeständnisse und erdulden eine Menge, eben weil die Peiniger die Eltern sind, die einem das Leben schenkten und weil die Liebe eines Kindes zu selbst den grausamsten Eltern lange braucht, um zu sterben.

    Aber irgendwann ist auch der Duldsamste mit seiner Leidensfähigkeit am Ende. Dann bleibt nur der finale Kontaktabbruch als letztes Mittel, um das ununterbrochene Leid zu beenden. Zumindest das durch die Eltern verursachte. Beendet ist das Leiden dadurch noch lange nicht. Die erlittenen Wunden zu heilen, ist eine schmerzhafte Mammutaufgabe, die ohne professionelle therapeutische Hilfe selten zu schaffen ist und manchmal trotz bester Therapie scheitert.

    Obendrein kommt der Druck von Verwandten, Freunden, der Gesellschaft: „Das kannst du doch nicht machen! Das sind immerhin deine Eltern! Es folgt die Verurteilung durch die Mitmenschen, die dem Opfer vermitteln, dass ein „guter Mensch bis in alle Ewigkeit, das heißt bis zum natürlichen Tod der Eltern, zu leiden hat, andernfalls er ein schlechter, herzloser, egoistischer und anderweitig moralisch zweifelhafter Mensch sei und pfui, was für ein böses Kind! Schlimm genug, wenn man zu dem erlittenen Leid auch noch solche Diffamierungen aushalten muss. Oder zynisch zu hören bekommt: „Irgendwann erledigt sich das doch von selbst (durch den Tod der Eltern). Bis dahin wirst du das doch wohl noch aushalten können."

    Das Schlimmste aber sind die eigenen Schuldgefühle, die Selbstvorwürfe, die nagenden Zweifel, ob man mit dem Kontaktabbruch trotz jahrzehntelang erlittenen Leids, das zuletzt nicht mehr zu ertragen war, nicht doch zu vorschnell gehandelt hat, ob man nicht noch mehr hätte ertragen können, ertragen müssen. Auch dann noch, wenn einem der Verstand und die angegriffene oder sogar schon ruinierte physische und psychische Gesundheit sowie die Ärzte nachdrücklich sagen, dass die Entscheidung richtig und zur Selbstrettung, zum (nicht immer nur seelischen) Überleben unumgänglich notwendig war und der mitleidende (Ehe)Partner sowie der gesamte Freundeskreis einem versichern, dass dieser Schritt schon seit Jahren überfällig war.

    Nein, keine Tochter, kein Sohn macht sich eine solche Entscheidung leicht. Erst recht trifft niemand sie ohne einen mehr als schwerwiegenden Grund. Und noch schwerer ist der Schritt von der gefällten Entscheidung zur Tat. Denn die eigene Mutter, den Vater vollständig aufzugeben, ist ein gewaltiger Kraftakt, der immer eine klaffende Wunde hinterlässt, die lange braucht, um zu heilen. Sie heilt, keine Frage; das ist die gute Nachricht. Aber bis zu diesem Punkt ist es ein langer Weg. Und selbstverständlich bleiben Narben zurück, seelische und in allzu vielen Fällen auch körperliche. Beide schmerzen ab und zu. Aber man lernt (mit professioneller Hilfe), damit zu leben.

    Auch ich habe den Kontakt zu meiner Mutter letztendlich abbrechen müssen, um mein eigenes Leben, meine Gesundheit und auch meine Ehe zu retten. Um halbwegs seelisch stabil und so psychisch gesund zu werden, wie das nach den schwerwiegenden und teilweise irreparablen Schäden, die meine Mutter mir von frühester Kindheit an zugefügt hat, noch möglich war.

    Rückblickend weiß ich, dass ich diesen Schritt viel zu spät getan habe; um Jahrzehnte zu spät. Schlimmer noch: Weil ich meine Mutter im Alter nicht allein lassen wollte, hatte ich ihr sogar vorgeschlagen, zu mir zu ziehen. Zwar nicht ins selbe Haus, weil darin kein Platz war (rückblickend: zum Glück!), aber in unmittelbare Nähe (212 Schritte entfernt). Ich hatte mir nie im Leben vorstellen können, dass ich jemals Liebe und Mitgefühl für einen anderen Menschen bereuen würde, besonders wenn dieser Mensch meine Mutter ist. Doch das Mitgefühl und die Liebe, die mich veranlasst haben, sie zu mir zu holen, habe ich aufs Bitterste bereut. Denn meine Mutter machte mir das Leben derart zur Hölle – wieder einmal –, dass ich komplett zusammengebrochen bin und viele Jahre brauchte, um mich davon zu erholen. Aber ich habe es geschafft. Und mit den dennoch zurückgebliebenen Beeinträchtigung habe ich gelernt, trotz allem gut zu leben.

    Wie alles begann

    Meine Geburt war das Ergebnis des Egoismus’ meiner Mutter, die in mir das Mittel zum Zweck ihrer eigenen Selbstverwirklichung sah. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit und manchmal ziemlich exzessiv betonte sie, dass es ihr größter Traum gewesen war, ausschließlich Mutter zu sein und viele Kinder zu haben. Im selben Zug bedauerte sie nicht nur zutiefst, dass sie aus gesundheitlichen Gründen nur ein einziges Kind haben konnte, sondern auch, dass sie immer hat berufstätig sein „müssen, weil ohne ihren Zuverdienst das Geld hinten und vorn nicht reichte, obwohl sie doch tausendmal lieber „nur Mutter gewesen wäre. Zeit ihres Lebens haderte sie mit dem Schicksal, das ihr die Erfüllung dieses Traums verwehrt hatte.

    Deshalb lag sie mir schon seit meiner frühen Kindheit in den Ohren, ich solle unbedingt einen reichen Mann heiraten, damit mir dieses „Schicksal" erspart bliebe. Dass ich einen ganz anderen Lebensentwurf hatte, wertete sie als einen aus purem Widerspruchsgeist gefassten und gegen sie persönlich gerichteten Entschluss. Gleichzeitig pochte sie auf eine gute Ausbildung für mich, damit ich nicht wie sie eines Tages von einem Mann abhängig sein müsse. – Nein, diesen Widerspruch muss man nicht verstehen.

    Außerdem hatte sie ein völlig unrealistisches Bild von ihrem idealen Kind („Traumkind) im Kopf, dem ich entsprechen sollte: nach ihren eigenen wiederholten Aussagen brav und artig, aufs Wort gehorchend, fleißig und entsprechend gut in der Schule, strebsam, arbeitsam, intelligent, immer ehrlich und „gefällig. Anders ausgedrückt: Ich sollte eine Kopie ihres eigenen Selbstbildes sein. Obendrein erwartete sie, im Mittelpunkt meines Lebens und vor allem meiner Liebe zu stehen. Sicherlich hegte sie diese Erwartung unbewusst, doch diese äußerte sich unter anderem in dem wiederholten Vorwurf, ich hätte schon als Kind ihre Liebe „mit Füßen getreten. Auf meine Frage, wie ich das denn angeblich getan haben solle, da ich mir keiner entsprechenden Schuld bewusst war, bekam ich zur Antwort, das habe sich darin geäußert, dass ich „so oft ihre Umarmungen abgeweht habe, nicht jedes Mal mit ihr kuscheln wollte, wenn sie das „anbot und „schon immer gegen sie gewesen sei.

    Ja, klar: Wenn Mutter umarmen und kuscheln wollte, hatte ich das zu dulden, auch wenn mir gar nicht der Sinn danach stand. Wagte ich es, meiner unkuscheligen Stimmung Ausdruck zu geben, trat ich damit gleich ihre Liebe mit Füßen. Wagte ich es, einen anderen Geschmack zu haben, zum Beispiel in Musik, bevorzugter Kleidung, Literatur oder grundsätzlich anderer Meinung zu sein, war das kein Ausdruck meiner eigenen persönlichen Ansichten und Vorlieben, sondern eine Vortäuschung angeblicher Vorlieben mit dem einzigen Ziel, gegen sie zu sein und damit ihre Liebe mit Füßen zu treten. – Nein, das ist kein Scherz und keine Übertreibung, sondern ein mir immer wieder aufs Neue in diesem Wortlaut gemachter Vorwurf, den ich sogar noch bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu hören bekam, als ich schon seit Jahrzehnten erwachsen war.

    Dass meine Mutter wurde, wie sie war und tat, was sie getan hat, lag in ihrer eigenen Familiengeschichte begründet. Durch ihre Eltern und auch den Zweiten Weltkrieg, den sie als Kind und Jugendliche miterleben musste, wurde sie schwer psychisch krank. Damals nannte man das nicht so, vielmehr kümmerte es niemanden, solange die psychische Erkrankung nicht in einem Verhalten gipfelte, das eine Zwangseinweisung in ein „Irrenhaus erforderlich machte. Meine Mutter, wie viele psychisch Kranke, verstand es zudem meisterhaft, sich nach außen hin nicht nur „normal zu geben, sondern den Anschein zu erwecken, ein ausgesprochen netter Mensch zu sein. Hinter den geschlossenen Türen ihrer eigenen Familie – meines Vaters und mir – sah die Sache ganz anders aus.

    Meine Mutter war die Älteste von fünf Schwestern und bekam, der damaligen Zeit entsprechend (unmittelbar vor und während des Zweiten Weltkriegs sowie in der Nachkriegszeit), deshalb schon früh die Verantwortung für die jüngeren Schwestern aufgebürdet, die sie überforderte. Konnte sie der nicht gerecht werden, gab es Prügel, nicht nur von ihrem Vater, sondern auch von ihrer Mutter. Das Verhältnis zu ihren Schwestern war zeitlebens nicht nur deshalb denkbar schlecht. Ein Grund dafür war sicherlich auch, dass meine Großeltern die vier jüngeren Töchter besser behandelten als meine Mutter. Die Ursache dafür kann ich nur erraten, aber ich glaube, dass ich mit meiner Vermutung nicht falsch liege.

    Meine Großeltern haben nicht aus Liebe geheiratet, sondern weil meine Großmutter mit meiner Mutter schwanger war. Damals, Mitte der 1920er Jahre, war ein nichteheliches Kind noch ein Skandal. Ein „Ehrenmann heiratete selbstverständlich die Frau, die er geschwängert hatte. Tat er das nicht freiwillig, bekam er Druck vom Vater der Frau und von seinem eigenen unter Umständen auch. Ich glaube, dass meine Großeltern, deren Ehe definitiv nicht glücklich war, meiner Mutter unbewusst die Schuld gaben, dass sie „ihretwegen hatten heiraten „müssen". Und welche Auswirkung es hat, wenn man als unerwünschtes und ungeliebtes Kind aufwachsen muss, habe ich später am eigenen Leib erfahren.

    Man weiß schon lange, dass Menschen, die selbst keine Liebe erfahren haben, auch keine geben können. Meine Mutter hatte das Pech, eine gefühlskalte Frau als Mutter und einen jähzornigen, prügelnden, saufenden Familientyrannen als Vater zu haben. Ich habe meine Großmutter als einen Menschen erlebt mit einem Gemüt wie ein Stein und der Sensibilität eines Betonpfeilers. Sicherlich hatte sie Gefühle, aber sie war nicht in der Lage sie zu zeigen. Und Mitgefühl schien ihr völlig abzugehen. Entsprechend behandelte sie ihre Kinder.

    Zu den durch diese Gefühlskälte verursachten psychischen Schäden kam noch der Krieg mit seinen unsicheren, sich ständig gewaltsam verändernden Gegebenheiten und allzu häufiger Todesangst. Gepaart mit einer immensen Verlustangst, denn die Familie wurde damals zweimal ausgebombt. Alle Familienmitglieder konnten sich zwar in Luftschutzkeller retten und haben deshalb überlebt, aber als sie den nach dem jeweiligen Angriff verlassen haben, stand von dem Haus, in dem sie Stunden zuvor noch gewohnt hatten, nichts mehr. Sie hatten nur noch das eigene Leben, die Kleidung auf dem Leib und die wenigen Habseligkeiten, die sie in ständig gepackt bereitstehenden Notfallkoffern hatten retten können.

    Man muss sich das einmal verdeutlichen. In keiner Nacht konnte man wirklich ruhig schlafen, weil die Angst vor dem nächsten Fliegeralarm und Angriff und die Angst, nicht rechtzeitig aus den Federn zu kommen, wenn man zu tief schief, einen wirklich tiefen Schlaf über Monate und Jahre hinweg unmöglich machten. Kaum gab es Alarm, packte jeden Menschen die Todesangst, weil niemand wusste, ob er die nächsten Stunden oder nur Minuten überlebte und ob man es rechtzeitig in den Bunker oder Keller schaffte, der trügerische Sicherheit bot. Dann dort mit unzähligen fremden Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht zu sein und ihren Gestank zu riechen, besonders wenn jemand auf die Toilette musste, die nur aus einem Blecheimer bestand, für den es meistens nicht einmal einen Deckel gab – aushalten zu müssen, wenn jemand Panik bekam, schrie, tobte, zu flüchten versuchte ...

    Nachdem der Angriff vorbei und man wundersamer Weise noch am Leben war, aus dem Bunker/Keller zu kriechen und zu sehen, dass das eigene Zuhause nur noch Schutt ist und man alles verloren hat, was man sich mühsam erworben und aufgebaut hat, alle Erinnerungsstücke, an denen das Herz hing, für immer verloren ... Wenn man dann noch erfährt, dass Angehörige in anderen Teilen der Stadt nicht überlebt haben, dazu noch Hunger und Vertreibung, dann ist das Trauma perfekt. Damals wurde eine ganze Generation irreparabel traumatisiert.

    Menschen, die ihr Heim durch eine Naturkatastrophe verloren haben, können das nachvollziehen. Die Flüchtlinge, die zu Hunderttausenden

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