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Archibald Leach und die Machenschaften der Mama Legba
Archibald Leach und die Machenschaften der Mama Legba
Archibald Leach und die Machenschaften der Mama Legba
eBook929 Seiten10 Stunden

Archibald Leach und die Machenschaften der Mama Legba

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Über dieses E-Book

Jeder exzentrische Held braucht eine starke Frau an seiner Seite ... mit geladenem Schusseisen und ohne Skrupel!
Eben noch planen der Exzentriker Archibald Leach und die Tüftlerin Sarah Goldberg ihre Flitterwochen, als sie plötzlich eines Polizistenmordes verdächtigt und gejagt werden. Bei der Suche nach Verbündeten finden sie heraus, dass sämtliche Wahrsager und Medien verschleppt wurden. Auf der Flucht geraten sie immer tiefer in das Netz der Hexenmeisterin Mama Legba, die sich auf einem entsetzlichen Rachefeldzug befindet.
Auf ihrer Reise um die halbe Welt muss Sarah sich die Frage stellen, ob sie dieses Leben in Gefahr führen möchte und was Archibald alles vor ihr verbirgt.
Eine Abenteuergeschichte mit fantastischen Elementen, in einer Zeit, in der es im britischen Empire noch weiße Flecken auf der Landkarte gab.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum21. Okt. 2022
ISBN9783945045329
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    Buchvorschau

    Archibald Leach und die Machenschaften der Mama Legba - Markus Cremer

    WIDMUNG

    Dieses Buch widme ich meiner Frau Sandra und meinem Sohn Samuel, die gemeinsam diesen ganzen Wahnsinn um Sarah Goldberg und Archibald Leach überhaupt erst ermöglicht haben.

    Ihr seid meine wahren Helden.

    Für meinen Vater,

    der nun das Mysterium der jenseitigen Welt erforscht.

    Impressum

    Alle Rechte an den abgedruckten Geschichten liegen beim

    Art Skript Phantastik Verlag und den Autor*innen.

    Copyright © 2022 Art Skript Phantastik Verlag

    1. Auflage 2022

    Art Skript Phantastik Verlag | Salach

    Lektorat » Noah Stoffers | Textpfade » www.textpfade-lektorat.de

    Sensitivity Reading » Shelly

    Komplette Gestaltung » Grit Richter | Art Skript Phantastik Verlag

    Cover-Illustration » Martin Schlierkamp | www.martinschlierkamp.de

    Druck » BookPress

    www.bookpress.eu

    ISBN » 978-3-945045-10-7

    Auch als eBook erhältlich

    Der Verlag im Internet

    » www.artskriptphantastik.de

    Alle Privatpersonen und Handlungen sind frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit realen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

    Historische Persönlichkeiten kommen jedoch durchaus vor.

    Über den Autor

    Der aus dem Rheinland stammende Markus Cremer wurde 1972 geboren. Vor seiner derzeitigen Beschäftigung in der Wissenschaft betätigte er sich als Sanitäter, Erfinder und Inhaber eines Ladens für Okkultismus. Er lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in einem alten Haus in der Nähe von Aachen. Die Initialzündung für seine schriftstellerischen Ambitionen waren Fantasy-Rollenspiele und die Geschichten von H. P. Lovecraft, Michael Moorcock und Robert E. Howard.

    Er ist Mitglied des Phantastische-Autoren-Netzwerks (PAN) und ein begeisterter Nutzer von Schreibmaschinen.

    Website: http://markuscremerautor.de/

    Facebook: https://www.facebook.com/Autor.MarkusC

    Instagram: cremer_markus_autor

    BENÖTIGE ICH DEN ERSTEN BAND VON ARCHIBALD LEACH?

    Tja, liebe Leserin und Leser, da sind wir jetzt beim zweiten Roman mit Archibald Leach und Sarah Goldberg angelangt. Somit drängt sich die Frage auf:

    »Muss man den ersten Teil gelesen haben?«

    Die kurze Antwort lautet: Nein.

    Wie so viele meiner Generation habe ich den zweiten Band des »Herrn der Ringe« zuerst gelesen. Nicht aus Absicht, sondern weil der erste Teil in der Bibliothek immer ausgeliehen war und die Wartezeit bis zur nächsten Sonnenfinsternis reichte. Ja, höre ich jetzt jüngere Leser fragen, warum hat der Mann sich das Buch nicht gekauft (kein Geld), heruntergeladen (kein Internet – das war noch nicht einmal erfunden) oder den Film gesehen (noch nicht gedreht, von der verunglückten Animationsversion mal abgesehen)?

    Was »Archibald Leach« angeht, so möchte ich ihn nicht mit Tolkiens Meisterwerk vergleichen (dazu müsste ich so verrückt wie mein Titelheld sein).

    Es schadet sicher nicht, wenn man den ersten Teil gelesen hat. Auf der anderen Seite ist es aber nicht zwingend notwendig, denn dieses Abenteuer ist völlig selbstständig. Wirklich.

    Notfalls erwerben Sie den ersten Band hinterher (der Verlag hat mir sogar dringend dazu geraten, dies zu schreiben).

    WAS BISHER GESCHAH …

    (Nicht notwendig, aber möglicherweise hilfreich.)

    Der erste Teil der Reihe trägt den Titel »Archibald Leach und die Monstrositäten des Marquis de Mortemarte«. Das Abenteuer begann Mitte des 19. Jahrhunderts in der hektischen Metropole London. Der Exzentriker Archibald Leach und die Tüftlerin und Waffennärrin Sarah Goldberg wurden mit den todbringenden Plänen eines von der Menschheit enttäuschten Schurken konfrontiert. Der Marquis de Mortemarte verlangte astronomische Summen von Königin Victoria und drohte damit, die Welt in einen Krieg zu stürzen. Seine Warnung unterstrich er mit der Schaffung von Tiermenschen, die er durch die Verschmelzung von Wissenschaft und Magie herstellte. Um seine Pläne umzusetzen, benötigte der Marquis ein Artefakt, welches sich in Archibalds Händen befand.

    Zu den Verbündeten meines Helden gehörten senile und paranoide Monsterjäger, sein nicht minder verrückter Onkel Heisenberg, der Jäger Karl May, ein lesbisches Attentäterpärchen, ein Haufen Piraten und anderen Gestalten. Die Jagd auf Mortemarte führte von London aus über die Teufelsinseln, New Orleans nach Westafrika.

    Archibald und Sarah stellten den Marquis de Mortemarte in Indien. Im von Ratten bevölkerten Tempel von Deshnoke vereitelten die Helden Mortemartes Plan, die gesamte Menschheit in tierhafte Bestien zu verwandeln.

    Auf der turbulenten Rückreise mit einem dampfkraftgetriebenen Zeppelin heiraten Archibald und Sarah. Kaum in London angekommen, plant das Paar die Hochzeitsreise. Alles ist gut, wäre da nicht…

    1. KAPITEL

    DIE KÖNIGIN DER PUPPEN

    »Ich bin das Werkzeug der Rache und ich werde das Britische Reich unter meinen Füßen zerstampfen. Keiner wird mich jemals wieder ansehen, ohne zu erschaudern. Wie es dazu kam, schreibe ich hier nieder.

    Meine Kindheit endete in der Nacht, als die Sklavenjäger unser Dorf überfielen. Der Marsch zur Küste war hart. Wir wurden an einen weißen Mann verkauft. Einen Engländer, der uns auf einem Schiff mitnahm. Der Missionar war tagsüber ein netter Mann, der meiner jüngeren Schwester Disanka und mir Lesen und Schreiben beibrachte. Er las uns aus der Bibel vor und lehrte uns das Vertrauen in seinen Gott. In der Nacht allerdings fiel er über mich her und zwang mich zu Dingen, die ich nicht verstand und nicht mochte. Nach der ersten Nacht begann der Unterricht durch meine Mama.«

    Auszug aus der Kladde von Mama Legba.

    Der heisere Schrei des Leoparden übertönte den letzten Seufzer der jungen Frau. Das Tier strich durch das tropische Unterholz und blieb außer Sicht.

    Trotz ihrer tiefschwarzen Haut sah sie grau und farblos aus. Ihr lebloser Körper sonderte einen süßlichen Geruch aus.

    Der Tod raubt dem Menschen jede Würde, dachte Legba und fuhr mit der Hand über die Augenlider ihrer Schwester Disanka. Ein Papagei kreischte und flatterte in eine hohe Palme. Warme Wassertropfen fielen herab und benetzten das Gesicht.

    Die Tränen einer Toten.

    »Schlafe, Disanka, schlaf. Warte auf der anderen Seite auf mich«, sang Legba mit ihrer ungewöhnlich tiefen Stimme, während sie den Leichnam auskleidete und wusch.

    Ihre kleine Schwester Disanka war die Flucht gelungen und doch war ihr zeitlebens die Freiheit verwehrt geblieben. Sie verkaufte sich an englische Männer. Jeden Tag starb ein Stück mehr von ihr.

    Legba ballte ihre Faust. »Warum war ich zu spät, um ihr zu helfen?«

    Ihr Blick fiel auf die Nadeln in ihrem eigenen Arm. Jede Einzelne zeugte von ihrer Kontrolle über mindere Geister.

    Ich brauche mehr Macht, um meine Pläne erfüllen zu können.

    »Es ist Unrecht!«, brüllte Legba und der Leopard im Dickicht stellte sein Geschrei ein.

    Mit zitternden Fingern packte sie ein Messer und schnitt den Bauch der Toten auf. Legba nahm einen Schwamm und griff in die Bauchhöhle der Leiche. Mit einem saugenden Geräusch zog sie ihre Hand zurück.

    Blut tropfte aus dem Schwamm.

    In völliger Stille wickelte sie in Kräutersud eingelegte Bandagen um den zerschundenen und ausgemergelten Leib ihrer Schwester. Die mit der Kraft von Geistern aufgeladenen Stoffbahnen zogen sich zusammen, sobald Legba sie losließ. Wie Würgeschlangen umklammerten sie das tote Fleisch. Sie hievte die Leiche auf einen flachen Stein.

    Der Ort bildete eine Oase inmitten der Urwaldpflanzen.

    Eine kühle Entschlossenheit ergriff Legbas Verstand und ordnete alle Gefühle ihrer bevorstehenden Rache unter.

    Entworfen hatte sie den Plan vor langer Zeit mit ihrer Mutter und Großmutter. Disankas Tod brachte den Stein ins Rollen.

    Das erste Opfer der magischen Beeinflussung wurden die Reporter der Zeitungen. Im ganzen Empire erschienen Artikel über Monstersichtungen, spiritistische Phänomene und Geistererscheinungen.

    Der Köder ist platziert.

    Legba gestattete sich ein Grinsen, denn sie sah die Reaktion der Krone voraus.

    Die übersinnlich Begabten und die Okkultisten werden nach London strömen. Direkt in meine Falle!

    Mit gemessenen Schritten trat sie über einen kleinen Pfad zu einer Felswand mit zahlreichen Nischen. Davor lagen eine in Öltuch eingeschlagene Kladde und ein Tintenfass.

    In den Löchern warteten primitive Puppen aus Leinen, Lumpen und Haaren auf ihren Einsatz. Es waren über hundert Stück.

    »Erwacht!«, flüsterte Legba und berührte nacheinander jede Puppe mit dem blutigen Schwamm. Das Innere der Stoffpuppen leuchtete auf. »Seid meine Augen! Seid meine Hände und seid meine Macht!«

    Sie nahm eine Puppe auf und berührte damit ihre Stirn. Legba schloss die Augen und sah einen gekachelten Flur und einen Putzeimer.

    »Besuche deine Herrin!«, murmelte sie und verfolgte, wie sie den Gang entlanglief und in ein geräumiges Wohnzimmer trat. An einem Eichentisch saß eine Lady in einem Morgenmantel und schaute sie erstaunt an.

    »Mary, was wollen Sie hier? Ich bat ausdrücklich darum -« Weiter kam die Lady nicht, denn in Legbas Sichtfeld tauchte eine Hand auf, die eine Kopie der Stoffpuppe hielt.

    »Was soll ich mit dem schmutzigen Ding?«, fragte die Frau, dann berührte sie die Puppe.

    Schlagartig wechselte die Perspektive für Legba.

    Aus der Sicht der Lady schaute sie auf eine erstaunte Zofe, die sich irritiert im Wohnzimmer umsah.

    Sie hat keine Ahnung, was geschehen ist.

    »Besuche deinen Mann!«, stieß Legba hervor.

    Die Lady erhob sich und begab sich in das Arbeitszimmer ihres Ehemanns.

    »Charleen!« Der korpulente Anzugträger drehte sich auf seinem Stuhl um und klappte eine Mappe auf dem Schreibtisch zu. »Ich wollte auf keinen Fall -«

    Die Puppe wechselte den Besitzer. Mit ihr veränderte sich Legbas Perspektive erneut.

    »Besuch das Büro!«, hauchte sie und der besessene Mann zog seinen Mantel über und verließ das Haus. Er rief eine Dampfdroschke herbei und nannte dem Kutscher das Ziel: »Zum Buckingham Palace!«

    Stunden später legte Legba die Puppe zurück in ihre Nische.

    Die Magie laugte sie aus, doch es war nicht die Zeit für eine Pause.

    Ich darf erst ruhen, wenn meine Rache vollendet ist.

    In ihren Träumen sah sie das Ende des britischen Empires. Sinnbild ihrer Sehnsüchte war der Anblick des zertrümmerten Londons.

    Legbas Kreuz schmerzte, doch sie ergriff eine ungewöhnlich große und missgestaltete Puppe.

    Ein Spielzeug aus ihrer Kindheit: Baby-Legba. Es gab zwei von diesen Stoffpuppen. Eine gehörte Disanka, die andere ihr.

    Sie presste aus dem Schwamm einen üppigen Schwall an Blut heraus, um den Stoff der Figur damit zu tränken. Unter der Puppe tauchte eine tellergroße Spinne auf.

    Ein gutes Omen!

    Legba streckte dem Tier die Hand hin. Die Vogelspinne krabbelte hinauf. Jede Bewegung glich einer zärtlichen Berührung.

    Sie hob die Puppe an ihren Mund und sagte eindringlich: »Ramus!«

    Das Bild in ihrem Kopf zeigte ihr fahle Lichtstreifen, die durch Risse in das Innere einer Schiffskiste fielen. Sie kannte jede Faser des Körpers, den sie mit der zweiten Baby-Legba kontrollierte. Ramus war ihr Werk. Ein Riese von einem Mann, geschaffen aus Leichenteilen.

    »Erwache!«, flüsterte sie. »Es beginnt!«

    Die Antwort drang nur gedämpft an ihr Ohr: »Baby-Legba! Ja. Ich tun.«

    Das seelenlose Monster würde ihr Sprachrohr sein. Sie flüsterte Ramus seine nächsten Schritte zu.

    In London würde er die Unterstützung der Polizei erhalten, denn sie kontrollierte den Chef von Scotland Yard. Ein Lord befand sich in ihrer Hand, der für die Transporte von und nach London zuständig war. Ein wichtiger Teil ihres Plans, weshalb sie ihn doppelt abgesichert hatte.

    Ich überlasse nichts dem Zufall.

    Sie wandte sich an Ramus und befahl ihm: »Befolge die Befehle und kümmere dich um meinen ärgsten Feind: Archibald Leach!«

    TEIL I.

    LONDON

    vom 1. bis zum 3. Mai 1869

    DIE TAROTKARTE DES »GEHÄNGTEN«

    »Diese Bilderkarte des Tarots zeigt einen Mann, der mit dem Kopf nach unten an einem Seil hängt. Sie bedeutet, dass man alles aus einer neuen Perspektive betrachtet. Das Alltägliche wird ungewöhnlich und umgekehrt. Einfachste Dinge werden plötzlich kompliziert. Diese Karte ist nicht gut oder böse, sie ändert nur die Sicht auf die Welt. Für ein kleines Trinkgeld könnte ich ein Auge in meine geheiligte Kristallkugel werfen. Diese Art der Weissagung erschöpft meine spiritistischen Kräfte, aber ich sehe in Ihrem treuen Gesicht, welche Not bevorsteht. Für eine angemessene Spende lasse ich mich auf das Wagnis ein. Mögen die Geister mir beistehen.«

    Beratung der Wahrsagerin Prudence Ogilvy,

    wohnhaft in London, genauer im Stadtteil Soho.

    »Warum man diese sogenannten Spiritisten frei herumlaufen lässt, ist mir ein Rätsel. In meinen Augen handelt es sich um Scharlatane und schamlose Betrüger.«

    Sarah Goldberg in ihrem Essay »Jenseits vom Jenseits«.

    2. KAPITEL

    AUSGEFLITTERT … VORERST

    »Zurück in London! Eine herbeigesehnte Heimkehr, wenn ich bedenke, was ich in den letzten Wochen alles erleben und durchleiden musste. In Westafrika wurden wir beinahe getötet und in einem indischen Tempel mit tausenden Ratten konnten wir den genialen und skrupellosen Marquis de Mortemarte nur mit Hilfe von Geistern ausschalten. Ja, Geister! Ich habe sie selbst gesehen oder zumindest glaubte ich das. Mit jedem Tag, der vergeht, bin ich mir weniger sicher. Archibald Leach hat um meine Hand angehalten. Genau genommen habe ich dies zuerst getan, aber das Resultat ist dasselbe. Es war ein Antrag und ich habe angenommen. Mehr noch, wir haben uns vom Kapitän des Zeppelins vermählen lassen. Ein herrliches Gefühl, obwohl …«

    Fußnote zum Tagebucheintrag von Sarah Goldberg.

    »Am meisten freue ich mich auf ein ausgiebiges Bad«, verkündete Sarah Goldberg und schaute durch das Fenster der Dampfdroschke auf das erwachende London. Die Stadt kam ihr wie ein Ameisenhaufen vor, der die Kälte der Nacht abschüttelte. Sie genoss den Anblick.

    »Nach den Strapazen unserer zurückliegenden Reise mehr als verständlich«, erwiderte Archibald Leach, der ihr gegenüber saß und in einer Zeitung blätterte.

    »Außerdem benötigt meine Prothese eine richtige Inspektion.« Sie hielt ihre künstliche Hand hoch und lauschte dem asymmetrischen Klicken der Zahnräder. »Die Spindel des Gyroskops muss ich neu kalibrieren.« Sie dachte an den Spektralrepetierrevolver der Marke Colt und an das umfangreiche Set aus Dietrichen und sonstigem Werkzeug in ihrer Ledertasche. »Der Rest meiner Ausrüstung braucht ebenfalls Pflege.«

    »Hm«, kam es von der gegenüberliegenden Sitzbank.

    »Was ist los?« Sie zog die Zeitungsseiten mit ihrer kraftverstärkenden Prothese der linken Hand nach unten, sodass sie ihren Ehemann betrachten konnte. »Gibt es tatsächlich mysteriöse Phänomene in London?«

    Sie hatten auf der Rückreise von den Geisterscheinungen und Monstersichtungen in der Stadt gehört.

    Ausgerechnet in unserer Hochzeitsnacht an Bord des Reisezeppelins.

    »Die Regierung beordert sämtliche Experten für Okkultismus nach London zurück«, sagte er.

    »Warum?«, fragte sie und schnappte sich seinen Stockdegen. Der Verschluss zur Freigabe der Klinge brauchte eine Reparatur.

    »Das ist es ja gerade«, murmelte er, »sie schreiben …«

    »Was ist passiert? Jetzt reden Sie endlich?«, hakte sie nach.

    Wir sind verheiratet und siezen uns, bemerkte sie. Warum eigentlich? Gewohnheit? Respekt? Eher eine Mischung aus beiden Gründen, entschied sie. Davon abgesehen, gefällt es uns. Sie lächelte.

    »Es ist seltsam …«, sagte er und verstummte erneut.

    »Was ist geschehen? Hat ein Schleimmonster unsere Königin Victoria gefressen oder raubten geheimnisvollen Schemen den Tower aus?«

    »Wenn ich Ihre Fantasie hätte, würde ich Geschichten schreiben«, antwortete er.

    Sie bewegte den linken Unterarm und ihre künstliche Hand zerknüllte das Zeitungspapier zu einem dichten Klumpen.

    »Ich wollte noch den Teil mit den Todesanzeigen durchsehen.«

    »Sie lesen Sterbeanzeigen?«, wunderte sie sich. »Weshalb?«

    »Um die Liste meiner Todfeinde aktuell zu halten«, antwortete er.

    »Sie warten darauf, dass Ihre Gegner als Zeitungsanzeige enden?«, fragte sie ungläubig.

    »Nicht nur, aber es beruhigt meine Nerven, wenn ich einen Namen aus der Aufstellung streichen kann.«

    »Sie haben mehr als einen Todfeind?«

    Und ich habe ihn geheiratet, fuhr es ihr durch den Kopf, stehe ich bei seinen Feinden bald ebenfalls auf einer solchen Liste?

    Die Droschke rumpelte bei der Fahrt über die Stamford Street. Ein Nebengeräusch des klopfenden Dampfkessels erregte ihre Aufmerksamkeit.

    Das Überdruckventil klemmt!

    »Sie schreiben hier etwas von dringenden Staatsangelegenheiten, doch nirgendwo finde ich einen konkreten Anhaltspunkt«, erklärte er.

    »Wie jetzt?« Verblüfft ließ sie ihre Kunsthand sinken.

    »Es wird von einer okkulten Gefahr gesprochen, doch es wird nicht über entsprechende Ereignisse berichtet«, er schaute sie an. »Zumindest steht nichts davon der aktuellen Zeitung. Höchst eigenartig, wenn Sie mich fragen.«

    »Tue ich nicht«, merkte sie schmunzelnd an. »Dann ist Ihr Onkel Heisenberg jetzt umsonst losgelaufen, um in den Archiven nach ähnlichen Vorkommnissen zu suchen?«

    »Das glaube ich nicht. Vielleicht könnten wir -«

    Sie unterbrach Archibald und sagte: »Wir erholen uns, packen unsere Sachen und auf zur Hochzeitsreise nach Paris!«

    »Einverstanden«, erwiderte er schnell. »Ich setze Sie in Ihrer Werkstatt ab und -«

    Wo ich auch wohne, fügte sie in Gedanken hinzu. Dann kam ihr eine Eingebung.

    »Mein werter Ehemann«, sagte sie und setzte ihr gewinnendes Lächeln auf.

    »Ja?«, fragte er zögerlich.

    »Warum fahren wir nicht in Ihre Wohnung? Pardon, ab jetzt unsere Heimstatt.« Sie nahm ihre Brille ab.

    »Ich dachte, Sie wollen sich in der eigenen Unterkunft mit dem Nötigsten versorgen und mit Körperpflegemitteln in die rechte Form bringen.«

    »In die rechte Form bringen?«, wiederholte Sarah und stampfte mit dem Fuß auf. »Was ist mit meiner Form denn nicht in Ordnung?«

    »Nun, ich meinte -« Archibald stammelte Unverständliches.

    Es gefällt mir, ihn aus der Fassung zu bringen.

    »Nein, nein, mein Lieber, so schnell locken Sie mich nicht auf die falsche Fährte. Seit Jahren höre ich die albernsten Ausflüchte, warum ich Ihre Wohnung nicht besuchen kann.« Sie putzte die Gläser der Brille mit dem Stoff ihres Rocks.

    »Es erschien mir einfach nicht richtig«, murmelte Archibald, »zumal ich oft umgeräumt habe und zwangsläufig eine gewisse männliche Ordnung herrscht.«

    »Wie groß ist diese Junggesellenbude?«, fragte sie. »Ein möbliertes Zimmer, wo eine ältliche Dame nach dem Rechten sieht?«

    »Nicht ganz«, schränkte Archibald ein. »Es ist schon etwas geräumiger.«

    »Größer als meine Wohnung inklusive der Werkstatt?«

    »Geräumiger!«, antwortete er.

    »Doppelt so groß?« Sie setzte die Brille auf.

    Er schüttelte den Kopf und fügte hinzu: »Bedeutend größer als Ihre Wohnung. Eine Art … Haus.«

    »Keine Ausflüchte und Ausreden mehr. Wir fahren dorthin!« Sie sah aus dem Fenster und schwelgte in der Vorstellung, sich nach der Rückkehr aus den Flitterwochen eine größere Werkstatt einzurichten. Bislang hatte sie nur der Platzmangel davon abgehalten, eigene Fahrzeuge zu konstruieren.

    Sie bekam fast nicht mit, wie Archibald dem Droschkenfahrer die neue Adresse durchgab.

    »Emmett Street. Unverzüglich!«, rief er aus dem Fenster.

    »Geht klar«, brüllte der Kutscher, um das Stampfen der Dampfmaschine zu übertönen. »Ist ja Ihr Geld!«

    »Von der Straße habe ich noch nie was gehört«, merkte Sarah an.

    »Liegt außerhalb«, entgegnete er. »Mit Blick auf den Hafen. Irgendwie.«

    Ein unbehagliches Gefühl breitete sich in ihr aus.

    »Mister«, rief der Fahrer von seinem Kutschbock, »Se wolln echt nach Limehouse? Ich meine, mit der Lady dabei?«

    Es brauchte einige Sekunden, bis sie verarbeitete, was der Kutscher meinte.

    »Limehouse!«, rief sie empört und richtete sich auf. Ihr Kopf stieß mit dem Holzdach des Innenraums zusammen.

    »Keine Sorge. Die Gegend hat ihren Ruf zu Unrecht.« Archibald hob beschwichtigend die Hände.

    »In den Zeitungen steht etwas anderes«, konterte sie. »Da wird von Opiumhöhlen und angeschwemmten Leichen berichtet.«

    »Da hat die Presse einige lokale Vorkommnisse hochgespielt.«

    »Die Gegend ist also keine Hochburg der Kriminalität?«, fragte sie.

    »Streng betrachtet …«

    »Was?« Sie beugte sich vor.

    »Dazu muss ich etwas ausholen«, erklärte er. »Ein Teil meiner Bezüge erhalte ich von der Krone -«

    »Weil Sie Königin Victoria mit irgendeinem Kram erpressen«, warf Sarah ein. »Habe ich verstanden, auch wenn ich nicht weiß -«

    »Sicher«, wiegelte er ab, »aber da ist noch mehr. In meiner Zeit als Agent im Auftrag des Empires habe ich mir im Regierungsapparat nicht nur Freunde gemacht.«

    »Darauf wette ich«, stieß Sarah hervor und warf einen Blick nach draußen. Die London Bridge lag hinter ihnen und sie fuhren am Ufer der Themse entlang. Ungewaschene Männer lungerten an der Straße herum, wahlweise auf einen Tagelöhnerjob oder ein leichtes Opfer wartend.

    »Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll -« Er brach ab.

    Dagegen liegt meine Wohnung im gelobten Land.

    Bei diesem Gedanken kam ihr der Widerling Wilkins in den Sinn, der regelmäßig junge Mädchen belästigte. Der Kerl wohnte über ihr und war ein ständiges Ärgernis.

    Es gibt in jedem Stadtviertel Licht und Schatten.

    »Kommt noch mehr?« Sarah wunderte sich, dass Archibald nicht weitersprach.

    »Tatsächlich blieb mir für eine ruhige und sichere Unterkunft nur ein Unterschlupf, in dem die Herren von Scotland Yard keinen Verbündeten kriegen, egal was sie bieten.«

    »WAS?«

    »Ich weiß, es benötigt eine kleine Zusatzinformation, um -«

    »Scotland Yard ermittelt gegen Archibald Leach?«, entfuhr es Sarah.

    Und ich habe ihn geheiratet!

    »Erst Limehouse und dann das! Wenn ich noch mehr von solchen Neuigkeiten erhalte, ertränke ich mich gleich in der Themse.«

    Was für ein Schlamassel!

    Nach einer Pause murmelte sie: »Warum? Was ist geschehen?«

    »Es hängt mit den Dingen zusammen, die ich im Auftrag der Krone tat«, erklärte er. »Alte Geschichten, doch die Königin ist nervös, weil ich über Informationen verfüge, die für einen gewaltigen Skandal sorgen würden.«

    »Ich werde nie erfahren, um was es dabei geht, richtig?«

    »Nur zu Ihrem Schutz«, sagte er. »Würde bekannt werden, dass ich das Geheimnis teile, brächte es eine Menge Leute in Gefahr.«

    »Werde ich jetzt auch … von Scotland Yard gesucht?«

    »Ich werde nicht gesucht«, erklärte er. »Die Polizei weiß, wo ich wohne und es existiert auch kein Steckbrief von mir.«

    »Wie beruhigend«, murmelte sie. »Da fühle ich mich gleich besser.«

    »Ich habe Vorkehrungen getroffen, damit mir in Limehouse nichts geschieht.«

    »Und was ist mit mir?«, hakte Sarah nach.

    »Ein guter Punkt«, sagte er und tippte an seine Stirn. »Hätte ich fast vergessen. Holen wir gleich bei unserer Ankunft nach.«

    »Sir?«, schrie der Kutscher. »Ich würd gern hier kassieren, wa? Limehouse iss mir zu übel. Würd da ungern länger halten als wie nötig.«

    »Kein Problem«, antwortete Archibald und zählte das Fahrgeld in seiner Börse ab.

    Sarah warf ihm einen eisigen Blick zu.

    Bevor der Kutscher losbrauste, rief sie ihm zu: »Lassen Sie das Überdruckventil reparieren. Es scheint bei einer bestimmten Geschwindigkeit zu flattern.«

    »Is doch egal, oder?«, erwiderte der Mann.

    »Nur dann, wenn Ihnen das eigene Leben keine Freude mehr bereitet«, erklärte sie. »Verklemmt sich das Ventil, explodiert der Kessel.« Sie unterstrich ihre Worte mit einer Geste.

    Jetzt zum nächsten Problemfall.

    ***

    Mit einem mulmigen Gefühl schaute Sarah der davoneilenden Droschke hinterher.

    Archibald wohnt in Limehouse! Wir wohnen in Limehouse!

    Von dieser Gegend erzählte man sich die schauerlichsten Geschichten. Im Vergleich dazu wirkten Soho und Whitechapel harmlos.

    Archibald verbeugte sich vor einem runzeligen Chinesen mit grauem Schnurrbart, der von zwei Jünglingen begleitet wurde.

    »Bleiben Sie länger, Mister Leach?«, erkundigte sich der Alte im kruden Akzent. Sarah fragte sich, ob die Chinesen in London so sprachen, weil sie es wollten oder ob sie nur der Erwartung der Briten entsprachen?

    »Nur auf der Durchreise, ehrenwerter Chu«, antwortete Archibald. »Mit meiner Frau.«

    »Sarah Goldberg«, stellte sie sich vor.

    »Nett.« Chu wandte sich ab und schritt mit seiner Begleitung davon.

    »Das war schräg«, meinte Sarah und schaute sich um. An jeder Ecke und in den Fenstern der umliegenden Häuser tauchten nun Chinesen auf.

    »Warum beobachten die uns?«, flüsterte Sarah.

    »Tun sie nicht«, meinte er.

    »Wirklich?« Sie sah sich nach einem Fluchtweg um.

    »Sie beobachten ausschließlich Sie!«, erklärte er.

    »Weshalb?«

    »Weil Sie neu sind, und dies bedeutetet in der Regel, dass Sie entweder ein Spitzel sind oder Konkurrenz darstellen.«

    »Wie beruhigend«, meinte sie.

    »Ich werde einige Gespräche führen müssen, damit die umliegenden Familien in Ihnen keine Gefahr sehen. Wird etwas dauern, aber -«

    »Das geht auch schneller«, unterbrach sie ihn, packte seinen Kragen und zog ihn zu sich heran. Mit einer stürmischen Umarmung küsste sie ihn auf den Mund. Ihr Verhalten hätte zur Willkommensfeier eines jahrelang auf See tätigen Matrosen gepasst. Nach einigen Minuten löste sie sich von ihm. Sie sah sich um.

    Die Frauen in den Fenstern lächelten, manche winkten ihr zu.

    »Problem erledigt«, sagte Sarah. »Jetzt zu Ihrer Wohnung.«

    »Folgen Sie mir«, erklärte Archibald verdattert und führte sie zu einer schmutzigen Wohnblockfassade. Nach wenigen Schritten blieb er stehen und drehte sich zu ihr um.

    »Wieso nicht Sarah Leach?«, fragte er. »Wir sind doch verheiratet.«

    »Getraut vom Kapitän eines Luftschiffs«, erwiderte sie.

    »Was ist daran falsch?« Er führte sie in eine enge Gasse zwischen zwei Häuserfronten.

    »Der Mann war kein Rabbi«, erklärte Sarah und stieg über einen Haufen feuchter Lumpen von der Größe eines schlafenden Menschen.

    »Ein Rabbi?« Archibald nahm seinen Zylinder ab und fuhr sich mit der Hand über den kahlen Schädel. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so gläubig sind.«

    »Bin ich auch nicht«, erwiderte sie.

    »Warum dann -?«

    »Weil mein Vater es sich wünscht«, antwortete sie.

    »Aber … er ist doch tot oder irre ich mich?« Archibald blieb stehen.

    »Er hat immer davon gesprochen, dass er sich für mich eine traditionelle jüdische Hochzeit wünscht. Nach dem Unfall mit der Hand machte er sich noch mehr Sorgen um mein Schicksal, als vorher.« Sarah schaute ihm in die Augen. »Es ist sein letzter Wille gewesen.«

    »Ich verstehe«, sagte er.

    Sie verließen die Gasse und standen vor einem kastenförmigen Lagerhaus aus rotem Ziegel. Vierzig Yards im Quadrat und ebenso hoch.

    Keine Fenster?

    An den Hauswänden lungerten ein Dutzend vermummte Gestalten herum. Zielstrebig hielt Archibald auf das Lagerhaus zu.

    »Haben Sie keine Befürchtungen, dass diese Gangster Ihre Wohnung plündern?«, fragte sie leise.

    »Nicht besonders«, antwortete er.

    »Weil?«, fügte sie hinzu.

    »Der Clan von Meister Chu hat mich zum Ehrenmitglied ernannt.«

    »Sie haben dem Oberhaupt das Leben gerettet?«, fragte sie hoffnungsvoll.

    »Nicht ganz.«

    »Sie haben seinem Sohn das Leben gerettet?«, versuchte sie es erneut.

    »Beinahe«, gab er zu. »Tatsächlich habe ich für den Tod seines Sohnes gesorgt.«

    Fassungslos starrte sie ihn an.

    »Ich sollte es erklären«, meinte er.

    »Wenn es keine Umstände macht«, antwortete sie in sarkastischem Tonfall.

    Bin ich mit einem eiskalten Mörder verheiratet?

    Er blieb stehen und flüsterte: »Der Sohn des alten Chu tötete im Rausch mehrere Frauen. Ich war zufällig in der Gegend und löste das Problem.«

    »Sie haben ihn ermordet?«

    »Er war schon tot, er wusste es nur noch nicht. Wäre der Mord mit Meister Chu in Verbindung gebracht worden, hätte der Clan der Takeda einen Rachefeldzug begonnen und Scotland Yard hätte jeden Stein in Limehouse umgedreht.«

    Die Fülle an beunruhigenden Informationen ließ Sarah frösteln.

    »Gehen wir rein«, sagte sie.

    Noch mehr Enthüllungen verkrafte ich nicht.

    Archibald trat vor ein hölzernes Portal und entriegelte das Schloss mit einem kleinen Schlüssel.

    »Wenig beeindruckend«, sagte Sarah.

    »Abwarten«, erwiderte er.

    Sie betraten einen Flur mit unverputzten Wänden, dessen einzige Dekoration aus einem hellen Teppich mit Brandlöchern bestand. Das Ende des Gangs dominierte ein massiver Doppelflügel aus Stahl mit komplexen Schlosskonstruktionen. Zahnräder hielten Ziffern und Buchstaben aus Metall in Bewegung.

    Archibald schloss die Tür hinter ihnen.

    Ein Rumpeln setzte ein.

    »Sie setzen auf Technik?«, entfuhr es Sarah.

    »Überrascht?«

    »In der Tat«, gab sie zu. »Bei Ihrer Abneigung gegen moderne Maschinen hätte ich auf Knoblauchzehen oder Pentagramme als Einbruchsschutz getippt.«

    Das Rumpeln nahm zu.

    Es kommt von oben!

    Sie schaute hoch und erschrak. Eine Steinplatte mit nach unten zeigenden Eisenspitzen glitt auf sie herab.

    »Ist das Absicht?«, stieß sie hervor.

    Statt einer Antwort trat er in die linke Ecke des Flurs und drückte auf einen Fleck an der Wand.

    Die Felsplatte kam zum Stillstand.

    »Diese ganze Apparatur ist reine Show, nicht wahr?« Sie deutete auf die klickenden Zahnräder und die Schlösser.

    »Erwischt!«, sagte er.

    »Dann zeigen Sie mir das Reich des verschrobenen Junggesellen«, bat sie und zeigte auf den Eingang.

    Er drückte auf einen weiteren Fleck und die Tür schwang auf. »Sesam öffne dich!«

    Der bizarre Anblick fesselte ihre Aufmerksamkeit. Mitten in der Lagerhalle wuchs ein Baum.

    Das ist ein richtiger Laubbaum mit Stamm, Ästen und Blättern!

    Die Sorte kannte sie nicht.

    Sie trat in die lichtdurchflutete Halle und schaute hoch. Glasflächen an der Decke ließen die Sonnenstrahlen herein. Stabile Gitter sorgten für Sicherheit.

    Sie schloss die Augen und genoss den Geruch nach Moos und Laub.

    »Sie sind beeindruckt«, sagte er und lächelte. »Geben Sie es ruhig zu.«

    »So eine übergroße Topfpflanze zerstört sicher jeden Teppich, oder?« Sie konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Warum ein Baum?«

    »Hat sich so ergeben«, erklärte er.

    »Darüber sprechen wir noch.« Sie schaute sich um und entdeckte zwischen gestapelten Holzkisten eine rote Tür. Ein breiter Treppenabgang lag im Schatten des Baums.

    »Eine weitere Falle?«, fragte sie.

    »Sehen Sie selbst«, er deutete auf die Stufen.

    Sein Umgang mit den paranoiden Monsterjägern hat eindeutig abgefärbt.

    Sarah schritt die Treppe herunter und stand vor einer grünen Tür. Sie klopfte mit ihrer Prothesenhand gegen die Scharniere. »Das Ding ist nicht echt.« Neben den Schlüssellöchern fand sie Kratzspuren. »Haben es schon viele Diebe versucht?«

    »Nur ein paar Narren, keine ernstzunehmenden Gegner.«

    Sie stieg die Treppenstufen hoch und entdeckte in den Schatten hinter Archibald einen jungen Chinesen, der ein schweres Paket in den Händen hielt.

    Er will ihn erschlagen!

    »Achtung!«, schrie sie und rannte auf den Fremden zu. Sie stieß ihren Gefährten zur Seite und griff in ihrer Umhängetasche nach dem Spektralrepetierrevolver.

    »Nein!«, rief Archibald.

    Sie hielt inne.

    »Aber -«

    »Mister Leach?«, fragte der Chinese und trat einen Schritt zurück. In seinem pickligen Gesicht las sie pure Verwirrung.

    »Darf ich vorstellen?« Archibald verbeugte sich. »Das ist Mrs. Sarah Leach.«

    »Sarah Goldberg, bis der Rabbi was anderes sagt«, erwiderte sie. »Und dies ist?«

    »Hop-Sing, ein bemerkenswerter Gentleman, den ich in meine Dienste genommen habe. Er schaut in meiner Abwesenheit nach dem Lagerhaus.«

    »Wie kommen Sie hier herein?«, fragte Sarah. Im selben Augenblick entdeckte sie die zur Seite geschobenen Holzkisten und die zwei dahinter verborgenen Türen.

    Hop-Sing fragte: »Sarah ist jetzt Ihre Gattin?«

    »Exakt«, bestätigte Archibald.

    »War bestimmt eine aufregende Reise, oder?« Hop-Sing lächelte mit seinen strahlenden Zähnen buchstäblich von einem Ohr zum anderen.

    »Darauf können Sie wetten.« Sarah deutete auf das Paket in den Händen des jungen Mannes. »Was haben Sie dort?«

    »Post von Mister Bromten«, sagte Hop-Sing. »Der Rest ist bereits unten.«

    An den verwirrten Schriftsteller erinnerte sich Sarah nur zu gut.

    Warum der Mann jeden Tag im Schatten der Westminster Abbey sitzt und für Archibald die Korrespondenz entgegennimmt, finde ich schon noch heraus.

    »Unten?« Sie schaute ihren Ehemann fragend an.

    »In der echten Kellerwohnung. Der Eingang befindet sich unter der versteckten Falltür vor der roten Tür.«

    »Ich zeige es Ihnen«, bot sich Hop-Sing an und entriegelte den Mechanismus an einer leeren Kiste. Das Klicken eines großen Zahnrads bewegte den Fußboden nach unten. Stufen wurden freigelegt, die fünf Yards in die Tiefe führten.

    Was haben diese Umbauten gekostet?

    »Soll ich den Kleinen wecken?«, fragte Hop-Sing.

    »Er kann ruhig noch schlafen«, meinte Archibald.

    »Wer oder was?« Mehr sagte Sarah nicht. Sie starrte den jungen Mann herausfordernd an. »Nun?«

    »Suggs ist eine Art Lehrling«, erklärte Hop-Sing. »Tatsächlich ist das Schlitzohr ein geschickter -«

    »Taschendieb«, ergänzte Archibald. »Er irrte bei den Docks herum. Eigentlich heißt er Jarvis Suggerton.«

    »Eine Straßenbande wollte ihn zusammenschlagen«, warf Hop-Sing ein. »Mister Leach rettete ihn.«

    »Sie gegen eine ganze Bande?«, fragte Sarah. »Etwa mit dem Stockdegen, der ständig klemmt?«

    »Ich habe Suggs für einen guten Preis gekauft«, erklärte er.

    »Gekauft?«

    »Er stottert seine Schulden bei mir ab, indem er Unterricht nimmt und sich einige Sprachen aneignet.«

    »Wie alt ist dieser Verbrecher?«, fragte sie.

    Ein kleiner Junge tauchte im Durchgang einer vorher verborgenen Tür auf. Sarah schätzte ihn auf höchstens acht Jahre. Bei ihrem Anblick legte er den Kopf schief.

    »Flotte Biene«, unterbrach Suggs die Stille.

    »Ausgesprochen charmant. Haben Sie ihm das beigebracht?«, flüsterte Sarah und rempelte ihren Gefährten mit dem Ellbogen an. Hop-Sing kicherte.

    »Hallo Suggs«, sagte Archibald, »schon wieder gewachsen, wie ich sehe.«

    In den Händen des Jungen tauchte ein Kartenspiel auf. Er drehte es zu einem Fächer, warf die Karten in die Luft und fing sie einzeln auf, ohne dass eine Spielkarte den Boden berührte.

    »Beeindruckend.« Sarah war sich nicht sicher, ob sie ähnliche Kunststücke schon einmal gesehen hatte.

    »Danke, Miss«, antwortete der Junge. »Sie aber auch!«

    »Es handelt sich bei der Lady um Mrs. Leach«, erklärte Hop-Sing im ehrfürchtigen Ton.

    »Echt?«, fragte Suggs und trat näher heran.

    »Hier sind einige Münzen«, meinte Archibald und warf sie dem Jungen zu, der sie aus der Luft fischte. »Seht mal nach, wie viele Süßigkeiten man damit kaufen kann.«

    »Wird gemacht, Master«, sagte Suggs und lief mit Hop-Sing hinaus.

    »Warum helfen Sie diesen Straßenkindern?«, fragte sie.

    »Kinder sind unsere Zukunft«, sagte er leichthin.

    »Wirklich?«

    Der Nachhall des Satzes gefiel ihr.

    Der Gedanke an eigene Kinder, überlegte sie, war bisher weit weg.

    »Ab nach unten, wenn ich kein Bad bekomme, bearbeite ich Ihren Schädel mit meiner Tasche.«

    »Dann beuge ich mich der Gewalt«, sagte er und sie stiegen die Stufen hinunter.

    Hinter der Tür am Treppenende führte er sie durch eine zweckmäßige Küche, deren Kaminabzug in der Decke verschwand. Leuchter an den Wänden erzeugten eine angenehme Atmosphäre. Sarah entdeckte oberhalb der Lampen keine Rußflecken.

    »Mit Anbarkristallen betrieben?«, fragte sie.

    »Kostspielig, aber sicherer«, erwiderte er. »Dort drüben ist ein Vorratsraum.«

    »Langweilig«, kommentierte sie.

    Er öffnete eine weitere Tür. Der Raum dahinter war auf drei Yards Höhe mit labyrinthartigen Regalwänden zugestellt worden. Bücherstapel reichten bis zur Decke.

    »Eine Bibliothek?«, fragte sie amüsiert. »Wenig überraschend.«

    Irritiert schaute er sie an, bevor er sagte: »Dies ist die wohl bedeutendste Sammlung -«

    »Okkulter Machwerke, oder?«

    »Natürlich nicht«, antwortete er empört.

    »Nein?«

    »Nicht nur«, gab er zu. »Es sind auch Atlanten, Reiseberichte und hohle Bücher darunter.«

    »Hohl?«, fragte sie.

    Ohne ein weiteres Wort trat er an ein Regal, zog ein gebundenes Buch heraus und reichte es ihr. Sie klappte es auf. In die Seiten war ein Viereck geschnitten worden, in dem ein Lederbeutel lag.

    »Mal schauen, was Sie dort -«

    »Keine gute Idee«, meinte er. »In diesem Beutel befindet sich ein Pulver, mit dem man die Zombifizierung auf Haiti durchführt.«

    »Zombifizierung?«, wiederholte sie.

    »Meinen Sie, hier ist noch Platz für meine eignen Bücher und Konstruktionspläne?«

    »Da findet sich sicher etwas«, murmelte er und öffnete schwungvoll eine weitere Tür. »Das Wohnzimmer.«

    Rasch trat sie ein und sah sich um. Das warme Licht der Leuchten auf Anbarbasis war hell genug, um das ganze Ausmaß seiner Exzentrizität zu erkennen. Der Raum teilte sich in zwei Bereiche. Auf der einen Seite standen drei Ledersessel, ein Tisch und eine winzige Bar mit allerhand alkoholischen Getränken. Auf der Theke lagen ein turmhoher Stapel Briefe und ein paar Pakete.

    Die andere Raumhälfte entpuppte sich als in den Boden eingelassener Ritualkreis. Im Inneren der Markierung entdeckte sie ein Kohlebecken, Kerzenstummel, leere Flaschen und abstrakte Holzfiguren.

    »Sind diese Beschwörungskreise nicht sonst aufgemalt?«, fragte sie.

    »Schon, aber es ist lästig und in die Rillen kann ich geweihtes Salz kippen.«

    »Benutzen Sie den Ritualkreis oft?«, erkundigte sie sich.

    »Nicht wirklich.« Er wich ihrem Blick aus, was sie verdächtig fand.

    Wenn es stimmt, könnte man diese Geschmacklosigkeit mit einer dicken Plane abdecken und ich habe Platz, um Maschinenteile zu säubern.

    »Zum Abschluss der kleinen Tour präsentiere ich das Schlafzimmer«, sagte er und öffnete die Tür. Zu ihrer Überraschung war es geschmackvoll eingerichtet und verfügte über geräumige Kleiderschränke. »Mit angeschlossenem Bad und einem dieser neuartigen Wasserklosetts«, fügte er leise hinzu.

    Auf Sarah erweckte die Wohnung den Eindruck eines behaglichen Dachsbaus.

    Archibald deutete auf den Stapel Post im Wohnzimmer und sagte: »Darum sollte ich mich wohl mal kümmern.«

    »Jetzt?«

    »Es könnte eine wichtige Mitteilung darunter sein.«

    »Wir sind auf dem Weg zu unserer Hochzeitsreise«, erinnerte sie ihn.

    »Und wenn es wichtig ist?«, beharrte er.

    »Was soll schon wichtig sein, bei einer Nachricht von -« Sie schritt zur Sitzgruppe und nahm das erste Schriftstück in die Hand. »Von Lloyd und Ian. Hmm. Eben dachte ich noch an die Monsterjäger.«

    Das letzte Mal habe ich die beiden alten Männer in Kairo gesehen.

    Resigniert überreichte sie ihm den Brief.

    »Je schneller wir hier fertig sind, desto rascher befinden wir uns auf dem Weg nach Paris«, erklärte er und öffnete den Umschlag.

    »Was schreiben Sir Turner und Collins?«, fragte sie. Dann fiel ihr etwas ein. »Wenn die Post jetzt schon hier ist, müssen sie es fast sofort nach ihrem Aufbruch abgesendet haben.«

    »Hm«, kam die einsilbige Antwort.

    Um sich abzulenken, hob Sarah einen tönernen Götzen vom Boden auf. Die Fratze wirkte auf beunruhigende Weise real. Ebenso die mit Liebe modellierten Frauenbrüste darunter.

    »Die beiden gehen wirklich auf die Suche nach dem Mi-Gö«, fasste er das Gelesene zusammen.

    »Was auch immer das ist«, murmelte sie und legte den Götzen mit dem Gesicht nach unten auf den Boden.

    »Der unheimliche Schneemensch in Tibet«, erklärte er. »Sie schreiben etwas von einem zuverlässigen Kontaktmann, der gerade in einem Gefangenenlager sitzt.«

    »Wenn dies nicht für seine Zuverlässigkeit spricht, dann weiß ich auch nicht«, sagte sie trocken.

    »Sir Ian möchte ihn durch Bestechung befreien und dann den Yeti finden.«

    »Ein grandioser Plan«, murmelte sie.

    »Der Mann ist halt Jäger aus Leidenschaft.«

    »Aber auch Monsterjäger, noch dazu alt und paranoid«, zählte Sarah auf. »Noch etwas?«

    »Ein Brief für Sie«, sagte er und reichte ihn ihr.

    Sie traute ihren Augen nicht, als sie den Umschlag öffnete.

    »Zwei Billetts für das Luftschiff Star of the Sky

    Sie kannte nur Anzeigen und Bilder von dem Luxuszeppelin.

    »Welcher Wohltäter dies wohl in die Wege geleitet hat?«, fragte er schelmisch.

    »Danke«, sagte sie, packte ihn an der Krawatte und zog ihn zu sich heran. Sie küsste ihn und er umarmte sie fest. Keuchend ließ sie nach einigen Sekunden von ihm ab. Bevor sein Lächeln zu breit wurde, fragte sie: »Was soll das mit dem Baum?«

    »Na schön«, gab er seufzend auf, »die Halle gehörte bereits meinem Vater. Stand aber jahrelang leer. Als ich das Erbe antrat, war der Baum schon einige Yards hoch und ich fand es unfair, ihn zu entfernen.«

    »Wie wird er bewässert? Ich meine -«

    »Seien Sie still!«, fuhr Archibald ihr ins Wort.

    Sie wollte sich schon über seinen rüden Ton beschweren, als sie seinen konzentrierten Blick bemerkte. Er holte den horriblen Unschärfekompass des relativen Bösen aus der Jackentasche und betrachtete die zappelnden Nadeln.

    »Etwas stimmt hier nicht! In diesem Raum!«

    »Die Einrichtung?«, warf sie spöttisch ein.

    Langsam drehte sich Archibald herum und deutete auf ein Paket von der Größe eines Schuhkartons. »Dort!«

    »Eine Bombe?«, fragte Sarah und wich zurück.

    »In spiritueller Hinsicht durchaus«, erklärte er mit ernstem Ton.

    »Ach verdammt«, sagte Sarah, »fast hätten Sie mich überzeugt.« Sie schritt zu dem Paket und zerriss die Paketschnur.

    »Ich sollte besser eine Sondierung mittels okkulter Techniken durchführen«, gab Archibald zu bedenken.

    »Keine Zeit, die Flitterwochen rufen!«

    Sie öffnete das Paket und warf einen Blick hinein. Erleichtert sagte sie: »Falscher Alarm.«

    Archibald trat neben sie und hielt ihre Hände fest.

    »Nicht anfassen!«

    »Es ist nur eine Puppe«, widersprach Sarah. »Eine Hässliche obendrein!«

    Obwohl sie mich an jemanden erinnert.

    »Da stimmt etwas nicht«, sagte er und umkreiste das Paket.

    »Ein Scherz?«

    »In der Tat dachte ich daran -« Er betrachtete die Stoffpuppe eingehender. »Fällt Ihnen die Ähnlichkeit auf?«

    Sarah schaute genauer hin und erkannte trotz der primitiven Machart die frappierende Übereinstimmung zwischen dem Lumpengebilde und ihrem Begleiter. Den haarlosen Schädel der Puppe krönte ein Zylinder und an einer Hand war ein Stock angebracht worden.

    »Was ist dies für ein Fetzen an der Brust?« Sie beugte sich vor. »Hemdstoff. Dunkelrot. Das Muster kommt mir bekannt vor.«

    »Das kaputte Hemd«, flüsterte er.

    »Kaputt?«

    »In Indien fand ich eines meiner roten Hemden zerrissen vor. Ich dachte, es handelte sich um das Werk einer Ratte oder eines anderen Tieres.«

    »Eine Art Voodoozauber?«, fragte Sarah.

    Archibald schüttelte den Kopf. »Unwahrscheinlich. Solche Puppen kommen in Penny-dreadful-Romanen vor, sind aber in der friedlichen Voodooreligion unüblich.« Er fuhr sich über das Kinn. »Hexen in Osteuropa verwenden diese Art des Analogiezaubers, doch ich habe noch nie gehört, dass jemand -«

    »Was bedeutet es dann?«, fragte sie.

    »Ärger«, meinte Archibald. »Nur von welcher Seite?«

    3. KAPITEL

    MUNDGERUCH IN SOHO

    »In jeder guten Ehe sollten sich beide Parteien einige Geheimnisse bewahren. Zuviel Offenheit schadet der natürlichen Neugierde des Menschen und senkt das Interesse am Partner. So viel zur allgemeinen Theorie, aber bei Exzentrikern gilt das genaue Gegenteil. Diese Personengruppe neigt zu einem Übermaß an zurückgehaltenen Informationen. Zum Schutz der geistigen Gesundheit kann ich nur empfehlen, so schnell wie möglich viele der Rätsel zu entschlüsseln. (Sicher, man gewöhnt sich an Überraschungen, aber Herzspezialisten raten vehement davon ab.) Schreiben Sie diese Offenbarungen auf und nutzen Sie die moderne Technik der Extrapolation, um auf weitere Enthüllungen in der Zukunft schließen zu können. Wappnen Sie sich und seien Sie wachsam. Immer wenn man sich sicher fühlt, rückt der Moment näher, wo es erneut drunter und drüber geht …«

    Auszug aus dem Buch »Ehe mit einem Exzentriker«.

    Ein Ratgeber von Sarah Goldberg.

    »Da schickt jemand eine Stoffpuppe, na und?« Sarah zuckte mit den Schultern. »Bei den seltsamen Personen, die Ihre Artikel über Ätherkraft und Okkultismus lesen, musste dies ja eines Tages geschehen.«

    »Ich glaube nicht, dass es sich um Voodoo handelt«, meinte Archibald. »Die Sache ist ernster.«

    »Nicht so ernst, dass es unsere Hochzeitsreise gefährdet, oder?«

    »Sicher nicht«, antwortete er hastig, »aber wir könnten auf Nummer sichergehen und einige harmlose Erkundigungen einholen.«

    »Wir fliegen nach Paris, verstanden?«

    »Der Besuch einer seriösen Seherin verschafft uns Klarheit«, meinte Archibald. »Es dauert nicht lange.«

    »So hat es beim letzten Mal auch angefangen«, warf sie ein.

    »Keine Sorge«, antwortete er.

    »Das sagten Sie beim letzten Mal auch«, erwiderte sie.

    »Diesmal stimmt es.«

    »Hoffentlich, aber wenn es unsere Pläne mit Paris nicht gefährdet, warum nicht?«

    »Ich wusste, Sie unterstützen mich«, sagte er.

    »In guten und in schlechten Zeiten«, leierte sie herunter. »Mir war allerdings nicht klar, dass die weniger guten Zeiten so rasch anbrechen würden.«

    »So schlimm ist es nicht, ein kurzer Besuch, und wir haben noch genug Zeit für die Reisevorbereitungen.«

    »Schön zu hören, dann könnten Sie bald mit dem Rabbi sprechen.«

    »Ja, natürlich«, stammelte er.

    »Zuerst möchte ich aber baden und mich ausruhen«, sagte sie mit Bestimmtheit.

    »Ich bringe Sie gerne in Ihre Wohnung, dann können Sie -«

    »Hier!«, unterbrach sie ihn.

    »Hier?«

    »Ich lasse Sie nicht aus den Augen.« Sie fixierte ihn. »Morgen früh fahren wir in meine Werkstatt und ich packe meine Koffer.«

    »Ich könnte in der Zeit doch problemlos die Seherin aufsuchen und -«

    »Bei der Sache mit der Seherin begleite ich Sie«, sagte Sarah.

    »Wirklich?«, fragte Archibald.

    »Wenn ich nicht dabei bin, endet das Ganze doch nur in einem Desaster.«

    »Eine etwas übertriebene Einschätzung«, murmelte er.

    »Keineswegs«, erwiderte sie. »Wo finde ich das Bad?«

    »Hier lang.«

    ***

    Beim Auskleiden vor dem bodentiefen Spiegel blieb ihr Blick an der Narbe auf ihrem linken Oberarm hängen. Das eingeritzte Krokodil war ein Andenken aus Afrika, angeblich der Zauber einer Schamanin.

    Mein Vater würde einen Herzschlag bekommen.

    Der Gedanke an ihn trübte ihre heitere Stimmung.

    Von den Abenteuern mit Archibald hätte er nichts gehalten.

    Sie folgte dem Duft nach Veilchen ins Bad. Die Wanne war randvoll mit warmem Wasser und lockte mit einer Schicht aus dichtem Schaum.

    Die Zeit in der Badewanne verdrängte alle negativen Gedanken und sie gab sich der Wärme hin.

    Endlich ein Stück Luxus.

    Nach dem Bad wickelte sie sich in ein Handtuch und betrat das Schlafzimmer. In einem Meer aus Kerzen lag Archibald auf dem einladenden Bett wie auf einer Insel.

    »Ich hoffe, Sie sind noch nicht zu müde, Sarah?«

    »Ist das Antwort genug?« Sie ließ das Handtuch fallen.

    ***

    Sarah erwachte und streckte ihre Hand aus.

    Er ist nicht da. Warum überrascht mich das nicht?

    Ihre Reisekleidung war schmutzig und so zog sie einen Hausmantel an und zog den Gürtel fest. Auf einer Anrichte entdeckte sie ein großes Stück Papier. Sie drehte das Plakat herum: »Circus of Seven Wonders«. Ein Schriftzug lautete: »London, Paris, Moskau und wieder zurück.«

    »Das lag gestern noch nicht hier«, murmelte sie. Schmunzelnd fügte sie hinzu: »Soll das eine Überraschung werden?« Sie zuckte mit den Schultern.

    Mal sehen, was mein Gatte so treibt.

    Sie fand ihn zusammen mit Hop-Sing und dem kleinen Suggs im Wohnzimmer. Das Trio umringte die Stoffpuppe mit dem Zylinder.

    Archibald traktierte die Puppe mit einem Feuereisen und sagte in seinem Referententon: »Wenn mir der Hemdstoff in Indien gestohlen wurde, dann handelt es sich nicht um einen harmlosen Streich, oder?«

    »Höchst unwahrscheinlich, Mister Leach«, pflichtete Hop-Sing bei.

    »Ein Feind?«, fragte der kleine Suggs.

    Wie entwickelt ein Kind derart abgebrühte Gedanken?

    Ihr fiel der Schmiss im Gesicht des Jungen auf.

    »Soll ich die Geisterdetektoruhr von Meister Horatio einschalten?«, fragte Hop-Sing und nahm ein Tuch von einer bizarren Apparatur mit Pendeln und Zeigern.

    Das Werk eines kranken Geistes.

    »Ich fürchte, mein letzter Versuch hat nicht nur sämtliche Leuchten, sondern auch den Detektor beschädigt«, gab Archibald zu. »Vielleicht kann ich Sarah überreden, sich die Sache mal anzusehen und -«

    »Bevor ich mir diesen Kram ansehe«, unterbrach sie ihn, »warten überfällige Aufträge meiner Kunden auf mich.«

    »Die warten doch ohnehin schon lange genug«, erwiderte Archibald.

    »Darum möchte ich vor unserer Abreise noch kurz in meine Werkstatt«, erklärte sie.

    »Sie wollen noch arbeiten?«, fragte er.

    »Ich möchte nur ein paar Kleider einpacken und eine Nachricht für meine Kunden hinterlassen.«

    »Wozu?«, entfuhr es ihm.

    »Ich möchte meine zahlende Kundschaft nicht verlieren.«

    »Wir sind auf das Geld nicht angewiesen«, sagte Archibald. »Ich verfüge über genügend -«

    »Ehrlich verdientes Geld«, brauste Sarah auf. »Nichts, was durch kriminelle Machenschaften erlangt wurde.«

    »Mein Geld wurde auch ehrlich verdient«, verteidigte er sich.

    »Aber nicht von Ihnen!«, sagte sie trocken.

    »Die Lady hat Feuer«, unterbrach Suggs die einsetzende Stille.

    Was für ein seltsamer Junge.

    »Ich weiß, Suggs«, stimmte Archibald zu, »aber einer Dame gegenüber sollte man etwas charmanter sein. Denke an meine Worte.«

    »Ich wollte nur was üben«, erwiderte der Junge und schaute zu Boden.

    »Üben?«, fragte sie. »Was denn?«

    »Schauspielunterricht«, erklärte Archibald.

    »Welches Theater nimmt so junge Schauspieler?« Sarah runzelte die Stirn.

    »Es ist nicht direkt ein Theater.«

    »Egal«, sie richtete ihren Blick auf das Feuereisen in seiner Hand. »Was genau haben Sie damit vor?«

    »Diese Puppe ist eine Drohung«, sagte er.

    »Kann es nicht einfach ein schlechter Scherz sein?«, fragte sie.

    »Das Ding ist echt«, versicherte Archibald. »Wenn überhaupt, hätte nur Lloyd Collins einen solchen Scherz ausarbeiten können. Sir Ian hätte mir einen giftigen Skorpion geschickt.«

    »Das sähe Sir Ian ähnlich«, stimmte Hop-Sing zu.

    »Heißt es nicht Sir Turner?«, fragte Sarah verwirrt.

    Der junge Mann starrte sie an, als wäre ihr ein zweiter Kopf gewachsen.

    »Was ist los?«, fragte sie.

    »Nun«, sagte Archibald, der sich unbehaglich in seinem Sitz räkelte. »Eigentlich lautet die korrekte Ansprache Sir Ian oder Sir Ian Turner, aber niemals Sir Turner.«

    »Warum haben Sie mir das nie gesagt?«

    »Es klang so niedlich«, gab er zu.

    Deshalb die merkwürdigen Seitenblicke von Lloyd Collins!

    »Was ist an der Sache überhaupt so wichtig?«, fragte sie, um von ihrem Fehlgriff abzulenken. »Wir werfen die blöde Puppe weg, fahren kurz in meine Werkstatt, dann zu der Seherin und ab zum Zeppelin.«

    »Könnten wir natürlich machen«, sagte Archibald langsam und die Köpfe von Suggs und Hop-Sing ruckten überrascht in seine Richtung. »Könnten«, betonte er, »tatsächlich halte ich die Gefahr für zu groß, um sie zu ignorieren.«

    »Was kann die Puppe denn?«, fragte sie. »Motten anziehen?«

    Der kleine Suggs kicherte.

    »Wenn ich mich nicht täusche, dann übernimmt diese Puppe den Träger -«

    »Übernimmt?«

    »Das Opfer könnte besessen sein und würde dann aus der Ferne gesteuert«, spekulierte Archibald. »Was, wenn ich nicht der einzige Empfänger einer derartigen Puppe bin?«

    »Damit beschäftigen wir uns nach unserer Rückkehr«, sagte Sarah.

    »Dann könnte es zu spät sein«, warnte er.

    »Ich sehe schon, wohin das führt«, sagte sie ergeben. »Ich brauche frische Kleidung. Wollen Sie in meine Werkstatt fahren und dort -«

    »Es sind noch Frauenkleider im Schlafzimmer«, warf Hop-Sing ein.

    »In der Tat«, sagte Archibald. »Hat eine … Tante hier vergessen.«

    »Eine Tante?«, fragten Sarah und Hop-Sing unisono.

    »Welche denn?« Sie beugte sich vor. »Wo ich doch jetzt zur Familie gehöre.«

    »Fürwahr«, meinte Archibald rasch, »aber uns läuft die Zeit davon.«

    Ich erkenne ein Ablenkungsmanöver, wenn ich es sehe.

    »Dann warten Sie eine halbe Stunde, während ich die Sachen der Tante einmal durchsehe?«

    »Auf Sie habe ich ein Leben lang gewartet, da kommt es auf eine halbe Stunde nicht an«, erklärte Archibald.

    »Charmeur! Sofort danach geht es in meine Werkstatt und ich packe für die Hochzeitsreise, klar? Keine weiteren Umwege!«

    »Sie sind die Beste«, meinte er und strahlte sie an. Hop-Sing steckte ihm eine Münze zu. Sie verzichtete auf einen Kommentar.

    »Eigentlich«, sagte sie und senkte dabei die Stimme, »könnte ich mir eine angenehmere Beschäftigung vorstellen.« Unauffällig wies sie mit dem Kopf in Richtung des Schlafzimmers.

    »Betrachten Sie unseren kleinen Ausflug als appetitanregende Vorspeise«, antwortete er und hob eine Augenbraue. »Sie werden es nicht bereuen.«

    Sarah verließ das Wohnzimmer und schloss die Tür hinter sich.

    Im Schlafzimmer durchsuchte sie die Schränke. Beim ersten Versuch entdeckte sie eine vollständige Ausrüstung für Bühnenzauberer, darunter Zauberstab, Handschellen, Spielkarten und mit Samt bezogene Boxen.

    Das erklärt so manche Verhaltensweise.

    In den anderen Schränken fand sie neben Krempel aus der ganzen Welt auch Frauenkleider. Die Sachen hatten ihre Größe, allerdings mit gewagteren Ausschnitten, als sie üblicherweise trug. Ein Lederkleid mit langen Fransen erinnerte sie an das Kostüm einer Apachin aus einer Völkerschau.

    Eine hochinteressante Tante. Entweder handelt es sich um Calamity Jane oder sie gastiert in einem Varieté.

    Sie entschied sich für ein rotes Kleid mit tiefem Ausschnitt.

    Diese Tante verfügt über eine beachtliche Oberweite.

    Ihre Schuhe waren mitgenommen, aber noch intakt. Sie nahm ihre Ledertasche und setzte ihren Hut auf.

    Im Wohnzimmer sagte sie zuerst: »Haben Sie Munition vorrätig?«

    »Ich denke nicht, dass wir Waffen benötigen«, erwiderte Archibald. »Wir besuchen nur eine Wahrsagerin.«

    »Sagt der Mann mit der Liste von Erzfeinden«, hielt sie dagegen, »und packen Sie den Stockdegen ein.«

    »Schaden kann es nicht«, erwiderte er.

    ***

    »Auf direktem Weg nach Soho!«, teilte Archibald dem Fahrer der Dampfdroschke mit. Sarah ergriff die Türklinke der Kutsche.

    »Nich mit mir«, erwiderte der Mann mit schwerem Eastend-Dialekt. »Die Bullen kontrollieren auf der Fleet Street und auf der Shaftesbury Avenue.«

    »Wir haben nichts zu verbergen«, stellte Archibald fest.

    »Glaub ich, Mister. Ich auch nich, aber die Bullen verhaften auch normale Leut. Will ich nich bei sein.«

    »Das Schicksal möchte wohl nicht, dass wir nach Soho fahren.« Sarah ließ die Klinke los und lächelte. »Höhere Gewalt, oder?«

    »Also gut«, meinte Archibald zum Kutscher, »bringen Sie uns an den Sperren vorbei.«

    »Wird gemacht, Chef!« Der Mann gab dem Kohlenschipper auf dem hinteren Teil des Gefährts das entsprechende Kommando und dröhnend setzte sich die Droschke in Bewegung.

    »Keine übernatürlichen Phänomene«, grübelte Archibald laut und Sarah ergänzte: »Seit wann verhaftet der Scotland Yard willkürlich Bürger von London? Das ist doch eigenartig.«

    »Dahinter steckt mehr«, gab er zu bedenken.

    Der Weg führte sie durch Holborn und Bloomsbury nach Soho.

    »Ich gebe zu, dass ich ein wenig aufgeregt bin«, sagte Archibald.

    »Inwiefern?«, fragte sie alarmiert.

    »Es heißt, dass die Seherin in der Lage wäre, den Kontakt mit den Verstorbenen herzustellen.«

    »Ich wusste doch, dass dieser Besuch nur Zeitverschwendung sein wird!«, erwiderte sie.

    »Wollten Sie etwa noch nie mit Ihrem verblichenen Vater sprechen?«, fragte er.

    »Wie denn? Diese Wahrsager sind allesamt Betrüger!«

    »Als Kind mochte er mich«, sagte Archibald.

    »Mein Vater? Ich bezweifele es.«

    »Weshalb?« Er schaute sie überrascht an.

    »Sie waren für ihn der überspannte Junge von nebenan«, erwiderte sie.

    »Oh«, entfuhr er ihm.

    Mitten auf der Oxford Street kreischten die Bremsen des Gefährts. Ein Ruck presste Sarah in den Sitz. Archibald fiel fast von der Bank.

    »Scheiße!«, fluchte der Fahrer. »Hier auch!«

    Hastig stiegen sie aus und sahen sich den Grund für die Vollbremsung an.

    Vier gepanzerte Fahrzeuge der Polizei blockierten die breite Oxford Street. Uniformierte hielten die wartende Menschenmenge in Schach. Jeder Passant wurde einzeln kontrolliert.

    Ein Kerl im langen Mantel und mit ins Gesicht gezogenem Hut überragte die versammelten Polizisten. Sarah wurde Zeugin, wie eine Frau in einem blauen Kleid abgeführt wurde. Der Riese gestikulierte und die Gefangene wurde in einen Gefängniswagen gesperrt.

    Die Menge johlte bei der Verhaftung der Frau.

    »Höchst merkwürdig«, meinte Archibald. »Den Mann dort kenne ich. Ein Okkultist mit enormem Wissen über westeuropäische Geistererscheinungen.«

    »Das wiederum wundert mich wenig«, murmelte Sarah. Lauter fragte sie: »Wer ist es?«

    »Professor Spengler.«

    »Dieser Spinner, der mit seinen Leserbriefen nervt?«

    Ein Quartalsirrer, der für die Rechte von Gespenstern eintritt.

    Der schmale Mann mit Brille und Gehstock wurde von den Beamten durchgelassen, doch der Riese hielt ihn auf. Er bellte einen Befehl. Die Uniformierten packten den Professor und schleiften ihn zu einem Gefängniswagen.

    »Was kann Scotland Yard von Prof. Spengler wollen?« Archibald schaute sie an.

    »Was es auch ist, er wird es selbst klären müssen«, sagte Sarah. »Ist es noch weit bis zu dieser Wahrsagerin?«

    »Ein paar Querstraßen im Süden«, antwortete er. Sie schritt in die angezeigte Richtung.

    Dem Gejohle nach verhaftete die Polizei erneut eine Person.

    »Was kann Professor Spengler nur getan haben?«, überlegte Archibald laut.

    Passanten strömten ihnen entgegen. Einige Tänzerinnen liefen kichernd vorbei. Eine dralle Blonde trug ein Kleid, das ihrem nicht unähnlich war.

    Was machte die Tante von Archibald?

    Ein Zeitungsjunge schrie die aktuellen Schlagzeilen heraus: »Saboteure der Preußen terrorisieren den Hafen! Tee bald teurer! Skandal! Raubkatze aus dem Zoo noch nicht gefasst!«

    Sarah winkte ihn heran, bezahlte und erhielt eine Zeitung.

    »Gute Idee«, meinte Archibald. »Vielleicht erfahren wir etwas über diese Straßensperren.«

    »Ich lese zuerst!«, sagte sie und ignorierte seine hochgezogene Augenbraue. Sie überflog die Schlagzeilen und blieb bei einer Stelle hängen.

    »Hier ist etwas«, meinte sie und deutete auf den entsprechenden Artikel. »Regierung erlässt nach Anschlägen auf Fabriken neue Notstandsgesetze. Verdächtige Personen werden festgesetzt und bei Bestätigung ihrer okkulten Tätigkeiten außer Landes geschafft.«

    »Ausgewiesen?«, fragte Archibald und nahm ihr das Zeitungsblatt aus der Hand. »Britische Bürger werden ins Exil geschickt? Ich dachte, dies wäre nicht möglich.«

    »Angst?«, fragte sie und lächelte ihn an. »Weiter jetzt!«

    ***

    »Die Adresse muss falsch sein!«, sagte Sarah, als sie vor der entsprechenden Hausnummer standen.

    »Ich bin ganz sicher«, meinte Archibald. »Nur keine Scheu. Hier ist eben alles etwas rustikaler als bei Ihnen.«

    »Etwas rustikaler«, wiederholte Sarah und schaute sich um.

    »Ich konnte bislang nicht herausfinden, ob sie diesen Stil bewusst wählt oder ob es ihr egal ist«, meinte er.

    Sie traten durch einen offenen Eingang in der Meards Street, durchquerten den schmutzigen Flur und öffneten die klapprige Tür zum Hinterhof.

    Ein übelkeitserregender Geruch schlug ihnen entgegen.

    »Was zur Hölle?«, entfuhr es Sarah.

    Der Hof wurde von Hauswänden umschlossen. Drei Wäscheleinen mit fadenscheinigen Kleidungsstücken dominierten die optische Erscheinung. Geruchstechnisch konnte Sarah sich nicht entscheiden, ob der grünliche Abfallhaufen neben der Tür oder der aufgeblähte Kadaver eines Hundes schwerer wog. Die ehemals getünchten Mauern waren mit schmutzigen Handabdrücken beschmiert worden. Auf der anderen Seite des Hofes breitete sich ein zweiter Müllhaufen aus, dessen Bestandteile sie als Knochenreste identifizierte. Ratten huschten über den mannshohen Berg aus Unrat.

    »Dort ist es«, erklärte Archibald und zeigte auf die Tür neben dem Müll.

    »Das kann nicht wahr sein«, sagte sie empört. »Mir ist jetzt schon übel.«

    »Sie wollten mit, schon vergessen?« Er grinste sie an.

    »Wehe, es wird noch schlimmer!«, zischte sie.

    »Aber nicht doch«, beschwichtigte er sie. »Dies hier ist alles nur Tarnung. Was denn sonst? Die Frau wurde mir als ausgesprochen sensibel und vermögend beschrieben. Eine Wahrsagerin von großer Macht.«

    Sie überquerten den Hinterhof und er klopfte an die schäbige Tür aus wurmstichigem Holz.

    »Machen sie schnell«, flehte Sarah leise. Sie atmete durch den Mund, um ihre Nase zu schonen.

    Wie riechen meine Haare nach diesem Ausflug?

    Eine junge Dame öffnete die Tür. Zumindest vermutete Sarah das Alter der übergewichtigen Frau zwischen zwanzig und dreißig. Die gebückte Haltung und das weiße Haar unter dem Kopftuch waren bei der Einschätzung wenig hilfreich. Im pickligen Gesicht entdeckte Sarah die Reste von Porridge. Auf der Schulter der Frau saß eine weiße Ratte. Das saubere Tier stellte einen seltsamen Kontrast zur schmutzstarrenden Erscheinung der Dame dar.

    »Was?«, fragte die Frau anstelle einer Begrüßung.

    »Prudence Ogilvy?« Archibald wartete das Nicken ab, dann stellte er Sarah und sich selbst vor.

    »Aha«, meinte die Frau und verschränkte die Arme vor der Brust. Die billigen Ketten an ihrem roten Kleid klimperten.

    »Selbstverständlich möchten wir Sie für Ihre prophetischen Dienste entschädigen«, fügte er hinzu und hielt einen Schein in der Hand. Schlagartig wich der grimmige Ausdruck aus dem Gesicht der Frau. Mit huldvoller Miene nickte sie.

    »Bitte folgen Sie mir.« Prudence drehte sich um und schritt voran. Zunächst war Sarah froh, dem stinkenden Hof entronnen zu sein, doch das Innere der Wohnung barg ein eigenes Aroma. Der Duft von gekochtem Kohl und der strenge Geruch nach Urin schlugen ihr entgegen.

    Das soll alles nur Tarnung sein?

    Sie warf einen Blick in einen Nebenraum und wusste nicht, ob es sich um eine Küche, ein Laboratorium oder ein Badezimmer aus dem Mittelalter handelte.

    Wo bin ich hier nur reingeraten?

    »Dies ist mein Salon«, verkündete Prudence und verströmte einen Mundgeruch, der die anderen Düfte in den Hintergrund drängte. »Der Raum, wo die Ratsuchenden mit meiner Hilfe einen

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