Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Narben
Narben
Narben
eBook414 Seiten5 Stunden

Narben

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Durch einen plötzlichen Todesfall in der Familie wird Kiryu mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Von einem Tag auf den anderen machulzeit war für ihn nicht einfach. Familiäre Probleme trieben Kiryu in die Kriminalität, aus der er durch Zufall herauskam, und er trat der Schulband bei. So stressig diese Zeit für Kiryu ist, so überraschend ist es auch. Ihm läuft ein Hund zu, der, wie es aussieht, ausgesetzt wurde. Das Tier freundet sich schnell mit Kiryu an und will ihm nicht mehr von der Seite weichen. Um zu gewährleisten, dass dem Hund nichts zustößt, nimmt Kiryu ihn bei sich auf.

Eine zufällige Begegnung bringt Kiryus Leben vollends durcheinander. Er trifft eine junge Frau, die ihm zeigt, dass eine andere Perspektive hilfreich ist. Kiryu lernt sich zu öffnen. Die Band erfährt den Ursprung und die Beweggründe für Kiryus Songtexte, sowie Details aus Kiryus Leben. Mit dieser gesteigerten Offenheit geht allerdings eine höhere Verletzlichkeit einher. Für Kiryu stellt sich die Frage, ob er den eingeschlagenen Weg bis zum Ende weitergehen will, oder ob er eine helfende Hand ergreift.

Dieses Buch beschreibt die Entwicklung von Familienverhältnissen. Der Schulalltag und der Ursprung der Band Rising Phenix werden beleuchtet. Kiryu ist erwachsen geworden und geht Probleme anders an als in seiner Jugend.
SpracheDeutsch
HerausgeberRomeon-Verlag
Erscheinungsdatum11. Juni 2024
ISBN9783962296049
Narben

Ähnlich wie Narben

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Narben

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Narben - Katrin Biallas

    Der Morgen danach

    Die Sonne blinzelte durch eine kleine Lücke im Vorhang. Das Zimmer lag trotzdem fast vollständig im Dunkeln. Kiryu drehte sich auf die Seite, weg vom Fenster, weg von dem kleinen ärgerlichen Lichtstrahl. Alles war ruhig, er konnte noch eine Weile schlafen. Ein kleiner, zufriedener Seufzer entfuhr ihm. Letzte Nacht war er erst spät nach Hause gekommen. Ihre Probe hatte länger gedauert als vorgesehen. Aber es lief zu gut, um mittendrin aufzuhören. Ein paar neue Songs waren auch entstanden. Einen Text hatten diese zwar noch nicht, oder nur einen unvollständigen, aber es hatte so viel Spaß gemacht, mit den Jungs daran zu arbeiten. Der Abend war ihm so unwirklich, so fantastisch erschienen. Wie ein Traum!

    Ein neues Album war zwar in Planung, sollte aber erst im Winter fertig werden. Und jetzt im Sommer, wenn die Festival-Saison so gut wie vorbei war, wollte er diese sorglosen Tage genießen, so oft es ging. Wenn es in die heiße Phase mit der Veröffentlichung neuer Songs, Videodrehs und einer Tour ging, würde er kaum Gelegenheit haben, bis mittags zu schlafen und einfach in den Tag hineinzuleben. Er wollte sein Leben genießen und seinetwegen könnte diese ruhige Zeit ein wenig länger dauern.

    Ein kleines Lächeln war auf seinem Gesicht zu sehen, als er sich auf den Rücken drehte. Doch plötzlich wurde er aus dem Schlaf gerissen. Sein Smartphone klingelte, doch das war nicht sein Weckton. Irgendjemand rief ihn an. Verschlafen tastete er danach und nahm den Anruf entgegen, ohne nachzusehen, wer ihn sprechen wollte.

    „Hallo?", brachte er verschlafen hervor.

    „Kiryu, bist du es?" Wie auf Knopfdruck hatte er sich im Bett aufgesetzt. Das konnte nicht möglich sein!

    „Woher hast du meine Nummer? Warum rufst du an? Ich will nichts mehr mit euch zu tun haben!" Auch wenn er noch recht müde klang, war der Zorn in seiner Stimme nicht zu überhören.

    Ein Schluchzen erklang am anderen Ende. Kiryu wartete.

    „Kiryu, dein Vater ist letzte Nacht verstorben, hörte er schließlich. Dann brach seine Mutter in Tränen aus und weinte laut. All seine Wut war mit einem Mal verraucht. Tonlos brachte er ein „Ich rufe zurück heraus, und legte auf.

    Auf einen Schlag stand seine ganze Welt Kopf. Er fuhr sich mit den Händen immer wieder durchs Gesicht und durch die Haare. Schließlich schlug er die Decke beiseite und stand auf. Allerdings wusste er auch jetzt nicht weiter und stand unschlüssig in der Tür zum Wohnzimmer, das Smartphone immer noch in der Hand haltend. Ratlos tappte er zum Sofa und setzte sich. Als er einen Blick auf sein Smartphone warf, sah er, dass es nicht einmal halb neun war. Vor nicht einmal vier Stunden war er nach Hause gekommen. An Schlaf war trotzdem nicht mehr zu denken. Ihm ging so vieles durch den Kopf. Denn natürlich war er geschockt darüber, dass sein Vater tot war. Aber er war auch erleichtert. Dieses Kapitel seines Lebens wäre nun endgültig abgeschlossen. Und zwar für immer. So vieles ging ihm auf einmal durch den Kopf und er kam zu dem Schluss, dass er sich ein paar Tage würde freinehmen müssen. Zwar trauerte er nicht sonderlich und bezweifelte auch, dass er es tun würde, nichtsdestotrotz brauchte er Zeit, um verschiedene Dinge zu organisieren und zu planen. Und jeder würde von ihm erwarten, dass er jetzt am Boden zerstört war und ein wenig Zeit für sich brauchte. Dabei hielt sich seine Trauer in Grenzen. Wenn überhaupt die Rede von „Trauer" sein konnte.

    Mit einem tiefen Seufzer ließ er sich zurück aufs Sofa fallen. Die Arme im Nacken verschränkt, starrte er zur Decke. Er würde sich um die Beerdigung kümmern müssen. Wahrscheinlich um alles Organisatorische und Finanzielle. Aber das konnte er in Kauf nehmen. Wenn alles vorbei wäre, könnte er hoffentlich sein normales Leben weiterführen. Dieser Zwischenfall sollte Ende des Jahres vorbei sein, dachte er sich.

    Er griff nach seinem Smartphone und scrollte durch sein Adressbuch, dann rief er Hanako an.

    „Wieso weckst du mich? Es ist noch viel zu früh, um aufzustehen", begrüßte sie ihn verschlafen.

    Kiryu musste unwillkürlich lächeln.

    „Hi, Hana-chan. Ich … Mir ist etwas dazwischengekommen. Wir können heute nicht durch Harajuku ziehen …"

    „Oh nein. Warum das denn?"

    „Es … es ist was Familiäres. Wir holen das nach, okay? Hanako ließ diesmal allerdings mit einer Antwort auf sich warten. Er vermutete, dass sie gähnte und deshalb nichts sagen konnte. Deshalb schob er gleich noch hinterher: „Wir sehen uns später, ja?

    „Okay, bis dann", antwortete sie verschlafen. Und erneut musste Kiryu lächeln.

    Sie hatten heute Nachmittag vorgehabt, durch Shinjuku, vorrangig durch Harajuku zu streifen. Hanako hatte Liebeskummer und da Kiryu in solchen Dingen total überfordert war, hatte Hanako nach einer Reihe von Aufheiterungsversuchen einer Shoppingtour zugestimmt, selbstverständlich auf Kiryus Kosten. Kiryu fand es beeindruckend, dass Hanako sich nicht in ihrem Zimmer verkroch und schmollte, sondern stattdessen nach draußen ging und ihr Leben genoss. Er selbst hatte einer beendeten Beziehung nie sonderlich lange nachgetrauert. Und Probleme, ein Date zu bekommen, hatte er auch nicht, seit Rising Phenix so erfolgreich waren. Und davor, als er in Hanakos Alter war … Er dachte nur ungern an diese Zeit zurück. Deshalb schüttelte er den Kopf, um diese Gedanken schnell wieder los zu werden und beugte sich nach vorne. Die Arme stützte er auf den Oberschenkeln ab. Sollte er seine Mutter bereits zurückrufen? Was sollte er ihr sagen? Wieder fuhr er sich durch die Haare. Vielleicht sollte er erst einmal duschen, um richtig wach zu werden. Schlafen würde er eh nicht mehr. Und einen Kaffee brauchte er ebenfalls ganz dringend.

    Stummer Schrei

    Nach einer gefühlten Ewigkeit war er endlich im Bezirk Nerima angekommen. Bis jetzt war es ein richtig schöner Tag gewesen. Der Spätsommer zeigte sich von seiner schönsten Seite.

    Es war so merkwürdig, nach so langer Zeit wieder hier zu sein. Die letzten dreizehn Jahre hatte er diesen Teil der Stadt gemieden, so gut es ging. Wenn er sich jetzt so umsah, hatte er die Straßen schlechter in Erinnerung, als sie wirklich waren. Oder im letzten Jahrzehnt war hier einiges auf Vordermann gebracht worden.

    Er schlug den bekannten Weg ein. Alles war ihm so vertraut. Und dennoch sah es so fremdartig für ihn aus. Es war für ihn ein undefinierbares Gefühl, durch die Straßen zu laufen. Ihm kamen gute und auch weniger gute Erinnerungen in den Kopf. Eine klare Entscheidung, ob es ihm hier gefiel oder nicht, konnte er allerdings nicht treffen. Und der Anlass, weswegen er heute hier war, half nicht gerade dabei, dass ihm das leichter fiel. Gedankenverloren ging er die Straße entlang. Hier in Nerima war es viel ruhiger als in Shibuya oder Shinjuku. Er konnte gemächlich seinen Weg fortsetzen und musste nicht befürchten, dass er anderen in die Quere kam oder jemanden aufhielt. Und das sagte ihm aus einem unerfindlichen Grund zu. Vielleicht sollte er in ein ruhigeres Viertel Tokyos ziehen, die Welt schien sich hier langsamer zu drehen, ihm kam alles viel entspannter vor. Doch schon im nächsten Moment schalt er sich einen Narren, solche Gedanken zu haben. Er würde niemals hierhin zurückkehren. Er wollte es nicht. Er hatte sein eigenes Leben. Im Herzen Tokyos.

    Und das sollte auch so bleiben!

    Als er um eine Ecke bog, kam ihm eine Gruppe Grundschulkinder entgegen. Fröhlich redeten sie miteinander und wären sogar fast in ihn hineingelaufen, aber er konnte ihnen noch ausweichen. Unbeirrt ging er weiter, als er die Kinder hinter sich gelassen hatte. Er war fast am Ziel. Und seine Laune sank mit jedem Schritt, dem er diesem näher kam. Mit einem tiefen Seufzer bog er um eine letzte Häuserecke, blieb stehen und sah hinauf zu dem Wohnblock, in dem er aufgewachsen war. Er wollte nicht hier sein, doch er musste es. Es würde kein angenehmes Treffen werden, das wusste er schon jetzt.

    Der Aufzug hielt an. Die Türen hatten sich kaum geöffnet, als er bereits auf den Flur trat. Seine Mutter stand in der Wohnungstür und erwartete ihn. Auch sie sah angespannt aus. Kiryu ging zu ihr und begrüßte sie kühl. Kiryu hatte keinen Nerv dafür, etwas vorzuspielen. Er betrat die Wohnung und zog seine Schuhe wortlos aus. Seine Mutter hatte ihm lediglich zugenickt. Alles sah so aus, wie er es in Erinnerung hatte: Gegenüber der Eingangstür ging es ins Wohnzimmer. Links von ihm befand sich das Badezimmer, rechts die Küche. Der Flur war recht klein und fast quadratisch. Und weil alle Türen verschlossen waren, war es nicht sonderlich hell hier. Dennoch fand sich Kiryu ohne Probleme zurecht. Nachdem er seine Schuhe verstaut hatte, ging er ins Wohnzimmer. Seine Mutter war derweil in der Küche verschwunden.

    Als er im Wohnzimmer stand, ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen. Alles war so still – so anders, als er es gewohnt war. Und er hatte keine Angst. Als er noch hier gewohnt hatte, war seine größte Befürchtung, dass sein Vater ihn bemerkten würde. Diese Anspannung war immer noch nicht vollends von ihm abgefallen, obwohl er diesmal nichts zu befürchten hatte. Er war nicht gerade gelassen und musste tief ein- und ausatmen. Die Furcht, verletzt zu gehen, war inzwischen wesentlich geringer. Er könnte die Wohnung jederzeit verlassen. Nichts hielt ihn hier. Seine Familie – und er zählte seine Mutter nicht dazu – würde ihn freudig erwarten. Er wusste, dass es seine Pflicht war, hier zu sein. Mehr nicht.

    Während er sich ein paar Fotos ansah, die in Regalen standen oder an den Wänden hingen, wurde sein Verlangen, diese Wohnung so schnell es ging zu verlassen, größer und größer. Er sah Bilder von sich und seinen Eltern vor einem Tempel – höchstwahrscheinlich von den Feierlichkeiten eines Shichi-go-san. Und er sah viele Fotos aus seiner Grundschulzeit. Es schien, als sei er ausnahmslos fröhlich gewesen. Ebenso seine Eltern, die – hier allein seine Mutter, dort sein Vater – ebenfalls häufig lächelnd zu sehen waren. Von seiner Zeit in der Mittelschule sah er nur zwei oder drei Aufnahmen, von ihm als Oberschüler überhaupt keine. Das wunderte ihn nicht im Geringsten. Schließlich ging es ihnen alles andere als gut in dieser Zeit. Das hätte er auch nicht festhalten wollen.

    Sein Blick fuhr weiter zu einem kleinen Tisch, der vor dem Sofa stand. Auf ihm lagen viele Dokumente verstreut: Krankenhausunterlagen, Rechnungen und Broschüren einiger Beerdigungsfirmen. Er ging näher zum Tisch und nahm sich eine der Broschüren, um sie sich genauer anzusehen. Auch wenn dieses Institut mit sehr günstigen Preisen und einem hervorragenden Service warb, kostete eine Beerdigung dennoch über eine Million Yen. Geld, das seine Mutter aller Wahrscheinlichkeit nicht hatte.

    „Oh, die habe ich von einer Nachbarin bekommen. Entschieden habe ich mich noch nicht, sagte seine Mutter in fast entschuldigendem Ton und reichte ihm eine Tasse Kaffee. Kiryu ignorierte die Geste allerdings und fragte stattdessen: „Wo ist er eigentlich? Ihm war es aus zwei Gründen egal, für welches Institut sich seine Mutter entscheiden würde:

    Es interessierte ihn überhaupt nicht, wer seinen Vater unter die Erde bringen würde.

    Er müsste so oder so für alle Kosten aufkommen.

    Er hatte zwar die finanziellen Mittel dafür, es lief ihm dennoch zuwider, dass sein Vater eine Beerdigung bekommen würde, die dieser einfach nicht verdient hatte.

    „In der Pathologie. Im Krankenhaus."

    „Bis wann musst du eine Entscheidung getroffen haben? Endlich sah er seiner Mutter ins Gesicht. Ihre Augen waren verquollen, ihre Haare zwar zusammengebunden, aber dennoch zerzaust. Vermutlich hatte sie die ganze Nacht kein Auge zugetan und nur geweint. Die beiden Male, die sie am Tag zuvor telefoniert hatten, klang es jedenfalls so, als hätte sie auch da Mühe gehabt, ihre Tränen zurückzuhalten. Und Kiryu kam nicht umhin, Verachtung für seine Mutter zu empfinden. Er verstand nicht, dass sie diesem Ekel so nachtrauern konnte. Und dass sie ihm so viel Zuwendung und Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Seine Mutter blickte ihn zuerst ratlos an, dann zuckte sie die Schultern. Schließlich ging sie zum Sofa und setzte sich. Die beiden Tassen stellte sie, ohne genauer hinzusehen, auf dem Tisch ab. Kiryu seufzte innerlich und hockte sich an den Tisch. Noch einmal warf er einen Blick auf die ganzen Unterlagen. Auf einigen Briefköpfen war deutlich „Letzte Mahnung zu lesen. Er würde sich beim nächsten Mal darum kümmern müssen. Denn wahrscheinlich war er diese Woche noch öfter hier. Er stellte seine Tasse an einen anderen Platz und nahm ein paar der Broschüren, faltete sie zusammen, um sie in seine Gesäßtasche stecken zu können. Dann stand er auf mit den Worten: „Okay, ich sehe mir die mal an und werd auch direkt eins buchen. Ist das für dich in Ordnung?"

    „Ja, das … Mach wie du es für richtig hältst …" Wieder war die Stimme seiner Mutter so leise, fast vorsichtig.

    Ein weiteres Mal sah sich Kiryu im Wohnzimmer um. Und an der Tür zu seinem alten Zimmer blieb sein Blick hängen. Plötzlich stürzten Gefühle auf ihn ein, die er seit über zehn Jahren für überwunden gehalten hatte. Es schmerzte, wenn er daran dachte, wie er die letzten Tage hier verbracht hatte, bevor er auszog. Dabei hatte er geglaubt, diese Pein endlich abgeschüttelt zu haben.

    „Ich habe alles so gelassen, wie es war. Ich habe nichts umgeräumt oder weggeworfen", hörte er seine Mutter wie aus weiter Ferne mit ihm sprechen. Wie aus einem schlechten Traum erwacht, schüttelte er den Kopf, um diese merkwürdigen Gefühle abzuschütteln. Er hatte kein Interesse daran, nachzusehen, ob seine Mutter die Wahrheit sagte. Vermutlich tat sie das. In Wirklichkeit wollte Kiryu nicht prüfen, ob es stimmte. Denn das würde bedeuten, dass er sich seiner Vergangenheit stellen müsste. Und das wollte er auf keinen Fall!

    „Ist noch irgendwas? Denn ansonsten werde ich jetzt gehen. Seine Mutter gab ihm nur ein Kopfschütteln als Antwort. Er atmete tief durch, und ging zur Tür. Als er gerade in den Flur trat, rief seine Mutter ihm nach: „Kiryu, wir sind nicht gerade im Guten auseinandergegangen. Ich hoffe, dass du deine Meinung uns gegenüber – deiner Vergangenheit gegenüber – noch änderst. Es ist doch schon so lange her …

    Kiryu sah seine Mutter an. Sein Blick war steinern und mit tonloser Stimme entgegnete er ihr bloß ein: „Nein!" Dann verließ er die Wohnung. Er musste hier so schnell wie möglich weg. Und ohne zu rennen, hatte er die Wohnung eiligen Schrittes verlassen. Den Aufzug hatte er hinter sich gelassen und war die Treppen hinuntergelaufen. Die Bewegung war bitter nötig, um nicht vollends durchzudrehen.

    Er war heilfroh, als er endlich wieder auf der Straße stand. Und er hatte Hunger. Seit heute Morgen hatte er nichts mehr gegessen. Auf dem Weg zum Bahnhof würde er eh an ein paar Automaten vorbeikommen. Oder er holte sich etwas in einem der zahlreichen Lebensmittelläden, bevor er nach Hause fuhr.

    Er hatte sich spontan für Onigiri entschieden. Und er hatte schnell einen Automaten gefunden, der seinen Appetit stillen konnte. Mit dieser Verpflegung schlenderte er zurück Richtung Bahnhof.

    Das Treffen mit seiner Mutter hatte ihm mehr abverlangt, als er erwartet hatte. Und nach so langer Zeit in seinem alten Zuhause zu sein, hatte mit einem Schlag so viele schlechte Erinnerungen aufleben lassen, dass er all das erst sortieren musste. Wäre er in sein altes Zimmer gegangen, hätte er wahrscheinlich angefangen, vor Wut zu schreien oder zu weinen. Oder beides … Was auch immer er in seinem Zimmer gefunden hätte, es hätte ihn in eine Zeit zurückgeschleudert, die für ihn einzig Schmerz bedeutet hatte.

    Er seufzte ein weiteres Mal tief. Bis zum Bahnhof war es nicht mehr weit. Dabei war ihm nicht mehr danach, so schnell es ging nach Hause zu kommen. Und Hunger hatte er auch keinen mehr. Er fühlte sich momentan überfordert. Von allem. Er brauchte eine Pause. An einer kleinen Mauer blieb er deshalb stehen und sah sich nach einem Mülleimer um. So etwas gab es hier wohl nicht, musste er feststellen. Er könnte die Onigiri auch mit zum Bahnhof nehmen und sie dort irgendwo entsorgen. Oder er nahm alles mit nach Hause. Aber das wollte er aus irgendeinem Grund nicht. Er musste sich allerdings nicht mehr den Kopf darüber zerbrechen, was er mit seinem nicht länger benötigten Essen tun sollte, weil ein Hund auf ihn aufmerksam geworden war. Er stand nur etwas mehr als einen Meter von ihm entfernt und sah erwartungsvoll zu Kiryu.

    Der Hund reichte Kiryu vielleicht bis zu den Knien, hatte rötlich braunes Fell auf dem Kopf und auf dem Rücken, während Schnauze und Bauch einen helleren Ton hatten. Kiryu konnte nicht sagen, ob es grau oder beige war. Vielleicht auch eine Mischung aus beidem. Der gekringelte Schwanz war an einigen Stellen beigegrau, an anderen hatte das Fell dort ebenfalls diese rötlich braune Farbe. Das linke Ohr des Hundes war nach vorn geklappt, während das rechte aufrecht stand. Es erinnerte Kiryu ein wenig an die Ohren eines Akita-Inu. Doch dieser Hund hier war auf keinen Fall ein Akita. Zumindest kein reinrassiger.

    Kiryu zeigte dem Hund wortlos sein angebissenes Onigiri, worauf dieser in freudiges Schwanzwedeln verfiel. Also streckte Kiryu seinen Arm noch ein Stück weiter aus und versuchte, den Hund zu sich zu locken, damit dieser sich den Reisball holen konnte. Der aber blieb an Ort und Stelle stehen. Kiryu überlegte einen Moment, was er tun sollte, und warf kurzerhand dem Hund den Reisball zu. Dieser fing ihn auch, als wären sie beide ein lange eingespieltes Team. Mit hoch erhobenem Haupt trabte der Hund mit seinem Onigiri im Maul davon. Kiryu wickelte das zweite Onigiri, das er sich geholt hatte, noch aus, und legte es vor die Mauer. Er würde es ja eh nicht mehr essen, da konnte es genauso gut dieser Hund haben.

    Als Kiryu seinen Weg fortsetzte, konnte er recht bald Schritte hinter sich hören. Der Hund war schnell zurückgekommen. Kiryu drehte sich im Gehen um, woraufhin ihn der Hund mit einem erneuten Schwanzwedeln und dem Onigiri im Maul ansah. Wie es aussah, hatte er heute noch einen neuen Fan gewonnen. Und das brachte ein kleines Lächeln in sein Gesicht.

    Er lag ausgestreckt auf dem Sofa. Über Kopfhörer hörte er laut Musik. Genauer gesagt lief ein Song in Dauerschleife. Kiryu wusste nicht weiter. Die Flyer, die er von seiner Mutter bekommen hatte, lagen auf dem Tisch neben ihm verstreut. Er hatte sie noch nicht genauer angesehen, dabei sollte er sich so schnell wie möglich darum kümmern. Er hoffte bloß, dass die nächsten Wochen möglichst unspektakulär an ihm vorbeiziehen würden. Ein, vielleicht zwei Monate, dann wäre der ganze Spuk vorbei, so glaubte er. Er war nicht daran interessiert, für seinen Vater zu beten und ihm nur das Beste im Jenseits zu wünschen. Oder an all den anderen Ritualen, die zu Trauerfeiern und Beerdigungen gehörten. Anstandshalber würde er wohl bei der Beerdigung die gesamte Zeit anwesend sein. Mehr Umgang mit seiner Familie brauchte er nicht.

    Seine Wohnungstür wurde plötzlich geöffnet und Taro, Haru und Ryo traten ein. Kiryu hatte sie zuerst gar nicht bemerkt. Die Musik war nicht gerade leise und er war völlig in Gedanken vertieft, sodass er nicht auf das achtete, was um ihn herum passierte. Erst, als ihn jemand an der Schulter antippte, sah er auf und setzte sich schnell auf.

    „Hey, Kiryu, grüßte Ryo ihn fröhlich. Die Musik war für alle hörbar, als Kiryu die Kopfhörer auf seine Schultern hatte gleiten lassen. Durch die Kopfhörer war die Musik nicht sehr laut, so nah wie die Band bei ihm stand, reichte es dennoch, dass Ryo in besorgtem Ton fragte: „Ist alles in Ordnung? So haben wir dich ja schon lange nicht mehr erlebt … Kiryu drehte sich zu Ryo, Haru und Taro und sah die Jungs entschuldigend an. Sein linkes Bein, das eben noch an der Rückenlehne gelehnt hatte, ließ er angewinkelt und legte seinen linken Arm darauf. Die Musik hatte er schnell ausgestellt.

    „Hi, Leute. Ja, alles gut. Ich war heute nur bei meiner Mutter. Er wollte gelassen klingen, seine Stimme war dennoch monoton. Ein „Oh wie aus einem Mund bekam er von den dreien als Antwort. Zum Glück wollte gerade niemand genauer wissen, was er dort gemacht hatte. Denn Taro fragte voller Begeisterung: „Was hast du dir da eben angehört?"

    „Der Song heißt Silent Scream. Ist von einem deutschen Künstler, glaube ich."

    „Was echt? Cool! Wie heißt der?" Kiryu hatte jedoch keine Gelegenheit zu antworten, weil sich Taro bereits zu ihm aufs Sofa gesetzt – wohl eher geworfen hatte – und selbst nachsah. Haru warf zwar ein, dass sie nicht hier waren, um sich über ein paar Songs auf Spotify auszutauschen, doch Taro ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. Kiryu kümmerte das wenig. Sie kannten alle Taros Begeisterung für Deutschland und deutsche Musik. Natürlich nicht jede Musik, aber er hatte ein paar Lieblingsbands. Die Texte verstand er meistens zwar nicht, die Songs klangen für ihn trotzdem gut, egal ob er den Text verstehen konnte oder nicht. Kiryu wandte sich an Haru und Ryo, ließ Taro nach weiterer Musik suchen und fragte sie, was er ihnen anbieten könnte, als er sich vom Sofa erhob. Taro würde nach weiteren Songs dieses Künstlers in Kiryus Account suchen, das kannten sie alle schon. Da konnte sich Kiryu wenigstens um Ryo und Haru kümmern.

    Wenige Minuten später saßen sie alle auf dem Sofa und beratschlagten sich. Taro war weiter fasziniert von dem Musiker, den Kiryu gefunden hatte. Und dass es auch noch ein Deutscher war, empfand er als das Sahnehäubchen.

    Eigentlich hatten sie heute über ihr neues Album sprechen wollen. Aber Kiryu war absolut nicht in der Stimmung sich Gedanken über ihre Musik zu machen. Er wollte im Moment bloß das konsumieren, was andere kreiert hatten, anstatt selbst kreativ zu werden. Es war, als würde ihn etwas blockieren. Als hätte er gar nicht die Kraft, sich neue Texte einfallen lassen zu können. Unbemerkt blieb das nicht. Schließlich war Kiryu normalerweise die treibende Kraft, wenn es um den Stil und den Aufbau eines neuen Albums ging.

    „Ich weiß, es geht uns nichts an, begann Ryo. Er klang äußerst besorgt und musterte Kiryu die ganze Zeit unentwegt. „Wieso warst du bei deiner Mutter? Ihr hattet doch jahrelang keinen Kontakt mehr. Wieso jetzt plötzlich?

    Kiryu schenkte ihm ein müdes Lächeln und stand langsam auf, um sich etwas zu trinken zu holen. In erster Linie tat er das, um Ryo nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Dass sein Glas leer war, kam ihm zugute.

    Seine Stimme klang diesmal fester, als er Ryo antwortete: „Mein Vater ist gestorben. Und meine Mutter hatte mich gebeten, vorbeizukommen, um ihr mit ein paar Unterlagen zu helfen. Als er zurück beim Sofa war, sah er jedem ins Gesicht. Er seufzte, als er sich setzte, und erzählte weiter: „Die Beerdigung werde ich wohl organisieren und bezahlen müssen. Danach gehe ich noch den restlichen Papierkram mit ihr durch und helfe beim Kistenpacken. In ein paar Wochen ist der Spuk dann hoffentlich vorbei und es ist alles wie vorher.

    „Oh, mein Beileid? Schätze ich …", brachte Taro als Erstes ein Wort heraus. Ryo und Haru schwiegen. Sie wussten alle, in welchen Verhältnissen Kiryu aufgewachsen war und wie er auch jetzt zu seinen Eltern stand. Verübeln konnte ihm das niemand. Es war … keine besonders glückliche Kindheit für ihn gewesen. Und wenn er sich wieder verstärkt um seine Mutter und die Beerdigung seines Vaters kümmern musste, würde das sicherlich alte Wunden aufreißen.

    „Jetzt seht mich nicht so bedröppelt an. Es war nur mein Vater, niemand, der mir sonderlich nahe stand." Kiryu klang endlich wieder normal. Er wollte nicht weiter über dieses Thema sprechen. Und die Band schien zu verstehen. Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Keiner wusste so recht, was sie jetzt tun sollten. Ihre heutige Tagesaufgabe würden sie nicht erfüllen können. Über Kiryus Eltern wollte auch niemand reden. Und so überlegte jeder für sich, wie sie dieser Situation entfliehen könnten.

    Nach einer Lösung mussten sie nicht lange suchen, weil Hanako zu ihnen stieß: „Kiryu, bist du da? Ich hab uns was zum Abendessen … Oh, hi!" Überrascht blieb sie stehen und sah die vier an.

    „Hi, Hana-chan", begrüßte Kiryu sie als Erstes.

    „Du bist ja zuhause?! Hattest du deshalb keine Zeit?"

    „Naja, also …", begann Kiryu unbeholfen.

    „Wir wollten gerade gehen, half Ryo ihm aus seiner misslichen Lage. „Wir reden später weiter, okay? Kiryu nickte ihm zu. Hanako war bereits zur Küchenzeile gegangen und stellte dort ihre Einkaufstüten ab, während Kiryu die Band verabschiedete. Er entschuldigte sich mehrmals, dass sie nicht über das Album hatten sprechen können. Seine Bandkollegen nahmen ihm das nicht übel. Und Taro bedankte sich überschwänglich für den Musiker, den Kiryu gefunden hatte und bat fast im gleichen Atemzug darum, dass Kiryu ihm Bescheid gab, falls er noch andere deutsche Musiker und Songs fand.

    Als er seine Wohnung wieder betreten hatte, tappte er zum Sofa und ließ sich darauf fallen.

    Hanako setzte sich eilig zu ihm und reichte ihm eine Bento-Box.

    „Ich dachte, ihr seid im Studio oder Proberaum", äußerte Hanako ihre Gedanken.

    „Ja, so war es geplant. Aber … na ja …", suchte Kiryu nach Worten. Er wollte Hanako nicht erzählen, was ihn umtrieb. Sie sollte nicht mit seinen Problemen belastet werden. Und so versuchte er, das Thema zu wechseln und hatte Hanako nach ihrem Tag und der Schule gefragt.

    Hanako hatte begonnen, lang und breit von ihrem Wochenende zu berichten. Kiryu zauberte das ein Lächeln ins Gesicht. Hanako kannte ihn so gut, dass sie genau wusste, wann er über ein schwieriges Thema reden wollte und wann nicht.

    Den Abend mit Hanako zu verbringen, war eine wunderbare Ablenkung. So hatte dieser anstrengende Tag wenigstens einen angenehmen Abschluss. Hanako hörte er irgendwann bloß mit einem Ohr zu. Sie warf mit so vielen Namen um sich, die er gar nicht alle zuordnen konnte. Doch das machte nichts. Es tat ihm gut, dass seine Schwester jetzt bei ihm war. Und dass sie über so normale Dinge wie ihre Unternehmungen am Wochenende oder ihre Schulfächer sprach.

    Er fühlte sich so erschöpft, Hanako schaffte es dennoch jedes Mal, seine Laune zu heben. Und er musste zum Glück nicht darüber reden, was ihn die letzten zwei Tage so beschäftigt hatte. Er wusste ja selbst nicht, wie er ihr das beibringen sollte, bei dem, was gerade in ihm vorging …

    Perfekte kleine Welt

    Es war ein wunderschöner, sonniger Tag. Der Spätsommer hatte die Regenwolken vertrieben. Und Kiryu kam bei der Hitze in seinem schwarzen Anzug fast um. Regen wäre bei diesen hohen Temperaturen nicht besser gewesen. Es war warm – zu warm für Kiryu. Er bevorzugte die Kälte. Am liebsten würde er gehen, doch es stand ihm nicht zu, dies zu entscheiden. Das hier war schließlich die Beerdigung seines Vaters. Er hatte sich, so weit ihm das möglich gewesen war, um alles gekümmert für den heutigen Tag. Und bei der Gelegenheit hatte er sich gleich einen Anzug besorgt. Für seine Mutter hatte er ebenfalls neue Kleidung gekauft. Sie stand mit steinerner Miene neben ihm und betete. Niemand hatte ihr heute anmerken können, wie viel Kraft ihr dieser Tag abverlangte. Nicht einmal Kiryu. Ein kleiner Teil in ihm fand es zwar furchtbar, dass seine Mutter so litt, dieser Teil war zum Glück sehr leise.

    Er war nicht freiwillig hier. Er wollte heute nicht hier sein – er musste es.

    Auch wenn er nicht mehr so sehr aufs Geld achten musste, hatte er dennoch eine der günstigeren Beerdigungshallen gebucht. Alle Traditionen wurden beachtet, alle Rituale wurden durchgeführt. Das war seiner Meinung nach genug. Der Mönch war sogar ziemlich nett, fand er. Seine Mutter hatte trotzdem mehr erwartet. Dabei hatte Kiryu fast zwei Millionen Yen ausgegeben. Die Blumen allein hatten wahnsinnig viel gekostet. Der Altar hatte etwas hermachen sollen. Denn auch, wenn ihm alles, was mit der Beerdigung seines Vaters zusammenhing, zuwider war, wollte er dennoch alles so stilvoll wie möglich haben. Das hatte er seiner Mutter aber nicht gesagt und stattdessen die Schimpftirade über sich ergehen lassen. Er hatte ihr keine Widerworte gegeben, er hatte sich nicht entschuldigt, er hatte gar nichts gesagt. In seinen Augen war es die beste Reaktion, die er dazu hätte haben können. Alles andere wäre in einem unnötigen Streit geendet.

    „Betest du denn gar nicht?"

    „Wozu?", fragte er genervt. Er wollte hier weg und sah nicht ein, dass er diese Gefühle verstecken sollte, wo sie allein waren. Die restliche Trauergesellschaft war bereits gegangen. Andere Familienmitglieder oder Freunde waren nicht anwesend gewesen.

    „Er war immerhin dein Vater."

    „Tja, jetzt nicht mehr. Wir müssen schließlich alle irgendwann sterben …" Jegliche Emotion war aus seiner Stimme verschwunden. Mit leerem Blick sah er zu seiner Mutter, die den Tränen nahe war. Innerlich seufzte er, hielt aber den Mund. Wenn sie sich jetzt streiten würden, würde er erst wer weiß wann nach Hause gehen können. Also zwang er sich, ruhig zu bleiben, schloss einen Moment die Augen und sah sich auf dem Friedhof um. Auf den Wegen waren vereinzelt Besucher zu sehen. Diese waren allerdings so weit weg, dass er nicht einmal Gesichter erkennen konnte.

    „Du hättest ihm helfen können. Wir haben so oft gefragt, ob du uns finanziell unterstützen kannst."

    „Ihr habt gebettelt." Kiryus Worte waren schärfer als beabsichtigt.

    „Du hättest seine Behandlung einfach bezahlen können, dann wäre er jetzt nicht tot." Ein Schluchzen entfuhr seiner Mutter.

    „Der Kerl hat mich geschlagen, antwortete er mit aufgebrachtem Ton. „Oft genug ohne Grund. Wieso hätte ich ihm da helfen sollen?

    „Du bist herzlos, Kiryu", erwiderte seine Mutter mit tränenerstickter Stimme.

    „Genau wie du bei mir damals." Seine Stimme war kalt, sein Blick verurteilend. Und es tat ihm nicht leid darum.

    Die letzte Woche hatte er sehr oft zu seiner Mutter gehen müssen. Allein um ein gutes Foto seines Vaters zu finden, hatten sie beide mehrere Stunden gesucht. Er hatte mit ihr alles Nötige für die Beerdigung besprochen. Was Geld betraf, ließ er sie gänzlich unbehelligt. Sie entschied, was sie für die Beerdigung haben wollte, und Kiryu kümmerte sich um die Rechnung. Er wollte nicht, dass sie ein schlechtes Gewissen wegen der hohen Kosten bekam. Mit dem Krankenhaus hatte er ebenfalls alles geklärt wegen der Überführung in die Beerdigungshalle. Natürlich musste seine Mutter bei dieser Prozedur voll mit einbezogen werden. Das Krankenhauspersonal hatte Kiryu schließlich nie gesehen. Die einzige Angehörige, die seinen Vater regelmäßig besucht hatte, war seine Mutter. Dieser Tag war schwer für sie gewesen. Noch nie hatte er seine Mutter so apathisch erlebt. Sie hatte kaum ein Wort gesagt und handelte die ganze Zeit roboterartig. Sie hatte kaum mit jemandem gesprochen, Fragen und Aufforderungen mit einem Nicken beantwortet und schweigend alles unterschrieben.

    Kiryu hatte vorgeschlagen, dass sie sich Hilfe für

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1