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MEHR SCHATTEN ALS LICHT: Der Krimi-Klassiker!
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eBook304 Seiten3 Stunden

MEHR SCHATTEN ALS LICHT: Der Krimi-Klassiker!

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Über dieses E-Book

Charles Graham hat seine Umgebung satt, er will untertauchen, will frei sein.

Dazu braucht Graham Geld, viel Geld sogar. Und Skrupel kennt er nicht: Das Kapital der Firma muss dafür herhalten.

Aber nicht alles läuft nach Plan...

Schon ein paar Tage später wird Charles Graham gefunden - in einem Kleiderschrank.

Erstochen...

Harry Carmichael, eigtl. Hartley Howard resp. Leopold Horace Ognall (* 20. Juni 1908 in Montreal, Québec; † Großbritannien), war ein englischer Journalist und Schriftsteller. Neben Hartley Howard benutzte Ognall auch das Pseudonym Harry Carmichael, das sich aus dem Vornamen seiner Ehefrau und denen seiner Kinder zusammensetzte.

Der Roman Mehr Schatten als Licht erschien erstmals im Jahr 1960; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1963.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum7. Mai 2021
ISBN9783748782049
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    Buchvorschau

    MEHR SCHATTEN ALS LICHT - Harry Carmichael

    Das Buch

    Charles Graham hat seine Umgebung satt, er will untertauchen, will frei sein.

    Dazu braucht Graham Geld, viel Geld sogar. Und Skrupel kennt er nicht: Das Kapital der Firma muss dafür herhalten.

    Aber nicht alles läuft nach Plan...

    Schon ein paar Tage später wird Charles Graham gefunden - in einem Kleiderschrank.

    Erstochen...

    Harry Carmichael, eigtl. Hartley Howard resp. Leopold Horace Ognall (* 20. Juni 1908 in Montreal, Québec; † Großbritannien), war ein englischer Journalist und Schriftsteller. Neben Hartley Howard benutzte Ognall auch das Pseudonym Harry Carmichael, das sich aus dem Vornamen seiner Ehefrau und denen seiner Kinder zusammensetzte.

    Der Roman Mehr Schatten als Licht erschien erstmals im Jahr 1960; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1963.

    Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

    MEHR SCHATTEN ALS LICHT

    Erstes Kapitel

    Der Tag, an dem Charles Graham seinen Plan ausführte und dann von der Bildfläche verschwand, ließ sich an wie jeder andere Wochentag. Kurz nach neun Uhr betrat er sein Büro im Londoner Stadtteil Knightsbridge, sah die Post durch, die Miss Davidson für ihn aussortiert hatte, und diktierte für sie einige Anweisungen in das Bandgerät. Danach unterhielt er sich telefonisch mit dem Lagerverwalter über ein Inventurproblem, das am Tag zuvor entstanden war. Um neun Uhr zwanzig hatte er eine Besprechung mit dem Leiter der Buchhaltung.

    Kurz vor neun Uhr dreißig klingelte er nach Miss Davidson. In seinem Verhalten deutete nichts auf das hin, was er sich für diesen Tag vorgenommen hatte. Später wurde den Beteiligten klar, dass er jedes Wort, jede Handlung sorgfältig einstudiert haben musste.

    Doch da war es bereits zu spät, den Ablauf der schicksalsschweren Handlung aufzuhalten; zu dieser Zeit berichtete die Presse bereits unter dicken Schlagzeilen über den Fall, der als der Mord von Knightsbridge die Öffentlichkeit beschäftigte.

    Miss Davidson war von großer und schlanker Statur. Sie hatte blendendweiße Zähne, gutfrisiertes blondes Haar und wohlgeformte Beine. Mit ihren fünfunddreißig Jahren galt sie unter den Angestellten der Radioelectric Company bereits als alte Jungfer. Sie ließ sich nie über ihr Privatleben aus, aber im Lauf der Jahre hatte man erfahren, dass sie allein in einem kleinen Apartment wohnte, gute Musik liebte und keine Herrenbekanntschaften hatte.

    Sie schloss die Tür fast lautlos, hielt ihre zarten Hände auf dem Rücken verschränkt und murmelte; »Ja, Mr. Graham?«

    Die gleichen Worte, die sie zur gleichen Zeit jeden Morgen während der vergangenen sieben Jahre benutzt hatte. Worte, die wie ein Ritual ihren Eintritt ins Chefzimmer begleiteten.

    Graham sah auf, nickte, lehnte sich wieder in seinem Schreibtischsessel zurück und fragte: »Mr. Street schon gekommen?«

    »Ja, Mr. Graham. Er ist gleich nach seiner Ankunft ins Lager gegangen, um die Bestände an Selbstbaugeräten nochmals überprüfen zu lassen. Sie wissen doch, dass sich bei der Inventur gestern irgendein Zählfehler eingeschlichen hatte?«

    »Ich weiß. Das Ergebnis war geradezu absurd. Ich dachte, unser neues Lagerkontrollsystem würde so etwas endlich ausmerzen.« Das klang durchaus nicht so gereizt, wie die Worte es andeuteten. Dann fragte er: Gibt es irgendwelche wichtigen Termine heute für mich?«

    »Nein... aber die Herren von der Bank würden es gern sehen, wenn Sie und Mr. Street heute Nachmittag gegen vier einmal vorbeikämen.«

    Charles Graham senkte den Blick auf den Terminkalender vor sich und fuhr mit der Hand über sein angegrautes Haar, dann sah er wieder zu ihr auf und sagte: »Ach, die würden es gern sehen, wie? Wann haben die angerufen?«

    »Kurz bevor Sie kamen. Sie wollten gar nicht mit Ihnen persönlich sprechen, sondern trugen mir auf, Ihnen mitzuteilen, dass man sowohl Sie als auch Mr. Street heute Nachmittag dringend erwarte.«

    »Hm... Haben Sie eine Ahnung, worum es sich handelt?«

    »Mr. White, der stellvertretende Vorstand, sprach mit mir am Telefon. Er meinte, sein Chef mache sich Sorgen wegen unseres Schecks für die Lohnzahlungen am nächsten Freitag. Unsere Zahlung an Gillian und diese nachdatierten Schecks an Talbot & Rice und an zwei andere Firmen hätten unser Konto überzogen – höher, als vereinbart worden sei. Außerdem möchte man die privaten Abhebungen von Ihnen und Mr. Street besprechen.«

    Mit schiefem Lächeln sagte Graham: »Das klingt ja geradeso, als rege sich bei der Bank jemand mächtig auf. Haben Sie den Leuten wenigstens mitgeteilt, dass wir bis Freitag einen größeren Geldeingang erwarten?«

    »Ja, Mr. Graham.«

    »Da haben Sie’s mit der Wahrheit aber nicht sehr genau genommen, stimmt’s, Miss( Davidson?«

    Sie brachte ihre Hände hinter dem Rücken hervor und rieb sich nervös die Finger. Dann sagte sie ausdruckslos: »Ich musste irgendetwas sagen für den Fall, dass weitere Schecks eingelöst werden sollen und die Bank sie, wie angedroht, nicht einlöst.«

    »So weit wird die Bank natürlich nicht gehen«, meinte Graham. Er sah sie prüfend an und lächelte wieder. Diesmal galt das Lächeln ihr. »Wir haben schon des Öfteren in einer Geldklemme gesteckt, aber wir haben uns immer durchgebissen. Machen Sie sich etwa Sorgen?«

    »Keineswegs, Mr. Graham. Wie ich schon der Bank sagte – im Januar ist die Finanzlage überall nicht rosig. Die meisten unserer Kunden machen jetzt Inventur, und wir können frühestens in der zweiten Monatshälfte wieder größere Bestellungen erwarten.«

    »Ganz recht, Miss Davidson, ganz recht!« Er zündete sich eine Zigarette an, steckte die Schachtel wieder weg und fuhr dann fort: »Ich frage mich oft, was wir ohne Sie anfangen würden, Miss Davidson.«

    Das war eine natürliche, nichtssagende Bemerkung, die noch nicht einmal von einem Lächeln begleitet wurde; ein Außenstehender hätte das lediglich als ein kleines Kompliment gewertet.

    Sie fragte sich oft, wie es möglich sein konnte, dass sie diesen Ton untereinander anschlugen. Sie redete ihn mit Mr. Graham an, und für ihn war sie nie jemand anders als Miss Davidson – im Büro. Während des Tages war ihr Verhältnis nüchtern, geschäftsmäßig. Er war Teilhaber der Firma – sie seine Sekretärin.   

    Nie erwähnte auch nur einer von ihnen jene Abende, an denen er sie nach Hause begleitete. Jene Nächte, in denen sie sich, umfangen von der Dunkelheit und dem Schweigen in ihrer kleinen Wohnung, zu zwei völlig anderen Menschen wandelten.

    Während er dasaß und sie still musterte, versuchte sie sich daran zu erinnern, wie alles angefangen hatte. Sie musste verrückt gewesen sein, damals, beim ersten Mal.

    Wenn er einigermaßen zu dem Typ von Männern gehörte, die sie bewunderte – dann hätte es wenigstens einen Grund gegeben. Doch er verkörperte alles, was sie bei einem Menschen verachtete: Für sie war er ein Mann ohne Gewissen, ohne Halt und ohne Anstand.

    Alles wäre noch nicht einmal so furchtbar, wenn er mich wenigstens gern hätte, sei’s auch auf diese oder jene Art, dachte sie. Aber das ist ja nicht der Fall. Er findet einfach Vergnügen daran, wie ich mich erniedrige. Er weiß genau, wie hart ich dagegen ankämpfe und wie verzweifelt ich mich jedes Mal geschlagen gebe. Hinter der tadellos gepflegten Erscheinung, hinter seinem guten Aussehen verbirgt sich dieser Mann, verrottet bis ins Innerste – aber kaum dass er mich berührt, vergesse ich alles andere. Ein Tier macht er nach und nach aus mir – und das macht ihm obendrein noch Spaß...

    Als könne er ihre Gedanken lesen, sagte Graham nun: »Möglicherweise müssen wir heute Abend etwas länger hierbleiben, Miss Davidson, um noch verschiedenes aufzuarbeiten. Wäre Ihnen das recht?«

    Ihr Verstand sagte ihr, dass er mit ihr Schluss gemacht hatte, doch sie sehnte sich immer noch nach ihm. Würde sie sich aber eingestehen, dass alles vorbei war, dass er sie nur noch zu quälen trachtete, dann bliebe ihr kaum noch etwas, wofür es sich zu leben lohnte.

    »Doch, selbstverständlich, Mr. Graham«, antwortete sie.

    Und jedes Mal fürchtete sie, etwas Falsches zu sagen – oder das Richtige auf die falsche Art. Hatte es zu sehnsüchtig geklungen? Was aber, wenn sie seiner Meinung nach nicht eifrig genug zugesagt hatte?

    Graham sagte: »Schön. Das wäre also erledigt.« Er fuhr sich mit dem Zeigefinger über seinen schmalen Schnurrbart und fuhr nach einer Weile gespielten Nachdenkens fort: »Würden Sie bitte meine Frau anrufen und ihr mitteilen, dass die Arbeit mich heute Abend hier etwas länger festhält?«

    »Ja, Mr. Graham. Ich werde es nachher gleich erledigen.«

    »Rufen Sie lieber sofort an. Ich erinnere mich, dass sie sagte, sie wolle heuten Morgen in die Stadt gehen.«

    Unbewegt wiederholte Miss Davidson: »Ja, Mr. Graham.«

    Früher einmal, das war schon lange her, hatte sie ihn dafür gehasst, dass er ihr die Benachrichtigung seiner Frau aufbürdete. Einmal hatte sie sich sogar aufgerafft, ihn zu bitten, das selbst zu erledigen. Doch er hatte bloß mit den Schultern gezuckt und geantwortet, er hätte es sich ohnehin anders überlegt. Er fühle sich nicht ganz wohl, eine aufkommende Erkältung vielleicht, und da ginge er besser zeitig nach Hause.

    Sie hatte für ihn Lüge und Betrug auf sich genommen. Ihr blieb keine Wahl. Wenn sie das Verhältnis fortsetzen wollte, musste sie seine Bedingungen akzeptieren. Sie liebte ihn und verachtete ihn gleichzeitig... Nur ein einziger Mann hatte je Macht über Joan Davidson besessen. Für sie gab es keinen anderen.

    Sie sagte: »Ich rufe also sofort an, Mr. Graham. Soll ich Sie später noch an Ihre Verabredung mit der Bank erinnern?«

    »Nein, das ist nicht nötig«, erwiderte Graham. »Das werde ich nicht vergessen. Danke, Miss Davidson...«

    Die letzten Worte hatten jenen Tonfall, den sie so gut kannte, dem sie entnahm, sie solle ihn nun allein lassen. Während sie die Tür öffnete, fragte sie sich, ob er auch nur eine Ahnung hatte, wie tief sie ihn hasste.

    Er wartete, bis sie fast aus dem Zimmer war, dann rief er ihr nach: »Ach, Miss Davidson! Sagen Sie doch Mr. Street, dass ich nicht mit ihm essen werde – falls ich vergesse, ihm Bescheid zu geben. Ich habe eine andere Verabredung.«

    Vielleicht sollte sie glauben, er führe eine andere Frau aus. Vielleicht hoffte er, er könne sie damit eifersüchtig machen.

    Ihr war das alles gleichgültig geworden. Sie wusste, dass er seine Frau nicht nur mit ihr betrog. Es hatte andere gegeben, ehe sie in jener Nacht den nicht mehr gutzumachenden Fehler beging, und auch danach hatte es andere Frauen gegeben.

    In den letzten Wochen hatte er ein neues Opfer gefunden – ein Mädchen, das Annette Lindon hieß und das ihn schon mehrmals angerufen hatte. Keine Frage, ihr würde es wie den anderen gehen.

    Ein halbes Dutzend Vorgänge harrten auf Miss Davidsons Schreibtisch der Erledigung. Sie musste ein paar Briefe schreiben, und bis zehn Uhr hatte sie die Geldeingänge von gestern zu überprüfen. Ferner hatte Mr. Street eine Notiz hinterlassen: Sie solle sich um den Versand einer dringenden Lieferung von Plattenspielern kümmern.

    Sie verscheuchte jeden Gedanken an Charles Graham und widmete sich ganz ihrer Arbeit. Die nächste Stunde verflog rasch.

    Um halb elf brachte ihr ein Lehrling die übliche Tasse Tee und zwei Stückchen Gebäck. Sie rauchte eine Zigarette und streckte sich ein wenig, um ihren steifen Rücken zu lockern – sie hatte zu lange in der gleichen Haltung dagesessen. Dann betrachtete sie sich in ihrem Taschenspiegel.

    Erst als sie den Lippenstift wieder in die Handtasche steckte, fiel ihr ein, dass sie den Anruf bei Mrs. Graham vergessen hatte. Nach der Uhr auf ihrem Schreibtisch war es zwanzig vor elf, und er hatte ihr aufgetragen, um halb zehn anzurufen.

    Miss Davidson dachte, dass der Anruf so eilig ja auch nicht sei – wenn Mrs. Graham nicht gerade den ganzen Tag in der Stadt verbringen wollte. Und selbst wenn sie erst am späten Nachmittag heimkäme, wäre immer noch Zeit, sie davon zu unterrichten, dass ihr Mann heute später nach Hause käme. Es konnte aber auch sein, dass er Wert darauf legte, sie vor ihrem Ausgang in die Stadt zu informieren, vielleicht hatte er Gründe hierfür.

    Niemand meldete sich. Miss Davidson lauschte dem Freizeichen im Telefonhörer, und ihre Gedanken wanderten zurück zu jenen anderen Gelegenheiten, bei denen sie mit unpersönlich gehaltener Stimme gesagt hatte: »Oh, Mrs. Graham... Ihr Gatte hat mich gebeten, Ihnen mitzuteilen...«

    Wusste seine Frau, was für einen Mann sie geheiratet hatte? In all den vergangenen Jahren musste sie doch Verdacht geschöpft haben!

    Vielleicht gestand sich eine Frau in ihrer Lage niemals ein, dass es eine andere geben könnte. Vielleicht errichtete ihre Eitelkeit einen Schutzschirm zwischen der Wahrheit und ihrem Wunschbild.

    Am anderen Ende der Leitung klingelte es weiter, niemand nahm den Hörer ab. Wahrscheinlich wird ihn das freuen, dachte Miss Davidson. Dann hat er eine neue Entschuldigung, die Abmachung für heute Abend nicht einzuhalten.

    Sie konnte ihn schon hören: ...zu schade. Das kommt davon, wenn man seine Gedanken nicht mehr beisammen hat. Dann müssen wir’s eben auf ein andermal verschieben...

    Vor ihrem geistigen Auge tauchte sein Gesicht auf: sein starker, wohlgeformter Mund unter dem schmalen, angegrauten Schnurrbart; seine tiefliegenden, zärtlichen Augen, deren Blick fast körperliche Substanz besaß, als hätte er sie mit den Händen berührt. Aber: Wie konnte sie nur einen Mann lieben, den sie so hassen gelernt hatte?

    Ob Mr. Street je vermutet hat, was zwischen seinem Teilhaber und mir vorgeht? Möchte mal wissen, wie es in seiner Ehe gegangen ist... Es heißt, er habe sich von seiner Frau getrennt. Wahrscheinlich ihre Schuld. Er ist ein netter Kerl, jeder hat ihn gern. Aber vielleicht stimmt es, dass man einen Menschen erst kennenlernt, wenn man mit ihm leben muss... Andererseits, mit Mr. Street zu leben dürfte nicht schwierig sein. Bei ihm spürt man nichts von Härte oder Sadismus wie bei Charles.

    Sie lauschte dem Tüt-tüt-tüt in ihrem Hörer noch einen Augenblick und legte dann auf.

    Wenn er fragte, würde sie ihm sagen, dass sich niemand gemeldet habe. Wie er das aufnahm? Nun, das machte ihr nichts aus. Nichts machte ihr mehr etwas aus. Diese unerträgliche Situation musste ihr Ende finden, besser heute als morgen, und warum nicht gleich jetzt?

    Niemand wusste etwas über sie und Charles Graham – niemand brauchte je etwas zu ahnen. Nur Mut war nötig, um den endgültigen Bruch herbeizuführen, vielleicht mehr Mut, als sie aufbringen konnte. Aber wenn einmal alles vorüber sein würde, dann hätte sie ihre Freiheit zurück. Sie könnte London verlassen und anderswo ein neues Leben beginnen.

    Schließlich – war sie nicht noch jung genug? Fünfunddreißig war noch nicht zu alt für einen neuen Anfang... Mit einem kleinen, kalten Schauer wurde ihr bewusst, dass sie gerade die wichtigste Entscheidung ihres Lebens getroffen hatte.

    Sie ließ den Telefonhörer los und drückte ihre Zigarette aus. Die Schwierigkeit lag nun allein darin, einen Weg zur Verwirklichung ihres Planes zu finden, ehe sie wieder schwach wurde.

    Fünf Minuten vor elf läutete das Telefon. Das Mädchen von der Zentrale sagte: »Miss Davidson, ich habe hier Kirkbright in der Leitung. Sie wollen mit Mr. Graham etwas wegen einer Plattenspielerlieferung besprechen. Wollen Sie den Anruf übernehmen?«

    »Warum legen Sie ihn nicht auf seinen Apparat? Soviel ich weiß, ist er in seinem Büro.«

    »Schon, aber ich weiß nicht so recht. Ich müsste dann ein soeben angekommenes Privatgespräch für ihn warten lassen... und die junge Dame scheint es eilig zu haben.«

    Miss Davidson hatte den Namen Lindon auf der Zunge, aber das war jetzt alles vorüber. Selbst ihr Hass auf Charles Graham schien sich aufgelöst zu haben; zurück blieb eine Leere, wo einst ihr Gefühl sie gequält hatte.

    Bald würde sie völlig frei sein. Ihr war es gleichgültig, ob er sie nun dieser Frau oder einer anderen wegen hatte fallenlassen.

    Sie sagte in den Apparat: »Na gut, verbinden Sie die Dame lieber mit Mr. Graham. Ich werde mit Kirkbright sprechen.«

    In der Leitung ertönte ein Knacken, ein zweites Knacken. Durch die Tür hörte sie aus Charles Grahams Zimmer seine tiefe, volle Stimme: »Oh, hallo! Ich hatte nicht erwartet...«

    Und dann kam aus ihrem eigenen Hörer eine gereizte Stimme: »Für jemand, der so gern andere Leute herumscheucht, Graham, nehmen Sie sich verdammt lange Zeit...«

    »Hier spricht nicht Mr. Graham«, sagte Miss Davidson. »Ich bin seine Sekretärin. Ich kenne die näheren Umstände dieser Bestellung; wenn Sie mir also mitteilen wollen, wie die Angelegenheit bei Ihnen steht, kann ich der entsprechenden Abteilung hier Anweisung geben. Spreche ich mit Mr. Kirkbright?«

    »Stimmt. Entschuldigen Sie bitte die rauen Worte, meine Dame, aber ich bin ein Mann des offenen Wortes und mache aus meinem Herzen keine Mördergrube. Dieser Schlamassel mit der Lieferung ist bei Ihnen entstanden – nicht bei mir. Ich habe die Daten und Unterlagen hier und kann das beweisen.«

    »Ja? Wenn Sie mir bitte Ihre Aufstellung ansagen wollen«, erwiderte Miss Davidson, »notiere ich alles. Und sowie Mr. Graham frei ist, sehe ich zu, dass er Sie wieder anruft. Wäre Ihnen das recht?«

    »Geht in Ordnung. Also, nach unseren Bestellungsunterlagen befand sich der ausstehende Rest vom 20. November in der Lieferung Bestellnummer 6943 K von der zweiten Dezemberwoche...«

    Halb unbewusst und mechanisch schrieb sie die Zahlen auf ihren Block. Mit dem Rest ihres Bewusstseins lauschte sie auf Charles Grahams Stimme im angrenzenden Zimmer.

    Seine Worte konnte sie nicht verstehen, doch das war unwichtig. Sie hatte nicht die Absicht zu lauschen. Was er Miss Lindon oder einer anderen Freundin zu erzählen hatte, bedeutete ihr nichts mehr. Er tat ihr fast leid.

    Nach dem Gespräch mit Kirkbright rief sie die Abteilung K an und gab seine Informationen weiter. Dann vertiefte sie sich in ihre Arbeit, um die Stimme aus dem anderen Zimmer zu vergessen.

    Hin und wieder drangen ein paar Wortfetzen in ihr Ohr; sie hatte den Eindruck, als sei er über irgendeine Nachricht erregt. Kurz bevor er auflegte, hörte sie deutlich einen Satz: »...das kannst du mir nicht antun!« Und eine Sekunde später sagte er in schärferem Ton: »Das ist wirklich nicht zu viel verlangt...« Das übrige war nicht zu verstehen.

    Ein Mädchen aus dem Hauptbüro kam herein mit einigen Akten, die Mr. Graham vorgelegt werden sollten. Miss Davidson teilte ihr mit, dass Mr. Graham beschäftigt sei. Das Mädchen überließ ihr die Akten und ging.

    Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, hatte Charles Graham das Gespräch beendet. Miss Davidson hörte, wie er den Stuhl zurückschob und in seinem Zimmer auf und ab wanderte wie immer, wenn er einem schwierigen Problem gegenüberstand.

    Während sie weiterarbeitete, spielten ihre Gedanken mit der Frage, was wohl Annette Lindon für eine Frau sein mochte und was Charles gemeint haben konnte, als er sagte: »...das kannst du mir nicht antun!«

    Irgendetwas tiefer Gehendes als bloße Gereiztheit hatte in seiner Stimme mitgeklungen. Das war eigenartig, denn so leicht brachte ihn nichts aus der Fassung. Wenn Miss Lindon eine derartige Gemütsbewegung in ihm hervorrufen konnte, so handelte es sich bei ihr offensichtlich um eine ungewöhnliche Person.

    Nach einiger Zeit kehrte er an seinen Schreibtisch zurück und setzte sich wieder hin. Während der folgenden Stunde führte er mehrere Telefongespräche. Soweit Miss Davidson feststellen konnte, handelte es sich ausschließlich um geschäftliche Angelegenheiten.

    Einmal rief er sie über den Hausapparat an und fragte, ob sie von Kirkbright etwas gehört habe. Sie berichtete ihm über ihr Gespräch und dass sie die Daten an Abteilung K weitergegeben habe, wo man dem Fehler auf die Spur gekommen zu sein scheine.

    Er brummte zustimmend und schnitt ihr dann das Wort ab: »Schon gut, Miss Davidson, ersparen Sie mir die Einzelheiten. Ich habe viel Arbeit hier liegen; sehen Sie bitte zu, dass ich nicht gestört werde.«

    Noch nie hatte er diesen barschen Ton ihr gegenüber angeschlagen. In diesem Augenblick verschwand jede Spur eines Bedauerns über ihre private Entscheidung. Immer hatte sie gewusst, dass eines Tages das Maß voll sein werde. Dieser Tag war nun wirklich gekommen. Sie konnte es nicht länger zulassen, dass er sie wie einen Hund behandelte, der auf seinen Pfiff angelaufen kam und ihn um gut Wetter anflehte.

    Um zwölf verließ er sein Büro. Er trug Mantel und Hut, eine Zeitung steckte in seiner Manteltasche.

    Er sagte zu Miss Davidson: »Vor meiner Verabredung zum Essen muss ich noch eine Besorgung machen, deshalb gehe ich jetzt schon weg. Sollte ich nicht rechtzeitig zurückkommen, gehe ich direkt zur Bank. Sagen Sie bitte Mr. Street, dass ich ihn dann dort treffe.«

    Miss Davidson antwortete: »Natürlich, Mr. Graham.«

    Wie gut kannte sie ihn doch! Er machte Ausflüchte,

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