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TAWAMAYA - 1.1.: HERMON: Ein historischer Roman
TAWAMAYA - 1.1.: HERMON: Ein historischer Roman
TAWAMAYA - 1.1.: HERMON: Ein historischer Roman
eBook644 Seiten9 Stunden

TAWAMAYA - 1.1.: HERMON: Ein historischer Roman

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Über dieses E-Book

Der amerikanische Bürgerkrieg geht zu Ende. Die 17jährige Hermon flieht auf einem gestohlenen Yankee-Pferd aus der brennenden Stadt Richmond, der Hauptstadt der Südstaaten.

Getarnt als Saddleboy legt sie allein und ohne Ziel einen weiten Weg nach Westen zurück. Das einzige, worauf sie sich versteht, sind Pferde - dank dieser Kenntnisse kann sie überleben.

Als sie sich entscheidet, von Kansas aus weiter nach Westen zu ziehen, begegnet sie Alex Mehegan, dem Treckführer auf dem Oregon-Trail, der schließlich sehr verwirrt ist über seine Gefühle für den jungen Saddleboy, weil er lange Zeit nicht ahnt, dass sich hinter der Maske des mutigen Jungen mit der Pferdeseele ein Mädchen verbirgt...

 

Tawamaya 1.1: Hermon ist der erste Teil des Auftaktbandes einer epischen historischen Familien-Saga aus der Feder von Elvira Henning (Jahrgang 1955).

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum2. März 2023
ISBN9783755433996
TAWAMAYA - 1.1.: HERMON: Ein historischer Roman

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    Buchvorschau

    TAWAMAYA - 1.1. - Elvira Henning

    Das Buch

    Der amerikanische Bürgerkrieg geht zu Ende. Die 17jährige Hermon flieht auf einem gestohlenen Yankee-Pferd aus der brennenden Stadt Richmond, der Hauptstadt der Südstaaten.

    Getarnt als Saddleboy legt sie allein und ohne Ziel einen weiten Weg nach Westen zurück. Das einzige, worauf sie sich versteht, sind Pferde - dank dieser Kenntnisse kann sie überleben.

    Als sie sich entscheidet, von Kansas aus weiter nach Westen zu ziehen, begegnet sie Alex Mehegan, dem Treckführer auf dem Oregon-Trail, der schließlich sehr verwirrt ist über seine Gefühle für den jungen Saddleboy, weil er lange Zeit nicht ahnt, dass sich hinter der Maske des mutigen Jungen mit der Pferdeseele ein Mädchen verbirgt...

    Tawamaya 1.1: Hermon ist der erste Teil des Auftaktbandes einer epischen historischen Familien-Saga aus der Feder von Elvira Henning (Jahrgang 1955).

    TAWAMAYA 1.1: HERMON

    Für Josef

      RICHMOND, Juni 1864

    Das Mädchen lief mit tief gesenktem Kopf die Straße entlang, um die Tränen zu verbergen, die ihm übers Gesicht rannen und auf das schmucklose, verwaschene Kleid tropften. Niemand sollte ihre Trauer sehen, was ging sie die Leute an. Doch die Menschen, die durch die Straßen von Richmond hasteten, hatten ihre eigenen Sorgen. Niemand beachtete sie. Unbehelligt erreichte sie das dreistöckige Wohnhaus in der Broad Street, einen Straßenzug von der alten St. Johns Church entfernt.

    Sie wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht, stieg die Stufen hinauf und drehte den Schlüssel im Schloss der Haustür um. Im Windfang vor der Flügeltür blieb sie stehen. Sie hatte gehofft, unbemerkt in ihre Kammer unter dem Dach zu gelangen, doch aus dem Salon drang die grelle, aufgebrachte Stimme ihrer älteren Schwester Cathleen an ihr Ohr.

    »Ich kann dieses verdammte Wort nicht mehr hören! Alle Leute reden von nichts anderem als von diesem Krieg! Alles wird verdorben von diesem ewigen Gerede von irgendwelchen dramatischen Schlachten, ihren großartigen Siegen und dieser ermüdenden Angeberei über ihre Heldentaten. Sie haben völlig vergessen, dass es außer diesen verdammten Yankees auch noch...«

    »Cathy! Hör auf! Wie kannst du nur solche Ausdrücke gebrauchen!«, fiel ihr nun Elisabeth, die älteste der drei Brinkfield-Schwestern ins Wort, »wenn Mama dich hört!«

    Aber Cathy war nicht zu bremsen: »Es ist doch kein Wunder! Wir sehen ja aus wie die Vogelscheuchen mit unseren gewendeten Kleidern, und das, obwohl unser Vater mit diesen Blockadebrechern Geschäfte macht und durchaus an neue Stoffe herankommen könnte! Bloß unsere tapferen Jungs rennen mit neuen grauen Jacken, für die ihre Frauen immer noch irgendwo Stoffe auftreiben, wie die aufgeplusterten Gockel herum...«

    Cathy schnappte nach Luft, und Beth fiel ihr erneut ins Wort: »Hör auf, so zu übertreiben! Du solltest dir um andere Dinge Sorgen machen, als um deine Kleider! Natürlich könnte Vater Stoffe besorgen, aber wie sieht es denn aus, wenn wir neue Kleider tragen, während alle anderen in Lumpen gehen!«

    »Das ist mir egal! Ich habe das alles so satt, und ich will, dass dieser Krieg endlich aufhört und alles wieder wird wie früher.«

    »Du bist wirklich ein Kind, Cathy, so wird es nie mehr sein«, belehrte sie Beth.

    Das Mädchen im Windfang hatte die Stirn an die kalte Wand gelehnt und biss sich auf die Lippen, um nicht laut loszuschreien. Der Redeschwall wollte nicht enden.

    »Weißt du noch, jubelnd sind sie losgerannt, als Fort Sumter angegriffen wurde. In zwei Wochen werden wir die Yankees zum Teufel jagen, haben sie geschrien! Das war vor drei Jahren!«

    »Cathleen! Ich kann dein ewiges Gejammer nicht mehr ertragen!« Beth wurde nun ärgerlich, »du solltest lieber froh sein, dass wir in Richmond leben. Unsere Hauptstadt werden die Yankees nicht bekommen, sie ist uneinnehmbar, das sagen alle. Unsere Männer liegen draußen vor der Stadt in den Gräben und...«

    In diesem Moment wurde die Flügeltür aufgestoßen. Das Mädchen trat mit steinerner Miene ein. Beide verstummten. Im Eifer des Wortgefechts war ihnen das Schlagen der Haustür entgangen. Sie hatten nicht bemerkt, dass ihre jüngste Schwester in der Hoffnung, sie würden aus dem Salon verschwinden, seit geraumer Zeit vor der Tür gestanden hatte.

    Sie wollte ihnen ihr verweintes Gesicht nicht zeigen, am Ende hatte sie es jedoch nicht mehr ertragen. Mit großen Schritten durchquerte sie den mit sorgfältig polierten Chippendale Möbeln ausgestatteten Salon und lief zur Treppe gegenüber der Flügeltür. Die Schwestern sahen ihr nach, und Cathy hatte eben eine giftige Bemerkung auf den Lippen, als sie sich auf der untersten Stufe noch einmal umdrehte und voller Verachtung hervorstieß: »Ihr blöden Kühe!« Dann rannte sie die Treppe hinauf.

    »Was ist denn in die gefahren?«, fragte Cathy verblüfft, »die ist ja völlig verheult!«

    Sie kannte ihre jüngere Schwester als trotzig, stur, verschlossen und zornig bis zur Gewalttätigkeit, aber Tränen hatte sie bei ihr nie gesehen.

    »Ihr muss irgendetwas Furchtbares passiert sein«, vermutete Beth, aber Cathy bemerkte abfällig, »was soll der schon Schlimmes passiert sein?«

    Beth dachte einen Moment daran, ihr zu folgen, doch sie wusste, dass es wohl sinnlos war und ließ es bleiben.

    Hermon Brinkfield rannte die knarrenden Stufen bis ins Dachgeschoss hinauf, verschwand in der winzigen Dachkammer und warf sich auf das schmale Bett unter der Dachschräge. Sie vergrub den Kopf in den Armen und weinte, wie sie noch nie in ihrem Leben geweint hatte. Sie konnte nicht fassen, dass es wirklich geschehen war. Es war einfach zu schrecklich.

    Im Geist sah sie Gavins lachende, blaue Augen und seinen blonden Wuschelkopf vor sich, fühlte sich von seinen starken Armen hochgehoben. Er war der große Bruder, den sie selbst nie gehabt hatte, der Bruder ihrer einzigen Freundin Melody.

    Er würde sie nie mehr mit seinen blauen Augen anlachen. –

    In den Straßen jubelten die Menschen, weil die Grauröcke die Stadt erfolgreich verteidigt hatten. Sechzigtausend Yankees hatte General Grant im Frontangriff gegen die Stadt geführt. Die Konföderierten hatten sie zurückgeschlagen.

    Siebentausend Mann, so erzählte man, seien in nur fünfzehn Minuten vor den Schützengräben der Grauröcke gefallen. Grant musste aufgeben, zurückweichen.

    Wie so oft war Hermon allein durch die Stadt gelaufen, und am Bahnhof hatte sie Wayne Himes getroffen, Gavins Freund, der mit ihm Seite an Seite im Schützengraben gelegen hatte. Von ihm hatte sie es erfahren.

    Unter den Konföderierten gab es kaum Verwundete und nur wenige Tote. Einer davon war Gavin Bennett. Kopfschuss. Er war auf der Stelle tot.

    Hermon erinnerte sich nicht, wie sie nach Hause gekommen war. Sie konnte einfach nicht aufhören zu weinen und zitterte noch immer am ganzen Körper. In ihren Schläfen hämmerte es, und ihre Augen waren blind vor Tränen. Es gelang ihr einfach nicht, die Bilder der Vergangenheit aus ihrem Kopf zu verbannen.

    Gavin hatte sie zu lachen gelehrt, hatte ihr gezeigt, was Freude ist. Er war es gewesen, der Hermon zum ersten Mal auf einen Pferderücken gesetzt hatte. Sie erinnerte sich daran, wie sie gemeinsam am Flussufer entlanggeritten waren. Wenn sie im Sattel saß, hatte die Welt ein neues Gesicht.

    Die Erinnerungen ließen sie schließlich ruhiger werden. Langsam versiegten die Tränen.

    Sie stand auf, trat an die Kommode, goss Wasser aus der Porzellankaraffe in die Waschschüssel und presste einen nassen Lappen auf ihr heißes Gesicht und die geschwollenen Augen. Dann warf sie einen Blick in den kleinen Spiegel darüber.

    Hermon hatte keinerlei Ähnlichkeit mit ihren beiden hübschen, blonden Schwestern. Ihr Gesicht war eckig, die Brauen über den grünen Augen kräftig und dunkel, die schmale Nase zu lang, der Mund zu breit und ihr Kinn von eigensinniger Eckigkeit.

    Sie hatte trotz ihrer sechzehn Jahre kaum Brüste und keine Taille. Das dunkle, viel zu lockige Haar trug sie straff zurückgekämmt zu einem geflochtenen Knoten aufgesteckt.

    Niemand in ihrer Familie sah aus wie sie, und von Cathy bekam sie bei jeder Gelegenheit zu hören, wie hässlich sie sei und dass sie gewiss nie einen Mann bekäme.

    Wer will schon eine wie dich! Du siehst ja selber aus wie ein Kerl, hast eine Figur wie ein Waschbrett! Wie oft hatte sie sich das anhören müssen.

    Auf die Frage, warum sie sich so sehr von ihren Schwestern unterschied, hatte sie lange keine Antwort gehabt. Und als sie es schließlich erfahren hatte, machte es die Sache auch nicht besser. An die Hänseleien der Schwestern war sie gewöhnt, so lange sie denken konnte.

    Es klopfte leise an die Zimmertür. Dooney, das einzige schwarze Mädchen, das sie noch im Haus hatten, kam hereingehuscht.

    »Miss Hermon, das Essen ist... oh, Missy, was ist geschehen? Sie sehen sehr schrecklich aus!«

    »Es geht mir nicht gut, Dooney, ich komme nicht herunter«, entgegnete sie.

    »Aber Miss Hermon, Misses Brinkfield wird furchtbar böse werden, wenn Sie nicht kommen zur Mahlzeit!«

    »Das ist mir egal, Dooney! Und jetzt lass mich in Frieden!« Hermon schob das schwarze Mädchen in dem blauen Kattunkleid, das schon an vielen Stellen geflickt war, einfach zur Tür hinaus und knallte sie hinter ihm zu, warf sie sich wieder auf ihr Bett, schloss die Augen und versank erneut in ihren Erinnerungen.

    In Gedanken kehrte sie zurück auf die Bennett Farm. Wie mochte es Melody jetzt gehen?

    Melody und Hermon hatten sich in der Schule kennengelernt. Sie war ihre einzige Freundin. Zu Besuchen und Gesellschaften wurde sie nur selten mitgenommen.

    Sie war das dritte, ungeliebte, kränkliche Kind in der Familie, das ewig unter Bauchschmerzen, Erbrechen und Durchfällen litt. Mit zunehmendem Alter kamen auch noch diese ständigen Kopfschmerzen hinzu.

    Hermon hatte sehr früh begriffen, dass es zwischen ihr und ihren Schwestern einen Unterschied gab. Cathy und Beth wurden getröstet, wenn ihnen etwas wehtat, sie wurde gescholten. Die Schwestern bekamen häufige Besuche von Freundinnen, Hermon blieb ausgeschlossen. Niemand wollte etwas zu tun haben mit diesem verschlossenen, zornigen kleinen Mädchen.

    Auch in der Schule stand sie schweigsam in den abgetragenen Kleidern ihrer Schwestern, von denen das schwarze Dienstmädchen Rüschen und Spitzen abgetrennt hatte, allein und abseits. Sie saß in der letzten Bank und wurde von Lehrern und Schülern kaum wahrgenommen, da sie nie ein Wort sagte. Doch es gab noch ein Mädchen, das nicht dazugehörte und gehänselt und ausgelacht wurde.

    Melody Bennett wäre mit ihren dicken, hellbraunen Zöpfen und dem zarten Gesicht hübsch gewesen, doch ihre blauen Augen blickten in verschiedene Richtungen und ließen das Gesicht grotesk erscheinen. Lange Zeit beobachtete Hermon das grausame Treiben der Kinder schweigend.

    Schielauge – schielende Kuh – kannst um die Ecke gucken – wer schielt, ist dumm im Kopf! so wurde sie ständig gehänselt.

    Melody weinte oft. Manchmal kam sie schon verweint in die Schule. Dann trieben es die Kinder noch schlimmer. Eines Tages aus heiterem Himmel schritt Hermon ein. Sie packte den Jungen, der an Melodys Zopf riss und Schielauge schrie, und schlug ihm so fest ins Gesicht, dass seine Nase blutete. Sie wurde hart dafür bestraft, aber das war ihr egal. Von diesem Tag an stand Melody unter Hermons Schutz, die sich mit diesem Schlag Respekt verschafft hatte. Die Kinder ließen beide in Ruhe.

    Hermon blieb auch Melody gegenüber schweigsam und verschlossen. Der Lehrer erlaubte immerhin, dass sie sich nebeneinander setzen durften. Eines Morgens fasste Melody zaghaft Hermons Hand: »Du bist nett, Hermion!« Hermon sah sie ungläubig an. Kein Mensch hatte ihr je gesagt, dass sie nett sei. Und niemand außer dem Lehrer nannte sie Hermion, wie ihr Name eigentlich lautete. Ihre Mutter hatte wohl keinen hässlicheren gefunden, und das i war irgendwann verloren gegangen.

    Melody hatte sie angelächelt und gefragt: »Willst du meine Freundin sein?«

    Von diesem Tag an gingen sie Hand in Hand. Hermon hatte begonnen, mit ihr zu reden. Zum ersten Mal konnte sie mit einem Menschen Geheimnisse teilen.  

    Hermon hörte die Schritte auf der Treppe nicht. Die Tür wurde unvermittelt aufgestoßen. Ihre Mutter, eine schlanke Frau, hübsch und blond wie ihre beiden älteren Töchter, sah sie mit hochgezogenen Brauen verärgert an: »Was soll das wieder, Hermon? Du weißt genau, dein Vater und ich legen Wert darauf, dass die Abendmahlzeit von der ganzen Familie gemeinsam eingenommen wird! Komm sofort herunter!«

    Hermon sprang auf und funkelte ihre Mutter mit ihren verweinten Augen zornig an: »Nein!«

    »Was hast du?«, fragte ihre Mutter irritiert von ihrem Anblick.

    »Das ist meine Sache, es ist dir doch sowieso egal! Euch allen ist es egal, wie es mir geht!« Hermons Stimme begann zu vibrieren.

    »Hermon! Nimm dich zusammen und mach nicht schon wieder eine Szene! Du solltest froh sein, dass dein Vater...«

    »Er ist nicht mein Vater!«, Hermon begann zu schreien, »er würde alles tun, um mich loszuwerden, wenn er bloß vor den Leuten zugeben könnte, dass er mich nicht leiden kann, genau wie du! Ihr liebt doch nur diese beiden Milchgesichter, die nichts als Kleider, Feste und Männer im Kopf haben und so dumm sind wie Stroh!«

    Ella Brinkfield wurde bleich. Es schien so, als wollte sie etwas sagen, doch plötzlich hob sie die Hand und schlug ihrer sechzehnjährigen Tochter ins Gesicht. Hermon stand sekundenlang wie zur Salzsäule erstarrt. Dann geschah etwas Ungeheuerliches. Sie holte aus und schlug zurück.

    Der Schlag war so hart, dass ihre Mutter mit dem Kopf gegen die Türfüllung schlug. Hermon knallte ihr die Tür vor der Nase zu, dann lehnte sie sich mit dem Rücken dagegen.

    Sie hatte das nicht gewollt, aber es tat ihr auch nicht wirklich leid. Sie hatte schon zu viele Schläge bekommen, wenn auch meistens vom Vater.

    Ihre Wange brannte wie Feuer. Diesmal war es zu viel! Sie starrte auf die Hand, mit der sie zugeschlagen hatte. Sie hatte an der Daumenwurzel ein sichelförmiges Muttermahl. Wie alles an ihr erschienen ihr auch ihre Hände hässlich. Sie waren grob und viel zu groß geraten.

    Auf der Treppe war es totenstill. Sie hörte das Schaben des Riegels an der Tür und die Schritte der Mutter auf den Stufen. Es machte ihr nichts aus, eingesperrt zu sein, so hatte sie wenigstens ihre Ruhe. Sie zog die Nadeln aus ihrem Haarknoten, ließ den dicken Zopf über ihren Rücken fallen und warf sich wieder auf das Bett.

    Ihr Gesicht ins Kissen gepresst schloss sie die Augen, und in Gedanken kehrte sie zurück zu Gavin.

    Melody Bennetts Familie züchtete Pferde. Ihr Hof lag weit draußen vor der Stadt. Melody wurde jeden Morgen von Ihrem Bruder mit dem Pferdewagen zur Schule gebracht und am Nachmittag wieder abgeholt. Hermon sah ihn oft von weitem. Und schließlich wurde sie eingeladen, die Freundin zu besuchen. Aber ihre Mutter erlaubte es nicht. Sie ließ Hermon nirgendwo allein hingehen, außer in die Schule, notgedrungen, da Cathy und Beth eine Privatschule für höhere Töchter besuchten.

    Eines Nachmittags, als Hermon wusste, dass ihre Mutter eine Einladung hatte, von der sie erst spät zurückkommen würde, fuhr sie mit Melody nach Hause. Mrs. Bennett begrüßte sie herzlich, doch Hermon war schrecklich verlegen.

    Sie brachte den Mädchen Milch und Kekse. Dann nahm Gavin die beiden mit nach draußen und zeigte Hermon die Pferde. Damals war sie elf. Aber Gavin sprach mit ihr wie mit einer Erwachsenen. Die großen Tiere machten ihr keine Angst. Sie streichelte ihr glänzendes Fell, flüsterte mit ihnen und zog sie mit ihrer Stimme sofort in ihren Bann. Sie spürte, da war etwas ganz Besonderes zwischen ihr und den Pferden. Gavin beobachtete sie aufmerksam und nahm wahr, wie die Pferde auf das Mädchen reagierten.

    Dann hatte er zu ihr gesagt: »Ich glaube, du hast eine Pferdeseele, die Tiere verstehen deine Sprache.« Er setzte sie auf den Rücken einer hellbraunen Stute.

    Ganz von selbst glich sich ihr Körper den Bewegungen an. Sie hatte das Gefühl, dorthin zu gehören. Es war Hermons glücklichster Tag, so lange sie denken konnte. Daran änderte auch die Tracht Prügel nichts, die sie am Abend vom Vater bekommen hatte. Sie begann, längere Schulzeiten, Strafarbeiten und Nachsitzen zu erfinden, um mit Melody nach Hause zu gehen. Mrs. Bennett freute sich über ihre Besuche, und Gavin brachte ihr den Umgang mit Pferden und das Reiten bei.

    Es dauerte eine ganze Weile, bis Ella Brinkfield herausfand, was ihre Tochter hinter ihrem Rücken trieb. Und da sie froh war, ihr nicht ständig ins Gesicht sehen zu müssen, duldete sie nun stillschweigend, dass Hermon zu diesem Mädchen ging.

    Die Stunden, die sie mit Melody und ihrer Familie verbrachte, waren ihre beste Zeit.

    Und nun lag Gavin tot da draußen im Schützengraben.

    Ich muss zu ihnen gehen, überlegte Hermon, doch der Gedanke, Melody und ihre Eltern trauern zu sehen, war unerträglich. Sie begann wieder zu weinen, wurde jedoch aus ihren Gedanken gerissen, als Cathy und Beth die Treppe heraufkamen und in ihrem Zimmer rumorten. Zu ihr kam an diesem Abend niemand mehr. Sie blieb angekleidet auf ihrem Bett liegen und weinte sich schließlich in den Schlaf.

    Früh am nächsten Morgen kam Dooney mit einer Karaffe Wasser herein. Hermon war bereits wach. Sie rührte sich nicht, noch nicht bereit für diesen neuen widerwärtigen Tag. Dooney trat geräuschlos an ihr Bett und strich mit der Hand sanft über ihre Schulter: »Miss Hermon! Guten Morgen, Miss Hermon, Zeit aufzustehen!«

    Unwillig öffnete sie die Augen und blickte zu dem kleinen Fenster. Es war kaum hell und der Himmel grau.

    »Es ist viel zu früh, Dooney.«

    »Nicht zu früh, Missy, ihr Vater lässt bestellen, er will mit Ihnen reden, bevor er zur Arbeit geht.«

    Aber ich nicht, dachte Hermon, doch sie wusste, ihr blieb nichts übrig, als die Konsequenzen ihres Verhaltens zu tragen. Sie streckte sich noch einmal, dann stand sie auf. Dooney hatte bereits Wasser in die Waschschüssel gegossen und half Hermon, das verschwitzte Kleid auszuziehen, in dem sie geschlafen hatte. Während sie sich wusch, legte Dooney ihr frische Sachen zurecht.

    Wenn Hermon sich im Haus aufhielt, und das tat sie die meiste Zeit, lehnte sie es ab, sich in ein enges, unbequemes Korsett zu zwängen. Am liebsten trug sie ihre einfachen, unförmigen Baumwollkleider. Mit der Mutter führte sie deshalb immer wieder Debatten.

    »Ich habe doch sowieso eine Figur wie ein Waschbrett!«, war dabei ihr schlagkräftigstes Argument.

    Auch heute hatte Dooney ein leichtes Fischbeinkorsett bereitgelegt, aber Hermon zog es nicht an. Sie schlüpfte in den weißen Unterrock, der mit drei breiten Volants etwas Fülle unter ihren Rock brachte. Das war genug! Dooney löste den Zopf, bürstete ihr wildgelocktes, widerborstiges Haar, flocht es und steckte es zu einem strammen Knoten auf. Dann streichelte sie sanft über ihre Schulter.

    »Danke, Dooney«, Hermon brachte ein klägliches Lächeln zustande. In ihren Schläfen begann es zu hämmern, ihr Bauch fühlte sich an wie mit Kieselsteinen gefüllt.

    Sie lief die Treppe hinunter und hörte die Mutter in der Küche herumhantieren. Hastig schlug sie den Weg in den hinteren Teil des Hauses ein, wo der Vater sein Kontor hatte. Dort saß er gewöhnlich in aller Frühe über den Büchern. Mit einem kurzen Klopfen trat sie ein. William Brinkfield hob den Kopf von der Arbeit. Sein Blick hatte etwas Vernichtendes. Seine ganze Gestalt wirkte auf Hermon bedrohlich.

    Er war groß, breitschultrig und übergewichtig, aber sein grauer Anzug saß tadellos. Das schüttere, dunkelblonde Haar wies bereits graue Strähnen auf. Seine Brauen waren dunkel, langhaarig und gaben seinem scharfkantigen Gesicht etwas Diabolisches.

    Nun zog er sie zu aufgespannten Bögen hoch: »Hermon Brinkfield, manchmal frage ich mich, warum du meinen Namen trägst! Du bist die Achtung nicht wert, die wir dir entgegenbringen! Schämst du dich nicht, deine Mutter zu schlagen?«

    Statt den Blick zu senken, wagte Hermon zu widersprechen: »Schämt sie sich, mich zu schlagen? Ich habe in meinem Leben genug Prügel bekommen, und ich bin sechzehn Jahre alt!« Sie konnte ihre Wut nicht zügeln.

    William Brinkfield sprang auf: »Was fällt dir ein! Wenn du Prügel bekommen hast, so war sie verdient! Du wirst dich bei deiner Mutter entschuldigen, für das, was du gesagt und für das, was du getan hast!«

    Hermon biss die Zähne so fest zusammen, dass die Kiefer schmerzten, ohne jedoch den Blick zu senken.

    »Die nächsten drei Tage wirst du in deinem Zimmer verbringen und darüber nachdenken, was du deiner Mutter schuldig bist! Und jetzt geh mir aus den Augen!«

    Hermon ging wortlos. Sie brauchte all ihre Selbstbeherrschung, die Tür nicht ins Schloss zu knallen.

    Wenn ich nur fort könnte, wenn ich nur irgendjemand hätte, zu dem ich gehen könnte, weit weg von Richmond!

    Aber es gab niemanden, keinen Menschen, an den sie sich wenden konnte, um zu entkommen. Ihre einzigen Freunde waren die Bennetts. Und Gavin war tot.

    Hermon ging zurück in ihr Zimmer und warf sich wieder auf ihr Bett. Sie wollte jetzt keinem Menschen begegnen. Es war besser, mit ihrer Trauer allein zu sein.

    Etwas später brachte Dooney ihr ein Tablett mit einem sparsamen Frühstück und einen Korb voller Flickwäsche. Seit die übrigen Haussklaven sich bei Nacht und Nebel davongemacht hatten, war Hermon für solche Arbeiten zuständig.

    Nachdem sie ein paar Bissen gegessen hatte, beschäftigte sie sich mit Näharbeiten. Ihre Hände waren schnell und geschickt, und während sie fadenscheinige Kleidungsstücke noch einmal reparierte, hing sie ihren Gedanken nach.

    Die beste Zeit war das Jahr vor Kriegsbeginn. Mit dreizehn war sie alt genug, ihren Willen gegen die Willkür der Eltern durchzusetzen. Damals verbrachte sie nahezu all ihre freie Zeit auf der Farm der Bennetts. Mit Mel konnte sie ihre Geheimnisse und ihren Kummer teilen, mit ihr lachen und weinen. An den Abenden ritten sie oft am Ufer des James Rivers entlang. Hermon war inzwischen eine gute Reiterin. Sie übersprang jedes Hindernis und ließ in wilder Jagd selbst Gavin hinter sich zurück. Sie lachten und schrien wie übermütige Kinder, und Hermon konnte in dieser Zeit all ihren Kummer vergessen.

    Dann hatte der Krieg begonnen. Nichts war mehr so wie vorher. Und nun war Gavin tot.

    Sie nahm einen zerrissenen Unterrock aus dem Nähkorb. Er gehörte Cathy. Mit einer zornigen Geste warf sie ihn auf den Boden, denn Cathys Gejammer über die abgetragenen Kleider kam ihr wieder in den Sinn. Sie war die Schlimmere der beiden Schwestern, gehässig, eitel und schadenfroh. Von klein an hatte sie Hermon gepeinigt, wo sie nur konnte. Beth dagegen hatte sie hin und wieder in Schutz genommen. Sie war außer Dooney die Einzige gewesen, die ihre kleinste Schwester manchmal getröstet hatte. Doch Cathy war eifersüchtig darauf bedacht, Beth auf ihre Seite zu ziehen. Die Mutter war ihr, solange sie denken konnte, nur mit Strenge begegnet. Ihre Schwestern jedoch wurden zärtlich geliebt. Mit ihren Puppengesichtern, den blonden Zöpfen und den hübschen Rüschenkleidern hatten sie schon als Kinder überall im Vordergrund gestanden. Hermon trug stets schlichte Kleider, ihr dunkles Haar wurde streng aus dem Gesicht frisiert. Die kleinen Locken, die sich in ihre Stirn ringelten, musste Dooney stets mit einer ekelhaft riechenden Flüssigkeit glatt streichen. Hermon war schon früh aufsässig geworden und hatte begonnen, sich zur Wehr zu setzen. Doch die Mutter hatte sie angeschrien: »Sollen die Leute denken, dass du das Kind eines Niggers bist!« Hermon wusste nicht einmal, was sie damit meinte.

    Während sie einen Knopf annähte, versuchte sie die hässlichen Erinnerungen zu verdrängen.

    Was sie getan hatte, tat ihr nicht leid. Wie oft war sie vom Vater mit dem Riemen geprügelt worden, und die Mutter hatte sie mit dem Kochlöffel auf die Hände geschlagen.

    Sie konzentrierte sich auf die Näharbeit, beobachtete durch das kleine Fenster die Wolken, die hinter dem Birnbaum mit den jungen Frühlingsblättern vorbeizogen, sah wieder Gavins lachendes Gesicht und hörte seine Stimme: »Lass dich nicht unterkriegen, kleine Hermon

    Das hatte er oft zu ihr gesagt. Sie weinte wieder, über Gavins Tod und all den Kummer in ihrem kurzen Leben, für den sie noch nie eine Träne hatte, bis heute.

    Das Essen, das Dooney ihr zwischendurch hereinbrachte, rührte sie kaum an. Hin und wieder drangen Stimmen zu ihr herauf. Im Birnbaum vor ihrem Fenster sang eine Amsel ihr Lied, und einmal hörte sie in der Ferne ein Geräusch, das wie Schüsse klang.

    Hermon verließ ihre Kammer drei Tage lang nicht. Nur Dooney kam, um Essen zu bringen und das Nachtgeschirr zu leeren. Sonst ließ sich niemand blicken.

    Sie dachte daran, dass man Gavin begraben würde. Aber sie wollte gar nicht dabei sein, sie würde es nicht ertragen.

    Der Riegel wurde zurückgeschoben. Dooney brachte einen Bottich mit Wasser, Leinentücher und frische Kleider. Sie wusch Hermon von Kopf bis Fuß, kleidete sie in ein graues, nicht ganz so schäbiges Kleid, das einmal ihrer Mutter gehört hatte und frisierte sie sorgfältig, bis keine Locke mehr in die Stirn sprang.

    »So, Miss Hermon, jetzt gehen Sie und entschuldigen sich, dann ist alles gut.«

    Dooney wusste es also auch! »Wofür zum Teufel soll ich mich entschuldigen! Sie hat mich zuerst geschlagen!«

    »Aber ist ihre Mutter, Missy«, sie tätschelte Hermons Arm, dann begann sie aufzuräumen. Hermon wartete, bis sie gegangen war. Sie wusste, Dooney würde nun ihrer Mutter in der Küche beim Zubereiten des Frühstücks zur Hand gehen.

    Mit steinerner Miene ging sie nach unten. Ella Brinkfield wandte sich ihr wortlos zu, und das schwarze Mädchen verließ unaufgefordert die Küche.

    »Ich entschuldige mich«, sagte Hermon in einem Ton, der jede Reue vermissen ließ, »hättest du mich nicht zuerst geschlagen, so wäre es nicht passiert.«

    »Du glaubst also, du könntest dir jede Respektlosigkeit gegen deinen Vater und deine Schwestern erlauben!«, fuhr die Mutter sie an.

    »Haben sie je Respekt vor mir gehabt! Warum hast du mich überhaupt zur Welt gebracht! Es wäre besser, ich wäre niemals geboren!«

    Ella Brinkfield senkte einen Atemzug lang den Blick. Hermon erhaschte für eine Sekunde einen Ausdruck von unbeschreiblichem Schmerz in ihren Augen, den sie sich nicht erklären konnte. »Bring das Tablett in den Salon!« In ihrer Stimme war ein Zittern.

    Hermon deckte den Tisch. Dann versammelte sich die Familie zur morgendlichen Mahlzeit.

    Die Mahlzeit verlief schweigsam. In Gegenwart des Vaters hielt selbst Cathy den Mund. Als William Brinkfield sich erhob und damit das Frühstück beendete, verließ Hermon fluchtartig das Haus, ging in den Stall und redete mit dem alten Kutschpferd. Es war das einzige Wesen im Haus, dem sie ihr Herz ausschütten konnte. Sie erzählte ihm, was geschehen war und dass sie eigentlich gar nicht wusste, was sie auf der Welt sollte.  

    Die kommenden Wochen erschienen Hermon wie ein einziger Alptraum.

    Sie ging ihrer Familie aus dem Weg, so gut sie konnte, beschäftigte sich in ihrer Kammer stundenlang mit Näharbeiten, und hin und wieder schlich sie sich aus dem Haus, obwohl es sich für ein junges Mädchen nicht gehörte, allein in den Straßen herumzulaufen. In ihrer schlichten, abgetragenen Kleidung unterschied sie sich nicht von den Dienstboten, und kaum ein Mensch nahm Notiz von ihr. An heißen Tagen ging sie am liebsten in die nahe gelegene St. Johns Church. Sie mochte das alte Backsteingebäude mit dem dreiteiligen Turm. Stundenlang konnte sie unter den hohen Bäumen auf dem Kirchhof sitzen oder sie genoss das Alleinsein in der Stille des düsteren Kirchenraums. Manchmal ging sie auch hinunter zum James River, wo die Lagerhäuser aus rotem Backstein standen und die Schiffe anlegten. Dort beobachtete sie die Menschen und erfuhr die eine oder andere Neuigkeit. Doch zum Oregon Hill, wo die Pferdefarm der Bennetts lag, ging sie nicht, obwohl sie immer wieder daran dachte. Sie schaffte es einfach nicht, und sie schämte sich dafür. Nun hatte sie nicht nur Gavin verloren, sondern auch ihre einzige Freundin. Die Zeit schien stillzustehen. Es gab kein Morgen. –

    Der Krieg ging weiter. General Grant hatte seine Truppen von Richmond abgezogen und belagerte nun Petersburg. Noch verteidigten die Konföderierten die Stadt erfolgreich. Doch selbst in Richmond wurde nicht mehr gejubelt, der Krieg dauerte schon zu lange. Die Waren wurden immer knapper, die Läden und Verkaufsstände von Woche zu Woche leerer. William Brinkfield machte sich Sorgen um den Verkauf seiner diesjährigen Tabakernte. Obwohl er gute Beziehungen hatte, standen die Aussichten schlecht. Kaum ein Schiff kam noch durch die Blockade der Yankees, und auch die meisten Bahnstrecken waren in der Hand der Union. Die Nachrichten über verlorene Schlachten häuften sich. Anfang September nahmen die Yankees die hart umkämpfte Stadt Atlanta ein, und auch in Virginia begann mehr und mehr die Hoffnung auf einen Sieg der Konföderation zu schwinden.

    Hermon las die Nachrichten in den Zeitungen, die ihr Vater im Salon liegen ließ, aber sie nahm all das mit großer Gleichmut hin. Was hatte sie schon zu verlieren! Und sie fragte sich, ob das Ende des Krieges für sie irgendeine Bedeutung haben würde.

    »Hermon, du kommst sofort herunter und hilfst Dooney in der Küche! Wir werden heute Abend Gäste haben!«, rief Ella Brinkfield durch den Treppenaufgang zu ihrer jüngsten Tochter hinauf. Seit dem Streit hatte sie keinen Fuß mehr in ihre Kammer gesetzt.

    Hermon legte die Handarbeit zur Seite und ging wortlos nach unten. In der Küche fand sie nur das schwarze Mädchen vor, das Gemüse putzte.

    »Ich soll dir helfen, Dooney«, bemerkte sie kurz und griff zum Messer, um den Kohl zu schneiden. »Weißt du, wer kommt?«

    »Master Brinkfield bringt Gäste mit, ein Kaufmann. Er kommen mit ganzer Familie.«

    Dooney war wie immer gut informiert. Sie hatte mit Sicherheit gelauscht. Von ihr bekam Hermon oft Informationen, die die Familie ihr vorenthielt.

    Während sie das Gemüse putzte, plauderte Dooney munter weiter: »Weiß nicht, wie die Leute heißen, aber sind schon hier gewesen. Sie haben Tochter, so alt wie Miss Beth, und Sohn. Er war im Krieg, ist jetzt wegen einer Verwundung zu Hause.«

    Hermon sagte nichts dazu. Sie hasste es, wenn Gäste ins Haus kamen. Und heute sah sie keine Möglichkeit, sich vor der Mahlzeit zu drücken, denn sie konnte sich im Augenblick keinen Ärger mit den Eltern mehr leisten. Die Atmosphäre war ohnehin unerträglich.

    Schließlich kam ihre Mutter in die Küche, um Dooneys Arbeit zu kontrollieren. Durch die offene Tür hörte Hermon Geschirr klappern.

    »Wenn du mit dem Gemüse fertig bist, geh nach oben und kleide dich um«, wies ihre Mutter sie an, »zieh das Blaue mit den Perlenknöpfen an.«

    Hermon hasste dieses Kleid, denn sie konnte es nicht ohne Korsett tragen. Doch eine Diskussion war sinnlos. Dooney ging mit ihr, um sie zu schnüren.

    Hermon fuhr sie an: »Verdammt, mach es nicht so eng, wie soll ich sonst etwas essen!«

    »Wenn ich es weiter lasse, Kleid geht nicht zu. Und eine Dame isst in Gesellschaft wie...«

    »Lass deine Sprüche, ich kann sie nicht mehr hören. Es ist vollkommen egal, wie ich aussehe, niemand wird mich beachten, und ich muss niemandem gefallen.«

    »Miss Cathleen und Miss Elisabeth schnüre ich viel enger!«

    »Das ist mir ebenfalls egal!«

    Das Mädchen bekam das Kleid mit einiger Mühe zu und Hermon stampfte wütend mit dem Fuß auf. Sie hatte das Gefühl, nicht atmen zu können. Nur über der Brust war das Kleid zu weit. Dooney schuf Abhilfe, indem sie zwei Tüllbeutel in den Ausschnitt stopfte. Dann bürstete sie ihr die Haare und glättete die Locken.

    Danach verschwand sie lautlos und Hermon ließ sich aufs Bett fallen, aber das Korsett hinderte sie daran, sich zu entspannen. Sie schloss die Augen. Mit der schwindenden Sommerhitze hatten die ständigen Kopfschmerzen etwas nachgelassen, aber der bevorstehende Abend verursachte ihr Magenkrämpfe. Cathy würde gewiss wieder alles tun, um die Aufmerksam des jungen Mannes auf sich zu ziehen. Sie sah in jedem Mann unter dreißig, der sich auf Blicknähe an sie heranwagte, einen potentiellen Heiratskandidaten. Hermon war sicher, wäre der Krieg nicht gekommen, hätte Ella Brinkfield ihre beiden älteren Töchter längst unter die Haube gebracht. Beth war seit über einem Jahr mit Calvin Meland, einem Pflanzersohn aus der Umgebung verlobt. Wegen einer verkrüppelten Hand war ihm der Kriegsdienst erspart geblieben, und er konnte sich um die väterliche Plantage kümmern. Beth würde heiraten, sobald der Krieg zu Ende war, denn sie wünschte sich eine Traumhochzeit mit einem Brautkleid aus Paris.

    Über ihre eigene Zukunft dachte Hermon nur ungern nach. Sie hatte nie mit den Eltern darüber gesprochen. Sicher würden sie irgendeinen Ehemann für sie auftreiben. Das war die einfachste Art, sie loszuwerden. Doch der Gedanke an eine Ehe löste Grauen in ihr aus.

    Was für ein Mann sollte das sein, der sie nahm? Wenn sie darüber nachdachte, was sie sich für die Zukunft wünschte, kam kein Mann darin vor. Sie wollte frei sein, das war alles, was ihr dazu einfiel. Wie diese Freiheit aussehen sollte, wusste sie nicht.

    In der Welt, in der sie aufgewachsen war, wurden Mädchen nun einmal verheiratet. Wer keinen Mann fand und keinen Besitz hatte, musste von Almosen leben. Etwas anderes wusste Hermon nicht. Dienstleistungen wurden bisher von den schwarzen Sklaven erledigt. Was würde werden, wenn die Yankees den Krieg gewannen und ihnen auch die letzten Sklaven wegnahmen?

    Noch in Gedanken hörte Hermon von unten Stimmen und Geräusche. Der Besuch war eingetroffen. Sie musste hinuntergehen, wenn es nicht noch mehr Ärger geben sollte. Sie warf einen kurzen Blick in den Spiegel, aus dem sie dieses kantige Gesicht mit den zornigen grünen Augen ansah, schlüpfte in die Schuhe, raffte die Röcke und schlich die Treppe hinunter. An der Stelle, von der aus man den Salon überblicken konnte, ohne selbst gesehen zu werden, verharrte sie einen Moment. Sie erinnerte sich, diesen langen, dünnen Mann mit der Nickelbrille schon einmal mit ihrem Vater gesehen zu haben.

    Ihre Mutter und Beth unterhielten sich mit einer kleinen, korpulenten, auffallend lebhaft gestikulierenden Dame. Hermon lauschte.

    »Oh, nein, nein, keineswegs, Mrs. Brinkfield, Mister Lincoln ist trotz seiner Einstellung ein sehr sympathischer, wenn auch recht exzentrischer Mensch. Wir sind ihm vor dem Krieg in Washington begegnet. Auch seine Gattin Mary Todd Lincoln ist eine ganz reizende Dame. Damals war es im Gespräch ganz offensichtlich, dass sie der Ideologie des Südens anhing, mehrere Mitglieder ihrer Familie leben schließlich im Süden. Zu Kriegsbeginn gab ihre Einstellung Anlass zu allerhand Klatsch. Man erzählte sich sogar, Präsident Lincoln hätte vor einem Komitee schwören müssen, dass niemand aus seiner Familie Verrat an der Union beabsichtigt. Haben Sie davon gewusst, Mrs. Brinkfield?«

    Was ihre Mutter antwortete, konnte Hermon nicht verstehen. Ihre Aufmerksamkeit galt dem jungen Mädchen, das klein und stämmig ganz nach ihrer Mutter schlug. Ihr gelbes Rüschenkleid wirkte makellos, es musste sorgfältig geschont worden sein. Sie und Cathy steckten die Köpfe zusammen und kicherten, aber Cathys Blick ging ständig an der Pummeligen vorbei in die andere Zimmerecke. Dort stand etwas abseits von den Männern still und unauffällig, in grauer Uniform, einen Arm in der Schlinge, der junge Mann, dem Cathys begehrliche Blicke galten. Er war groß und dünn wie sein Vater und hatte dichtes, dunkelblondes Haar. Als Ella Brinkfield ungeduldig zum Treppenaufgang blickte, setzte Hermon sich notgedrungen in Bewegung.

    »Oh, das ist sicher ihre jüngste Tochter?«, bemerkte die korpulente Dame sofort, als Hermon den Salon betrat, »sie sieht aber ihren Schwestern so gar nicht ähnlich!«

    Hermon hätte sich am liebsten auf der Stelle umgedreht, um wieder nach oben zu verschwinden. Doch man hatte sie bereits gesehen.

    »Unsere Tochter Hermon«, stellte Ella sie mit säuerlicher Miene vor, »Mrs. und Mister Roof, ihre Tochter Henriette und ihr Sohn Phil.«

    Hermon reichte allen die Hand. Mrs. Roof begutachtete sie mit abschätzendem Blick, ihr Gatte nahm sie kaum wahr, und Henriette war völlig mit Cathy beschäftigt. Nur Phil schenkte ihr ein warmes Lächeln, verneigte sich leicht und sagte: »Sehr erfreut, Miss Brinkfield.«

    Mühsam quälte Hermon sich ein kleines Lächeln ab. Sie fühlte sich wie immer überflüssig und völlig fehl am Platz. Zum Glück bat Ella Brinkfield gleich darauf zu Tisch. Ihr blieb die Entscheidung erspart, in welche Ecke sie sich verkriechen sollte und setzte sich auf ihren Platz zwischen Beth und ihrem Vater. Dooney servierte mit einem Knicks das Essen. Die Männer redeten über die Tabakernte. Mrs. Roof und Ella diskutierten das Problem der fehlenden Haussklaven. Phil beteiligte sich nicht an den Gesprächen und auch die Mädchen schwiegen nun. Hermon versuchte, sich mit gesenktem Kopf auf das Essen zu konzentrieren und ein paar Bissen hinunterzuwürgen.

    Sie war froh, als die Mahlzeit zu Ende ging und sich alle erhoben, damit Dooney abräumen konnte. William Brinkfield und Mister Roof zogen sich ins Arbeitszimmer des Hausherrn zurück. Dooney brachte ein Tablett mit Fruchtsaft, und Hermon sah sich nach einem Fluchtweg um. Plötzlich stand Phil Roof vor ihr und reichte ihr lächelnd ein Glas Saft: »Wollen wir uns nicht setzen, Miss Hermon?« Er wies auf das kleine, rote Samtsofa an der Wand gegenüber der Flügeltür unter einem großen, düsteren Ölgemälde. Bevor ihr eine Antwort einfiel, nahm er sie sanft am Arm und führte sie dorthin.

    Hermon versuchte ein einziges Mal tief Luft zu holen, aber es ging nicht, das Korsett presste ihr die Rippen zusammen. Und ehe sie sich versah, saß sie neben Phil auf dem Sofa. Cathy und Beth kamen mit ihren Getränken in der Hand nun ebenfalls herüber, setzten sich in die beiden dazu gehörigen Sessel. Eigenartigerweise gehörte Phils Aufmerksamkeit Hermon, die sich ein Loch wünschte, in das sie verschwinden könnte. Cathy bedachte sie mit einem giftigen Blick, bevor sie sich an Phil wandte: »Was glauben Sie, Phil, wird der Krieg bald zu Ende sein? Ich habe das alles so satt!«

    »Das ist schwer zu sagen, Miss Cathleen, aber ich wünsche mir, dass ich nicht noch einmal auf die Schlachtfelder muss.«

    »Der Krieg macht Ihnen Angst?«, fragte Beth.

    »Der Krieg macht jedem Angst, der ihn erlebt hat! Nur die Maulhelden geben es nicht zu.«

    »Haben Sie in vielen Schlachten gekämpft?«

    »In zu vielen, Miss Elisabeth!«

    »Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als der Krieg begann. Wir feierten gerade meinen sechzehnten Geburtstag, als die Nachricht vom Angriff auf Fort Sumter eintraf. Alles, was Hosen trug, rannte auf der Stelle los, um sich zur Armee zu melden.«

    »Ja... ja, ich weiß. Wir hatten ja alle keine Ahnung. Wir hatten keinen blassen Schimmer, was Krieg wirklich bedeutet. Es ist wahr, wir konnten es gar nicht abwarten, die Yankees endlich zum Teufel zu jagen, ihnen zu zeigen, wie ein Gentleman kämpft. Am Anfang war alles ein großes Abenteuer. Ich diente in der Nord Virginia Armee unter General Lee. Wir haben Richmond erfolgreich verteidigt. Bei Fair Oaks haben wir gesiegt, überlegen. Aber drei Wochen später rückten die Yankees wieder an. Dieser eingebildete Fatzke McClellan hatte den Oberbefehl. Sieben Tage lang stürmten sie gegen uns an, aber wir haben sie immer wieder zurückgeschlagen, haben ihnen Richmond nicht in die Hände fallen lassen. Natürlich gab es Tote und Verwundete, aber wir haben gesiegt. Auch ich hatte eine leichte Verwundung und bekam einen Heimaturlaub genehmigt.«

    Cathy schnaufte ungeduldig und scharrte nervös mit den Füßen. Hermon und Beth hörten Phil gebannt zu. Er fuhr fort: »Dann schickten sie mich nach Pennsylvania. Wir kämpften bei einem Ort namens Gettysburg in Picketts Division. Ein Korps der Yankees verteidigte eine Pfirsichplantage. Sie benutzten die Grenzmauern als Brustwehr. Wir hatten keinerlei Deckung. Es war heiß, die Luft flimmerte und man konnte die Gefahr fast körperlich spüren. Trotz der Mauern gelang es uns, die Yankees zurückzudrängen. Das war am zweiten Tag. Aber am dritten Tag folgte dann die unglaubliche Katastrophe. Plötzlich kamen die Yankees wie die Heuschrecken, und sie rannten alles nieder. Es war ein Gewehrkolben, der mich vermutlich versehentlich traf und niederstreckte. Als ich aufwachte, lagen um mich herum nur Leichen. Jeder Flecken Erde war mit Blut getränkt.«

    Hermon saß stocksteif auf der Sofakante. Sie nahm Phils Worte nicht mehr wahr. Vor ihren Augen stand Gavins Gesicht, sein Lächeln, das in den Gewehrsalven der Yankees erstarb. Das Blut pochte in ihren Schläfen, und sie hatte das Bedürfnis, zu schreien. Mit einer fahrigen Bewegung strich sie sich über die Stirn und stand auf: »Verzeihung, mir ist nicht wohl.«

    Phil unterbrach seinen Redefluss und erhob sich ebenfalls: »Oh, Miss Hermon, das tut mir leid! Ich hätte nicht davon reden sollen! Ich wollte Sie nicht aufregen. Kann ich etwas für Sie tun, Ihnen ein Glas Wasser bringen?«

    »Nein, danke, es geht schon. Ich werde mich einen Augenblick hinlegen.«

    »Miss Hermon...« Doch bevor er weitere Worte fand, war sie ihm entschlüpft und davongehuscht wie ein Schatten.

    »Oh, es tut mir so leid, ich wollte sie nicht erschrecken«, wiederholte Phil und sah ihr bedauernd nach. »Lassen Sie sie, Phil, das hat nichts mit Ihnen zu tun, sie ist immer so überempfindlich!«, Cathy war ebenfalls aufgesprungen, »setzen Sie sich wieder, Phil! Wissen Sie, die ist ewig krank. Aber ich wette, das ist alles nur eingebildet!« Und sie setzte sich mit ihrem koketten Lächeln an seine Seite. Beth hatte inzwischen die Saftgläser nachgefüllt: »Bitte erzählen Sie doch weiter, Phil!«

    »Nun, ich glaube, wir sollten uns einem anderen Thema zuwenden.«

    »Da bin ich ganz Ihrer Meinung, Phil!«, zwitscherte Cathy, »ich kann dieses ewige Gerede über den Krieg schon lange nicht mehr hören!«

    Hermon war froh, als sie in ihrer stillen, dunklen Dachkammer allein war. Die Aufmerksamkeit, die Phil ihr geschenkt hatte, war ihr peinlich gewesen. Das war ihr noch nie passiert. Cathy hatte sicher eine Stinkwut auf sie und das würde sie in den nächsten Tagen ausbaden müssen.

    Zu fortgeschrittener Stunde steckte Dooney ihren Kopf herein: »Miss Hermon, bitte kommen Sie herunter, die Gäste wollen sich verabschieden. Mister Phil möchte Sie noch sprechen.«

    »Das kannst du vergessen, Dooney!«

    »Aber Miss Hermon...«

    »Lass mich um Himmelswillen in Frieden!«

    »Was sollen die Gäste denken, Miss Hermon!«

    »Das ist mir völlig egal! Und jetzt mach mir dieses blöde Korsett auf!«

    Wortlos kam Dooney der Aufforderung nach, bevor sie lautlos verschwand. Hermon zog die Nadeln aus ihrem Haar und schlüpfte in ihr Nachthemd. Sie trat zu dem kleinen Fenster, stützte die Ellenbogen auf die Fensterbank, legte das Kinn in die Hände und sah hinaus in das schwindende Tageslicht. Ein sanfter Wind bewegte die Blätter im Birnbaum. Das Vogelgezwitscher war verstummt. Sie wünschte sich, wie ein Vogel zu sein, wegfliegen zu können in die Freiheit.

    Regen prasselte gegen die Scheibe. Hermon zog ihr ältestes Kleid an. Es war aus dunkelbraunem, völlig verwaschenem Kattun, und an vielen Stellen geflickt. Es hatte einmal Cathy gehört, wie die meisten ihrer Kleider. Bevor sie es bekam, war es mit weißer Spitze verziert, die Dooney abtrennen musste. Hermon erinnerte sich an ein Gespräch, das sie einmal belauscht hatte. Auf die Frage einer Bekannten, warum ihr jüngstes Kind stets so schmucklose Kleider trüge, hatte ihre Mutter erklärt, dass dieses Kind, wenn es wütend war, Rüschen und Spitzen von den Kleidern riss. Es war eine Lüge, sie hatte das niemals getan.  

    Als Dooney die Rüschen in den Abfall warf, hatte Hermon sie wieder herausgezogen und die Stoffstreifen in die Seitennähte gesetzt. Nun war es so weit und bequem, wie sie es liebte. Immer, wenn der Stoff sich an einer anderen Stelle durchscheuerte, setzte sie mit feinen Stichen einen Flicken ein. Und da es vorn eine Knopfleiste hatte, konnte sie es ohne Dooneys Hilfe anziehen. Auch den Zopf steckte sie sich heute selbst auf. Die kleinen, widerspenstigen Locken ließ sie in die Stirn springen. Sie kam als letzte zum Frühstückstisch und erntete vernichtende Blicke.

    »Setz dich hin, Tochter!«, herrschte der Vater sie an. Hermon hasste es, wenn er sie so nannte. Sie setzte sich auf die Stuhlkante und senkte den Kopf über ihren Teller. Die Blicke der Mutter brannten auf ihrer Haut. Und die erwartete Strafpredigt des Vaters folgte: »Musst du immer diesen abscheulichen Sack anziehen? Du siehst aus wie ein Dienstmädchen. Aber es scheint dir ja Spaß zu machen, uns zu blamieren. Ich könnte mir sparen, dir zu sagen, dass du dich gestern wieder unmöglich benommen hast. Ständig muss deine Mutter dich bei den Leuten entschuldigen. Ich frage mich, wie du mit deinem ewigen Gejammer durchs Leben kommen willst! Kein Mann hält so etwas auf die Dauer aus. Mit deinen ständigen Zuständen wirst du uns wohl bis ans Ende aller Tage auf der Tasche liegen!«

    Ihr seid es, die mich krank machen! Aber sie zog es vor, zu schweigen.

    William Brinkfield war ein schneller Esser. Er schob den Teller zur Seite, griff nach der Zeitung, die an seinem Platz lag und schlug sie auf. Ella wandte sich ihrer ältesten Tochter zu: »Wirst du mich heute Mittag zum Handarbeitskreis bei Mrs. Leatherwin begleiten?«

    »Muss das sein, Mama?«, entgegnete Beth, die mit den Stricknadeln auf Kriegsfuß stand.

    »Ja, Elisabeth, ich wünsche, dass du mitkommst!«, sagte sie nachdrücklich, »wir müssen die Socken für unsere Soldaten fertig bekommen, bevor der Winter hereinbricht. Was denkt man von mir, wenn ich immer allein komme!«

    »Meine sind für Calvin und da er nicht bei der Armee ist, genügt es, wenn sie zu Weihnachten fertig sind.«

    »Stell dir vor, Mrs. Linley Dorn wird da sein! Du erinnerst dich? Sie ist eine Cousine von Präsident Jefferson!«

    William Brinkfield schüttelte den Kopf und raschelte mit der Zeitung: »Es ist unfassbar! Die Yankees haben drüben in Missouri bei Westport die Truppen von Sterling Price besiegt! Westlich vom Mississippi werden unsere Grauröcke nicht mehr viel ausrichten können!«

    Er stand mit einer heftigen Bewegung auf und warf die Zeitung auf den Tisch. »Ich muss los! Habe unten am Shokoe Bottom eine Verabredung mit Jim Fisk.«

    Ella war aufgestanden und reichte ihrem Gatten Hut und Jacke »Will, bitte nimm dich in Acht vor diesem Mann, er hat keinen guten Ruf! Nicht dass er dich in irgendetwas hineinzieht!«

    »Er hat Beziehungen, Ella, ohne Beziehungen geht zurzeit gar nichts mehr.«

    Er küsste seine Gattin flüchtig auf die Stirn und ging. Ella sah ihm besorgt nach. Sie war stets unruhig, wenn er zum Hafen ging, denn dort trieb sich das schlimmste Gesindel herum. Die Hafengegend war selbst zu Friedenszeiten nicht ungefährlich gewesen. Jetzt war sie der reinste Sündenpfuhl. Hochzeit für Diebe, Gauner, Betrüger und Huren. Dass ihre jüngste Tochter manchmal ganz allein dort hinunterging, wusste Ella nicht.

    An diesem Morgen musste Hermon zu Hause bleiben, da es noch immer in Strömen goss. Also verdrückte sie sich in die Wäschekammer und verbrachte die Zeit mit Bügeln. Dort war sie ungestört und wurde von niemandem behelligt. Nur Dooney kam ab und zu herein, um das Eisen mit frischen glühenden Kohlen zu füllen.

    Nach dem Essen wurde eine Stunde Mittagsruhe gehalten, und danach verließ Ella mit Cathy und Beth das Haus. Der Regen hatte inzwischen etwas nachgelassen, trotzdem zog Ella es vor, mit der Kutsche zu fahren. Beth hatte notgedrungen gelernt, den alten Gaul einzuspannen, nachdem sich auch der Stallknecht aus dem Staub gemacht hatte.

    Hermon war froh darüber, sich eine Weile frei im Haus bewegen zu können. Sie ging herum und suchte nach den Bildern der wenigen glücklichen Erinnerungen. Es gab nicht viele.

    Sie war in diesem Haus am Church Hill geboren. Es war ein großes Haus mit einem einst wunderschönen Garten, in dem im Schatten hoher Bäume noch immer die Baracke stand, in der früher ein Teil der Sklaven gewohnt hatte. Jetzt war sie leer und verschlossen, ebenso wie der Anbau am hinteren Teil des Hauses, in dem die schwarzen Hausmädchen untergebracht waren. Auch Dooney wohnte nicht mehr dort. Sie hauste in einem winzigen Raum neben der Wäschekammer. Als Kind hatte Hermon sich oft bei ihnen aufgehalten, denn die Schwarzen hatten das kleine, traurige Mädchen geliebt. Als sie über Nacht verschwanden, war Hermon todunglücklich gewesen. Ella Brinkfield hatte getobt und für Augenblicke ihre ganze Erziehung vergessen, als sie die Flucht entdeckte, denn nun musste sie notgedrungen zum ersten Mal im Leben selbst mitzupacken, da Dooney auch nur zwei Hände hatte. Einen Teil ihrer Wut hatte sie an Hermon ausgelassen.

    Hermon erinnerte sich sehr genau an diesen Tag. Sie hatte den Nachmittag auf der Farm der Bennetts verbracht und war stolz auf ihre neue rosa Haarschleife gewesen, ein Geschenk von Mel. Im Treppenhaus lief sie Cathy in die Quere, die sich sofort darüber lustig gemacht hatte.

    »Wie albern siehst du denn aus mit dieser affigen Schleife!«, hatte sie gepöbelt, ihr die Schleife vom Kopf gerissen und darauf herumgetrampelt. Hermon hatte sich auf sie gestürzt und ihr ein ganzes Büschel Haare ausgerissen. Cathys Geschrei gellte durchs ganze Haus: »Du Schlampe! Du Miststück... du... du Bastard!«

    In diesem Moment war die Mutter auf der Treppe erschienen und eingeschritten: »Was ist hier los! Cathy, warum schreist du so?«

    »Die Kuh hat mir meine Haare ausgerissen!«

    Ella hatte ihre Jüngste am Arm gepackt, und Hermon war aufgefallen, dass alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen war. »Du gehst sofort auf dein Zimmer, Hermon und du, Cathy, nimmst dieses Wort nie mehr in den Mund!«

    Cathy verschwand wortlos, Hermon riss sich wütend los und schrie ihre Mutter an: »Wieso nennt sie mich einen Bastard! Was hat das zu bedeuten?«

    In diesem Moment erschien William Brinkfield, der den Streit gehört hatte, am Treppenabsatz. »Sag es ihr, Ella!«, befahl er mit kalter Stimme, »sie ist alt genug, sie soll es wissen!« Ella starrte Hermon an und wurde noch einen Ton bleicher, dann flüsterte sie mit tonloser Stimme: »Du bist nicht

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