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Hier unten leuchten wir: Vier Wuppertaler Erzählungen
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eBook163 Seiten1 Stunde

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Über dieses E-Book

In "Westkotten" geht der Autor den Spuren des 1942 in der Ukraine gefallenen jungen Soldaten Willi Otto nach, großer Bruder seines Vaters. Davon, wie seine Mutter Ilse den Bombenangriff auf Barmen 1943 erlebte, liest man in "Ilse und die anderen".
Ilse war Patientin bei einem in der Stadt beliebten jüdischen HNO-Arzt, von dessen Schicksal "Rappoport" erzählt. Die merkwürdige Beziehung einer weiteren Patientin Dr. Rappoports zu ihrem Patenonkel, dem NS-Außenminister Joachim von Ribbentrop, schildert "Brickendrop und das Patenkind".

Vier Erzählungen, zunächst einzeln als "Besondere Hefte" im NordPark-Verlag erschienen, hier in einem Buch vereint. Vier Erzählungen aus dem Barmen der 30er und 40er Jahre "des aufwühlenden, in der großen Welt ereignisreichen
20. Jahrhunderts, aus deren Barmer Mikrokosmos Otto seine Geschichten schöpft - sorgfältig recherchierte Familiengeschichten, die belegen, wie die Dramatik des Weltgeschehens auch in die Schicksale einzelner oder ganzer Familien Eingang findet. Sie zeigen aber auch den letzten möglichen Rückzugspunkt im großen Getriebe, das Selbst."
Frank Becker, Musenblätter
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum22. Jan. 2024
ISBN9783758391941
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Autor

Hans Werner Otto

Hans Werner Otto, geboren 1954 in Wuppertal-Elberfeld.

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    Buchvorschau

    Hier unten leuchten wir - Hans Werner Otto

    Hans Werner Otto, geboren 1954 in Wuppertal-Elberfeld.

    Im NordPark Verlag erschienen folgende Titel:

    Mit dem Kofferradio in der Mählersbeck, 2001

    Westkotten oder: Hitler ist kein feiner Mann, 2006

    Rappoport oder: Hier unten leuchten wir, 2007

    Winde lassen, Wünsche werfen. 2009

    Gott wird uns schon nicht kriegen. 2010

    Brickendrop und das Patenkind. 2011

    Rotter Blüte, 2020

    Inhaltsverzeichnis

    Westkotten

    Ilse und die anderen

    Rappoport

    Brickendrop und das Patenkind

    Nachwort

    Westkotten

    Westkotten

    1

    Westkotter Straße in Barmen. Meine Oma wohnte zwei Etagen über der Gaststätte Holtschmidt, einer Kneipe mit grünem, nach Zigarrenrauch stinkendem Eingangsvorhang, einer Ausschankklappe, die vom Treppenhaus erreichbar war, so dass man sich gezapftes Bier abfüllen lassen konnte, ohne die Kneipe überhaupt betreten zu müssen. Da das Klo der Kneipe allerdings auch vom Hausflur begehbar und ständig zugänglich sein musste, führte mein Weg zu meiner Oma immer durch eine Geruchsschleuse von Urin, Bier und Zigarren, manchmal hielt ich den Atem an und sprang schnell die drei halben Treppen hoch, wo dann allerdings wieder ein Klo war, das sich meine Oma mit zwei anderen Mietparteien teilen musste, und auch das hatte seine Gerüche. Noch eine halbe Treppe, dann durch einen langen, dunklen Flur.

    Wenn aber an dessen Ende die Tür geöffnet wurde, roch es oft, nur für mich, nach Schellfisch mit Senfsoße und Kartoffelpüree.

    Beim Essen fühlte ich dann den Blick der Oma auf mir ruhen. Als ich sie ansah, lächelte sie. »Wie unser Willi«, sagte sie; das hatte sie schon ein paar Mal zu meinem Vater gesagt und mir dabei über den Kopf gestrichen. Es sollte mir noch häufiger so gehen. Unsere Generation lieferte wieder neues Material, in dem nach der Unzahl fehlender Gesichter Ausschau gehalten werden konnte.

    Ich war zehn Jahre alt und kehrte mit einer Lungenentzündung aus dem Zeltlager zurück. Zelte ohne Boden, wir hatten in unseren Schlafsäcken auf feuchtem Stroh gelegen, so richtig warm wars nachts nur am Lagerfeuer gewesen, wenn man Wache hatte und heißen Tee trank.

    Meine Oma wusste, was zu tun war. Sie hatte etwa dreißig Jahre zuvor die Lungenentzündung ihrer Tochter Leni mit einem Sud aus Zwiebeln, Kandiszucker und Brombeerblättern behandelt, dazu Kalium chloratum und Ferrum phosphoricum aus der Homöopathie, was der Hausarzt ihr verboten hatte, und so hatte sie es der Tochter heimlich verabreicht, hinter dem Rücken des wohlmeinenden und gestrengen Doktors, der aber dann zwei Tage später die Genesung feststellte und von einem Wunder sprach. Jetzt trank ich zweimal täglich das Gebräu und schluckte die Homöopathie, lag den ganzen Tag über in dem großen, hohen Ehebett der Großeltern, dessen eine Hälfte seit dem Januar 1944 unbenutzt war, zumindest von meinem Großvater, denn das war das Datum seines letzten Heimaturlaubs gewesen; und wenn ich über das mächtige Plumeau guckte, sah ich am Fußende auf Messingstangen mit glänzenden Knäufen, dazwischen ein besticktes, immer schneeweißes, gestärktes Gardinchen. Über mir hing das Bild einer düsteren Landschaft mit ängstlichen Menschen und strahlend hellem Schutzengel, rechts das Fenster, aus dem meine Oma geschaut hatte, damals, als man laut ihren Namen rief, und sie hatte ihre Tochter Leni gesehen, damals, von einem Auto erfasst, ihre fünfjährige Tochter, damals, Leni, die doch immer so viel gelacht hatte, damals.

    Im Schlafzimmer war kein Kohleofen, den gabs nur in der Küche, hier wurde gekocht und das Wohnzimmer, ein schmaler Schlauch von Raum, mitgeheizt. Und so wurden hier, in diesem immer kalten Schlafzimmer, das meine Oma »Eiskeller« nannte, nicht nur in Ermangelung eines Kühlschrankes die Lebensmittel gelagert, sondern auch alles andere an Hausrat, das keinen Platz mehr fand in den kleinen Schränkchen, die gerade noch in Küche oder Wohnzimmer passten. Mein Blick aus dem warmen Bett im kalten Zimmer strich über die Regale, die Kisten und Kartons auf der Suche nach Lesbarem, fand dann Alben mit Zigarettenbildchen, eine Kinderbibel, in der die Illustrationen von Hand mit Farbstiften koloriert worden waren, und ein Lesebuch. Mit Tinte, in schlanken Buchstaben sauber eingetragen stand ein Name im Innendeckel: Es hatte meinem Vater gehört.

    Ich musste mich an die Frakturschrift gewöhnen, stolperte über aufrechte Runen in schartige Gräben, aber bald fand ich mich zurecht und las. Die Heinzelmännchen zu Köln. Anekdoten vom Alten Fritz. Die Geschichte vom Hasenbrot, das der Vater abends mit nach Hause bringt, weil er es am Tage nicht gegessen hat, und das besonders gut schmeckt, gerade weil es etwas trocken ist. Holzschnitte: stählerne Oberkörper, darauf gescheitelte Köpfe mit zuversichtlichen Augen darin. Hitler als Kreuzritter, die Fahne haltend. Ein Arbeiter mit Spaten, darunter ein rätselhaftes Hitler-Zitat: »Ich kenne nur einen Adel: den Adel der Arbeit.«

    Ich war zehn Jahre alt und kannte überhaupt keinen Adel. Es konnte vielleicht irgend etwas mit Rittern zu tun haben, aber ganz bestimmt nicht mit Arbeitern. Dieser Hitler musste da was verwechselt haben.

    Er war ja auch schuld am Krieg gewesen. Wegen Hitler war die Betthälfte, in der ich lag, seit 1944 nicht mehr regelmäßig benutzt worden. Wegen Hitler hatte ich keinen Großvater.

    Sein Bild hing in Omas Küche über dem schmalen, wackligen Tisch. Mein Großvater in Uniform, ein ernstes Gesicht, das nie zu mir lächelte, nie, wenn ich mich auch noch so bemühte, konnte ich mir in diesem Gesicht ein Lächeln vorstellen.

    Auf dem anderen Foto sein ältester Sohn Willi. Lenis großer Bruder, Paulas großer Bruder, Gerdas großer Bruder, Horsts großer Bruder. Der große Bruder von Hans, meinem Vater.

    Er steht in einer sich bis zum wolkenlosen Horizont erstreckenden Ebene, die Uniformjacke am Hals geöffnet, ohne Mütze, die linke Hand in der Tasche. Weit hinter ihm noch ein paar vereinzelte Soldaten. Und er lächelt. Ein wenig. Vielleicht kneift er auch nur die Augen zusammen, weil die Sonne scheint. 1942 in der Ukraine aufgenommen, kurz vor dem Kopfschuss, damals.

    Gestorben zwei Jahre vor seinem Vater. Ich schaffte es nicht, mir in diesem lächelnden Kopf ein Loch vorzustellen.

    Als ich mit dem Lesebuch durch war, fing ich mit der Bibel an. Die Lungenentzündung heilte rasch aus.

    2

    Später, viel später fällt mir ein Foto in die Hand, auf dem mein Großvater, dieser ernste Mann, doch lächelt. Ein Foto von 1938, da ist er vierzig Jahre alt. Er hat den Ersten Weltkrieg mitgemacht, nur kurz, aber für eine Verwundung, Granatsplitter, hats gereicht. Er hat in seinem Beruf, Maurer, gearbeitet, er hat eine große Familie gegründet. Jetzt hat er noch ein knappes Jahr der Zeit zwischen den Kriegen, im nächsten November wird er wieder eingezogen werden. Und seine Familie wird ihn dann nur noch ein paar wenige Male kurz zu Gesicht bekommen. Er wird vom Tod seines Ältesten erfahren. So als wüsste er das schon, lächelt er mit einer Trauer darin, die Mundwinkel sind eigentlich gar nicht angehoben. Natürlich weiß er das noch nicht, die Trauer reicht nicht in die Zukunft, sie reicht aus der Vergangenheit herein in das Foto. Leni war ja gestorben, Leni hatte immer so viel gelacht, damals. Nur noch vier Kinder lebten jetzt in diesen winzigen Räumen, in zwei Jahren aber würde noch eines hinzukommen, entstanden während des Heimaturlaubs. Würde es ihn trösten, wüsste er das schon?

    Da ist auch eine Zufriedenheit in seinen großen Augen. Er sieht nicht so aus, als würde er bald aufstehen, eine Zigarre in seiner Hand schwebt über dem Aschenbecher. Er trägt eine Strickjacke, er ist zu Hause. Man ist schnell zufrieden in der winzigen Wohnung meiner Oma, man ist bescheiden, stellt keine Ansprüche, setzt sich nicht dem Verdacht der Anmaßung aus, Gott wird es richten, Gott hat es gut eingerichtet. Am Tisch noch zwei Personen, hinter den dreien ein Stück Weihnachtsbaum, mit viel Lametta geschmückt. Auf dem Tisch eine Flasche Wein und zwei Gläser.

    Der da neben meinem Opa sitzt, ist mein Vater als Achtjähriger, für ihn gibts kein Weinglas, auch er lächelt mit geschlossenem Mund in die Kamera, aber er strahlt geradezu – wenn man sein Lächeln mit dem seines Vaters vergleichen möchte – und hat sich nur für den Moment des Fotos zwischen die beiden gesetzt, wird gleich aufstehen und sich vielleicht in seinem Lesebuch noch mal die Geschichte vom Hasenbrot ansehen.

    Der dritten Person sieht man an, dass sie hier nicht zu Hause ist, in dieser kleinen Wohnung in der Westkotter Straße. Ein Jugendlicher mit Schlips, weißem Hemd, Weste und Jackett, und er scheint nicht bequem zu sitzen. Auch er lächelt mit geschlossenem Mund, aber die Augen sind nicht so weit geöffnet wie bei Vater und Sohn, so dass dieses Lächeln etwas von einem Grinsen erhält. Das ist Karl, Willis bester Freund. Und er lächelt nicht in die Kamera, sondern grinst zur Weinflasche hinüber. Weihnachten 1938. Karl ist sechzehn, er ist gerade mal vorbeigekommen, wie so häufig, und Willi hat das Foto gemacht. Oder haben wir schon den zweiten Januar, da steht ja der Weihnachtsbaum noch, und Willi feiert seinen achtzehnten Geburtstag? Er trinkt ein Glas Wein mit dem Vater und dem Freund, sie reden über Sport, die berufliche Zukunft, vielleicht auch über Österreich und das Sudetenland? Für meinen Vater ist das langweilig, er ist acht Jahre alt, setzt sich fürs Foto kurz dazu und verschwindet gleich wieder.

    Willi und Karl. Der Volksschüler und der Gymnasiast. Eine ungewöhnliche Freundschaft, damals, als man noch unter sich blieb. Aber so sehr verschieden waren die beiden Welten nicht: Karls Vater hatte nichts als ein kleines Pferdefuhrwerk, gehörte also gar nicht zur vornehmen Gesellschaft. Karl ist als erster Gymnasiast der Familie der Stolz seiner Eltern und der Zwillingsschwester. Die Zukunft hat er schon geplant, und zwar mit Willi: Karl will nach dem Abitur studieren, Architektur. Inzwischen macht Willi die Maurerlehre, will danach die Fachschule für Bauwesen besuchen, den Bauingenieur machen. Und dann ein gemeinsames Architekturbüro, Karl & Willi. So weit die Pläne.

    Zunächst läuft auch alles nach Plan. Willi wird Maurerlehrling bei der Firma Fritz, wo sein Vater Wilhelm mittlerweile Polier geworden ist. Die bessere Bezahlung macht sich in der Wohnung bemerkbar: jetzt gibt es elektrisches Licht, jeweils einen Lampenanschluss und eine Steckdose in Küche und Wohnzimmer, nur im Schlafzimmer zischt immer noch bläuliches Gaslicht. Vater

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