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Das Hanfseil: Roman
Das Hanfseil: Roman
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eBook496 Seiten6 Stunden

Das Hanfseil: Roman

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Über dieses E-Book

Deutschland, 1938-1957.
Georg hasst die Nazis und glüht für die Medizin. Doch der Zweite Weltkrieg wirbelt seine Träume durcheinander; ein Stück Hanfseil und die Briefe seiner großen Liebe Anna retten ihm das Leben.

Nach dem Krieg muss er seine beiden Herzensträume begraben: Das Medizinstudium wird ihm verwehrt und Anna lehnt seinen Heiratsantrag ab. Durch die Heirat mit der patenten Lily scheint sich alles zu fügen. Doch die Beziehung zu Anna geht weiter. Seine Flucht mit Lily von Ost nach West macht alles nur noch schlimmer. Wie entscheiden sich Georg, Anna und Lily?

Und wer ist der unbekannte Zuhörer von Antonia im Westen Deutschlands? Die verträumte, junge Krankenschwester wünscht sich in der gesellschaftlichen Enge der 50er Jahre vor allem eines: Unabhängigkeit.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum7. Juni 2023
ISBN9783757840556
Das Hanfseil: Roman
Autor

Bea Quilitzsch

Bea Quilitzsch geboren 1957, ist Agrarwissenschaftlerin, Journalistin und PR-Beraterin. Seit vielen Jahre arbeitet sie in der internationalen Entwicklungszusammen-arbeit. Nebenbei schreibt sie Reportagen und Geschichten, am liebsten über Frauen. Sie ist Herausgeberin einer Anthologie und lebt mit ihrem Mann und ihrer Hündin in einer mittel-hessischen Schloss-Stadt. Das Hanfseil ist ihr erster Roman.

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    Buchvorschau

    Das Hanfseil - Bea Quilitzsch

    Für Svenja und Janina.

    Für Hannelore.

    Für meinen Vater.

    „Nicht das Lippenbekenntnis, nur das Leben und Handeln adelt und erhebt."

    Clara Zetkin

    Inhaltsverzeichnis

    Vorbemerkung

    Erster Teil

    Kapitel 1 1938

    Kapitel 2 1938 – einen Tag später

    Kapitel 3 1939

    Kapitel 4 Antonia

    Kapitel 5 1940

    Kapitel 6 Antonia

    Kapitel 7 1941

    Kapitel 8 Antonia

    Kapitel 9 Sommer 1941

    Kapitel 10 September 1941

    Kapitel 11 1942/43

    Kapitel 12 Antonia

    Kapitel 13 November 1943

    Kapitel 14 Dezember 1943

    Kapitel 15 Weihnachten 1943

    Kapitel 16 1944

    Kapitel 17 1945

    Kapitel 18 Antonia

    Zweiter Teil

    Kapitel 19 August 1947

    Kapitel 20 September 1947

    Kapitel 21 Oktober 1947

    Kapitel 22 Antonia

    Kapitel 23 November/Dezember 1947

    Kapitel 24 1948

    Kapitel 25 1949-1950

    Kapitel 26 Antonia

    Kapitel 27 1954 – 1955

    Kapitel 28 Antonia

    Kapitel 29 Sommer 1955

    Kapitel 30 Herbst 1955

    Kapitel 31 Antonia

    Kapitel 32 Weihnachten 1955 – Ostern 1956

    Kapitel 33 Herbst 1956

    Kapitel 34 Spätherbst 1956

    Kapitel 35 Antonia

    Kapitel 36 Dezember 1956

    Kapitel 37 Antonia

    Kapitel 38 April 1957

    Epilog

    Dank

    Vorbemerkung

    Dieser Roman ist angelehnt an eine Familiengeschichte und doch frei erfunden. Zwar haben einige der Figuren das eine oder andere biographische Detail von einem der Vorbilder der Geschichte übernommen, doch bleiben sie künstliche Charaktere. Denn die Gefühlswelt, alle Dialoge und intimen Szenen, die Handlungen der Protagonisten und weiterer Figuren sind die absolute Erfindung der Autorin.

    Jede darüber hinausgehende Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.

    Hingegen sind fast alle Briefe sowie sämtliche Bescheide und Zeugnisse Originaldokumente. Tagebuchnotizen und Fotos eines Vorbilds der Geschichte dienten sowohl der Inspiration als auch der Authentizität des Romans.

    Erster Teil

    1938 bis 1946

    Kapitel 1 1938

    „Du bist ein asoziales Schwein, Georg! Wie konntest du einfach so verschwinden?" Max schnauzte ihn zu Hause im Wohnzimmer an, als wäre er der Lagerleiter persönlich.

    „Hast du gar kein Pflichtgefühl? Der Arbeitsdienst ist ein Ehrendienst am deutschen Volke!" Sein Bruder brüllte fast.

    „Ich beteilige mich nicht an jedem Quatsch und in der Partei bin ich auch nicht. Warum schreist du so, du Nazi-Verehrer?" Georg hatte seine Arme unter der Brust verschränkt und schaute seinen Bruder herausfordernd an.

    „Du kommst in Teufels Küche, weißt du das?", fuhr Max ihn noch aufgebrachter und umso lauter an.

    „Mein Gott, Junge, hoffentlich bekommst du keine Schwierigkeiten." Georgs Mutter stellte das Essen auf den Tisch und schüttelte den Kopf.

    „Und dann wegen mir! Ich wäre doch an einem anderen Tag wiedergekommen", sie schien ehrlich besorgt, besonders nachdem Max sich so aufgeregt hatte.

    Es war Herbst 1938 und genau drei Stunden her, dass Georg seine vierundzwanzigstündige Strafe wegen einer fehlenden Zwecke am Stiefel abgeleistet hatte. Und danach abgehauen war.

    Georg war neunzehn, ein gutaussehender junger Mann, mittelgroß und schlank. Er hatte dichtes dunkles, nahezu schwarzes Haar, das er aus der Stirn kämmte, graublaue Augen und einen fast sinnlichen Mund. Erst seit drei Monaten war er Krankenpfleger beim Reichsarbeitsdienst und jetzt dieser Mist!

    Er hatte versucht, unauffällig zu bleiben und die Zeit hinter sich zu bringen, denn er hasste alles Militärische, alles Braune und jeglichen Zwang.

    Drei Monate lang hatte er Glück gehabt, dann setzte es eine Strafe, denn es fehlte die berühmte eiserne Zwecke auf der Sohle des Stiefels. Zum zweiten Mal.

    Georg wurde dazu verurteilt, sich von neun Uhr morgens an alle zwanzig Minuten in einem neuen Dienstanzug beim Wachhabenden zu melden. Sämtliche Kleidungsstücke, die er zwischen den Meldungen auszog, musste er peinlichst genau zusammenfalten und ebenso korrekt in den Spind räumen. Der Vorgesetzte hatte dies jedes Mal akribisch zu kontrollieren. Der ganze Spuk dauerte vierundzwanzig Stunden.

    „Ich versteh ja so manches, selbst diese Strafe. Aber ausgerechnet vorgestern, am Sonntag, kam Mutter zu Besuch! Die Kerle haben sie gezwungen, sich den Maskenball, wie sie diese Bestrafung nennen, mit anzusehen! Und zwar ohne, dass sie auch nur ein einziges Wort mit mir wechseln durfte! Kannst du dir das überhaupt vorstellen in deiner Führer-Verehrung?" Mutter schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund.

    „Der Arbeitsdienst ist kein Ferienlager! Verstehst du das? Er ist deine verdammte Pflicht! Wenn du dich nicht an die Regeln hältst, musst du mit den Konsequenzen leben", schnauzte Max, er wurde rot im Gesicht.

    „Du hättest sie sehen sollen, wie sie da auf dem Besucherstuhl saß! In ihrem geblümten Sommerkleid, das sie sonst nur zu Festtagen trägt! Georg sprach mit betont leiser Stimme. „Es war ganz so, als wollten sie Mutter gleich mitbestrafen! Er seufzte. „Rechtes Pack!" Mit seiner Beherrschung war es langsam vorbei.

    „Georg, reiß dich zusammen!", Max brüllte erneut. Georg blickte in sein wutverzerrtes Gesicht. Er sah sie vor sich, seine Mutter, wie sie den Hut auf dem Schoß knetete, die hochgesteckten blonden Haare waren plattgedrückt wie der Hut. In regelmäßigen Abständen hatte sie betrübt den Kopf geschüttelt. Er hatte sich geschämt und weitergemacht: Umziehen, Kleidung zusammenfalten, einräumen, Meldung beim Wachhabenden und wieder von vorne. Was sollte er sonst tun?

    Nach zwei Stunden war die Mutter aufgestanden, hatte ihm kaum merklich zugenickt und war zurück in die Stadt gefahren. Sie musste wesentlich stolzer auf ihren erstgeborenen Sohn sein, der immer alles perfekt hinbekam. Er selbst bekam ständig Schwierigkeiten und einen präsentablen Eindruck hatte er seiner Mutter bei diesem Besuch definitiv nicht vermitteln können.

    „Ich hoffe, dein Benehmen bringt mich in der Partei nicht in die Bredouille!", blaffte Max jetzt.

    „Sonst hast du keine Probleme? Die Partei! Öffnet der Karriere Tür und Tor, was?"

    „Jungs, jetzt hört doch auf!" Mutters gütige graue Augen weiteten sich.

    „Ich hab die vierundzwanzig Stunden durchgestanden, Mutter! Keine Bange. Aber jetzt ist es mit meinem Verständnis für den Arbeitsdienst vorbei! Mir war von vornherein klar gewesen, dass das schiefgehen musste! Ich habe pflichtgemäß meine Strafe abgeleistet, danach bin ich aus der Stube, hab mein Fahrrad geschnappt und hab mich auf den Heimweg nach Bitterfeld gemacht!

    Und es reicht jetzt mit deinen Ermahnungen, Max!"

    Der Bruder öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, sah seine Mutter an und schloss die Lippen zu einem schmalen Strich. Offenbar schien er es vorzuziehen zu schweigen. Seine Miene sprach Bände.

    Breitbeinig und herausfordernd stand Georg im Wohnzimmer und begegnete diesem eiskalten und verachtenden Blick so selbstbewusst wie möglich. Er war sich des Ärgers gegenwärtig, der kommen würde wie das Amen in der Kirche. Max war ein Sinnbild dafür.

    Doch er fühlte den Stolz in sich. Es war der Stolz darauf, eine weiße Armbinde mit dem Roten Kreuz tragen zu dürfen, statt wie sein Bruder die rote SA-Binde mit dem schwarzen Hakenkreuz. Georg war bereit, seinen Kampf gegen diesen ganzen Unsinn auszufechten, die Lagerleiter eingeschlossen. Aber er hatte keine Lust, dieses parteigeschwängerte Gewitter seines vier Jahre älteren Bruders länger über sich ergehen zu lassen.

    Er wippte mit den Füßen, sodass seine Stiefel auf dem Parkett knirschten. „Was gibt´s zu essen?", fragte er in die plötzliche Stille.

    „Ich scheine geahnt zu haben, dass du kommst", seufzte seine Mutter und nahm die Deckel von den beiden weißen Porzellanschüsseln. In der ersten verbargen sich Königsberger Klopse, in der zweiten Salzkartoffeln. Georg strahlte aus unschuldig blickenden Augen, denn Hedwig hatte sein Lieblingsgericht gekocht.

    Während er Minuten später genüsslich das Fleisch aus der Soße mit den Kapern fischte, wanderten seine Gedanken an den Beginn seines Arbeitsdienstes zurück. Er grinste, denn er erinnerte sich an das Glücksgefühl, das er empfunden hatte, als man ihn statt in eine militärische Einheit zur Ausbildung in die Krankenpflegeschule der Universitätsklinik in Halle abkommandierte. Denn, so sehr er den militärischen Drill verabscheute, so sehr liebte er die Medizin.

    „Warum grinst du so dämlich?", fragte Max mit unbeherrschter Stimme. Er sprach also doch.

    „Ach, nichts, ich denke nur nach! Die Gedanken sind frei, Max!"

    Max antwortete nicht mehr. Mutter schwieg ebenfalls und aß. Georg spießte ein Fleischbällchen auf und blickte durch das Fenster in den Innenhof. Aber er sah den kleinen Park nicht, auf den er sonst so stolz war. Er dachte an die Lagerführer und den sinnlosen Drill. Es wurde nicht gesprochen, sondern gebrüllt. Über den Lagerhof rannte man grundsätzlich. Ob zur Toilettenbaracke oder zur Küche, alles rannte. Wer es sich erlaubte, zu gehen, wurde bestraft. Auf der Schuhsohle durfte kein einziger der zweiunddreißig eisernen Beschläge fehlen. Wie er erlebt hatte, war dies eine weitere zu bestrafende Verfehlung. Geschlafen wurde auf Strohsäcken. Selbst Georg hatte gelernt, mit dem Spaten so zu hantieren als wäre er ein Gewehr.

    Gott sei Dank lautete sein Hauptauftrag, eine sogenannte Heilstube zu betreuen. Die Lagerführer befahlen ihm, die Quote von drei Prozent Krankenstand nicht zu überschreiten. Passend stand an der Wand seines Ambulanzraumes in großen schwarzen Lettern geschrieben: Lerne leiden, ohne zu klagen. Georg schüttelte den Kopf über diesen unsinnigen Satz. Doch sein jetziges Problem war wesentlich gravierender. Er war getürmt.

    ---

    Trotz aller Bitten seiner Mutter und der Ermahnungen seines Bruders, die nach dem Mittagessen regelrecht auf ihn herab prasselten, blieb Georg stur. Er weigerte sich strikt, reumütig nach Eilenburg zurück zu radeln, wie Max das von ihm verlangte. Folgerichtig erschien am nächsten Tag ein Unterführer in der Halleschen Straße in Bitterfeld und holte Georg wieder ab.

    Im Lager gab es ein kurzes Verhör.

    „Mein Rechtsempfinden ist völlig normal, ich bin doch freiwillig hier", erklärte Georg dem Lagerführer äußerlich seelenruhig. Er tat zumindest so, als wisse er nicht, worüber sich sein Vorgesetzter so aufregte.

    „Ich habe nie irgendeinen Eid geschworen, und in der Partei bin ich auch nicht!" Der Vorgesetzte bekam jetzt ein dunkelrotes Gesicht und schien fast überzukochen vor Wut.

    „Deinen Eigensinn werden wir dir schon noch austreiben!", brüllte er ihn an und kam ihm mit seiner Fratze so nahe, dass sich ihre Nasen fast berührten. Georg sagte nichts mehr. Zwei bullige Unterführer marschierten zur Tür herein, grüßten, schlugen die Hacken zusammen.

    „Weg mit diesem subversiven Objekt", hörte Georg noch und wurde abgeführt. Er bekam eine Haftstrafe wegen unerlaubten Entfernens vom Arbeitsdienst. Unversehens befand er sich in einer dunklen Zelle ohne Fenster und ohne Bett. Tagsüber war es ihm nicht erlaubt, sich hinzusetzen oder hinzulegen. Wurde er dabei erwischt, bekam er einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf. Nachts schlief er auf dem blanken Boden. Zwei Mal am Tag erhielt er eine Scheibe trockenes Brot, das nach Schimmel schmeckte. Außerdem hatte er eine Tonne mit Wasser in seinem Verlies, das sicher schon ein Jahr lang nicht ausgewechselt worden war.

    Georg lief in der Zelle auf und ab oder stand breitbeinig mit vor der Brust verschränkten Armen mitten im Raum. Manchmal lehnte er sich an die schmutzige graue und feuchte Wand, in der Hoffnung, dass es niemand merkte, und versuchte, die Minuten und die Stunden herum zu bekommen. Kein Mensch hatte ihm gesagt, wie lange er indiesem Loch verharren würde. Einen Tag, zwei Tage, eine Woche? Länger?

    Seine Mutter würde sich um ihn sorgen, das wusste er. Immerhin jemand, der an ihn dachte. Sie war eine Pommerin, höhere Tochter eines Ziegeleibesitzers aus Falkenburg. Groß gewachsen, mit blonden Haaren, hatte Hedwig zusammen mit Georgs Vater, Max senior, ein schönes Paar abgegeben. Sein Vater hatte sich mit dem Weinkontor in Bitterfeld, von seinem Großvater bereits ab dem Jahr 1904 geführt, eine solide Existenz aufgebaut. Nicht nur ausgewählte Weine wurden hier vertrieben, sondern in der angegliederten Destillations- und Likörfabrik edle Schnäpse und Liköre gebrannt. Schnaps-Liebknecht nannte man die Familie in Bitterfeld, um sie von den anderen Liebknechts in der Stadt zu unterscheiden.

    Georg war 1919 zur Welt gekommen. Es war ein aufregendes Jahr gewesen. Kaum zwölf Monate vorher war der Erste Weltkrieg beendet worden. Seitdem hatte sich das Land zutiefst verändert. Nach der Abdankung des deutschen Kaisers war im Januar die Weimarer Republik ausgerufen und das Frauenwahlrecht proklamiert worden. Die kommunistische Partei hatte sich gegründet. Im Februar hatte zum ersten Mal die Weimarer Nationalversammlung getagt, im August Reichspräsident Friedrich Ebert die neue Verfassung unterschrieben.

    Wie viele seiner wohlsituierten Freunde hatte sein Vater der politischen Entwicklung kritisch gegenübergestanden. Trotz des berühmten sozialdemokratischen Namensvetters Karl Liebknecht war Max Liebknecht senior als Monarchist gegen die junge Republik. Daran erinnerte sich Georg aus Kindertagen. Sonntag vormittags pflegten sich seines Vaters Freunde in der elterlichen Weinstube zu treffen, die dem Kontor angegliedert war. Georg hatte versucht, etwas von dem zu verstehen, was die Männer in ihren tadellosen dunklen Nadelstreifenanzügen, manche mit einem Monokel vor den Augen und fast alle stets mit einer Zigarre in der Hand, besprachen. Begriffen hatte er meistens nichts.

    Er war ungefähr sieben Jahre alt gewesen, als er anfing, tote Hunde und Katzen zu untersuchen und jeden Knochen zu sammeln,dessen er habhaft werden konnte. Diese Beschäftigung führte bald zu Georgs ersten ernsthaften Schwierigkeiten. Er rief sich ins Gedächtnis, wie er den Zettel über die Theke der Anzeigenabteilung der Bitterfelder Zeitung geschoben hatte. Ich hole Ihre toten Haustiere ab, um sie zu sezieren, stand darauf. Da war er neun und reichte mit der Nasenspitze gerade an die obere Kante der hölzernen Theke. Ein älterer Mann mit grauen Ärmelschonern und einer Nickelbrille auf dem kahlen Schädel sah sich seinen Zettel an.

    „Das sollen wir in die Zeitung schreiben, Junge? Na, da werden sich die Bitterfelder aber schön erschrecken. Kannst du überhaupt bezahlen?"

    „Natürlich", hatte sich Georg gewundert und seinem Zettel, den er unordentlich aus einem Schulheft herausgerissen hatte, einen Packen Geldscheine hinterher geschoben.

    „Aber hier steht ja gar keine Adresse drunter. Die musst du schon hinschreiben, sonst nutzt die ganze Anzeige nichts." Der Glatzköpfige wurde etwas freundlicher und gab Georg seinen Zettel noch einmal zurück.

    „Liebknecht, Hallesche Straße 1, Fernsprecher Nr. 109", setzte Georg in ungelenker Kinderschrift hinzu. Das war die Telefonnummer des Weinkontors. Zwei Tage später erschien die Anzeige in der Zeitung, und sein Vater tobte. Wie konnte sein Sohn nur auf solche Dummheiten verfallen! Es hatte weniger als zwei Stunden gedauert, bis die ersten besorgten Bitterfelder anriefen, um zu fragen, wieso Max Liebknecht senior tote Tiere zur Schnapsbrennerei benötige. Obwohl er innerlich kochte, beschwichtigte er seine Kunden und erklärte, wie es war. Sein Sohn besaß ein ausgefallenes Hobby. Ein geschäftsschädigendes dazu, wenn das so weiterginge.

    ---

    Es wurde stockdunkel in der Zelle. Die Wachen kamen herein und schleuderten ihm entgegen, dass er sich jetzt hinlegen könne. Einen Tag hatte er geschafft. Mit dem Gedanken an seinen Vater fiel Georgauf dem kalten und harten Zellenboden sofort in einen tiefen und traumlosen Schlaf.

    Die Wirkung des abgestandenen, stinkenden Wassers aus der Tonne machte sich am nächsten Morgen bemerkbar: Georg plagten Magenkrämpfe und fürchterlicher Durchfall. Immer wieder klopfte er an die Zellentür, denn er wusste nicht wohin mit sich und seiner Notdurft. Aber es gab kein Erbarmen, niemand kümmerte sich um ihn. Stoisch und wie man ihnen befohlen hatte, öffneten die Wächter die Tür nur, um zu kontrollieren, ob Georg stand oder saß. Oder, um die bedenklichen Brotscheiben auf dem verdreckten Blechteller auf dem Boden der inzwischen erbärmlich stinkenden Zelle abzustellen.

    Georg versuchte, sein Umfeld gedanklich auszublenden. Er lief auf und ab, wenn er sich nicht plötzlich in die Zellenecke hockte. Mittags kaute er langsam das uralte Brot, wohlwissend, dass dies seinem Zustand nicht förderlich war.

    ---

    Karl May kam ihm in den Sinn, der im Gefängnis seine berühmten Bücher geschrieben hatte, die Georg nie gelesen hatte. Stattdessen hatte er als Kind unter der Bettdecke das heimlich ausgeliehene Handbuch der Gesundheit von Platen verschlungen. Als seine Mutter ihn erwischte, wie er spät abends den Band über Frauen las und sich dabei die Säure aus dem Akku, mit dem er unter der Bettdecke Licht erzeugte, ins Bett ergoss, hatte dies fürchterliche Schläge zur Folge gehabt. Mehr als die Tracht Prügel aber war der Entzug sämtlicher Bücher ein wirkliches Unglück für ihn.

    Drei Wochen später hatte er Geburtstag. Auf dem Gabentisch lag der Platen Gesundheitsband Mann und Frau als Geschenk seines weitsichtigen Vaters. Georg schäumte über vor Freude und berührte mit seinen Fingern andächtig den mit lila und grünen Ranken kunstvoll verzierten Einband. Von nun an konnte er in diesem Werk schmökern und seinen Wissensdurst stillen, ohne zu befürchten, bei der Lektüre unerlaubten Lesestoffes erwischt zu werden. Man würde das Interesse an der Medizin nicht aus ihm hinaustreiben können.Dessen war sich Georg schon im Alter von elf Jahren sicher und Max Liebknecht senior offensichtlich auch. Ein festes Band hatte sich zwischen Vater und Sohn geknüpft. Seine Mutter hatte das für einen Elfjährigen ungewöhnliche Geschenk mit leicht missbilligendem Blick akzeptiert.

    Während seine Schulkameraden sich die Zeit damit vertrieben, Strichlisten über die vorbeifahrenden Automobile zu führen, setzte sich Georg – inspiriert durch sein neues Buch - in die Straßenbahn und zählte die Abnormitäten der Ein- und Aussteigenden: Plattfüße, X-Beine, O-Beine, Buckel, rotes Gesicht, weißes Gesicht, graue Haare und so fort.

    Düster starrte er die schimmelige gegenüberliegende Wand an und schloss nach wenigen Sekunden angewidert die Augen. Er zog es vor, sich an seinen ersten Sanitätskurs zu erinnern, den er ein Jahr später bei Heilpraktiker Kemnitz absolviert hatte. Wie ein Schwamm hatte er Theorie und Praxis in sich aufgesogen. Außer den dreißig Erwachsenen gab es nur noch einen Jungen in seinem Alter, der wie er für das Sanitätswesen brannte.

    Da Georg aus einer national gesinnten Familie stammte, war er inzwischen wie fast alle Altersgenossen Hitlerjunge geworden. Aber im Gegensatz zu seinem Bruder, der mit vor Stolz geschwellter Brust bereits das goldene Abzeichen trug, widerstrebten ihm die Uniformen, das Marschieren, der Gleichschritt und der Kommandoton.

    Nach einer Unterrichtsstunde bei Heilpraktiker Kemnitz packte Georg seine Unterlagen in seinen Tornister, als sein Lehrer seine von Altersflecken übersäte Hand auf Georgs Arm legte und sagte:

    „Junge, wenn ich dich nachts um zwölf wecke, musst du mir den Blutkreislauf sagen!"

    „Jawoll", blaffte Georg. Dennoch war es eine schier unerfüllbare Aufgabe für ihn. Allerdings hatte der alte Herr seinen Ehrgeiz geweckt, und so paukte Georg mit seinem Platen. Großer Kreislauf, linke Herzkammer, Hauptschlagader, untere und obere Hohlvene, rechter Herzvorhof, rechte Herzkammer, kleiner Kreislauf und so weiter. Mit knapp vierzehn Jahren absolvierte er seine Prüfung als Sanitäter und ratterte den Blutkreislauf herunter, als wäre der Teufel hinter ihm her. Er bestand mit gut. Über seinen neuen Ausweis war er enttäuscht.

    „In diesem kleinen viereckigen blauen Ding da steht nichts weiter als dass der Hitlerjunge Liebknecht am 8. November 1933 die Prüfung zum Sanitäter bestanden hat. Nicht mal meine Note, Herr Kemnitz!", beschwerte sich Georg leise bei seinem Lehrer.

    „Mach dir nichts draus, das ist nicht wichtig. Tu lieber was Praktisches, wenn du was lernen willst, Georg!" Heilpraktiker Kemnitz vermittelte seinen Schützling an das Bitterfelder Schwimmbad und das Fußballstadion, wo er als Rettungssanitäter Dienst leistete. Beim Fußball, einer Sportart, die ihn langweilte, lernte er seinen medizinischen und politischen Lehrmeister kennen, den alten und erfahrenen Sanitäter Helme.

    Der war Mitglied des Arbeitersamariterbundes und nahm seinen wissbegierigen Assistenten vom Fußballplatz eines Tages mit. Nun wurde Georg im Krankentransport geschult. Aus Dachböden, über wacklige Rundtreppen und von sonst wo holten Georg und seine Mitstreiter Kranke und brachten sie mit einer Krankenkarre, die sie vor sich herschoben, ins Krankenhaus. Wenig später bekam der Arbeitersamariterbund einen motorisierten Krankenwagen der Marke Fiat. Als wäre es das Normalste von der Welt, fuhr Georg von nun an als Beifahrer im Ambulanzwagen der Arbeitersamariter.

    Grinsend zeigte er den Bitterfeldern, dass ein Hitlerjunge, der einen Vater hatte, der aktiv im Stahlhelm-Bund war, eine Mutter, die Mitglied der NS-Frauenschaft war, und einen Bruder, der Karriere bei der SA machte, im Auto der Kommunisten sitzen konnte, und mit ihnen Kranke transportierte, um die sich sonst keiner scherte.

    „Du bist ein reaktionärer Hund!", schnaubte Max ihn an, nachdem er ihn auf der Straße bei seiner Unternehmung mit den Arbeitersamaritern gesehen hatte. Georg glaubte nicht, dass sein Bruder das ernst meinte.

    „Ich bin dir nicht böse", sagte er deshalb gleichmütig und vertiefte sich in Platen, Band Zwei.

    Sein Gastspiel beim Arbeitersamariterbund dauerte nicht lange,jedoch aus Gründen, die nichts mit seiner Familie zu tun hatten. Der Arbeitersamariterbund wurde von der NSDAP verboten. Georg sah zu, wie das gesamte Sanitätsmaterial von der Polizei beschlagnahmt wurde.

    Kapitel 2 1938 – einen Tag später

    Die Zellentür öffnete sich. Einer der beiden bulligen Unterführer kam herein.

    „Mein Gott, stinkt´s hier. Nicht so gut die Verpflegung, was?" Georg stand drei Meter entfernt mit dem Rücken fast zur Wand, traute sich nicht, etwas zu sagen. Plötzlich streckte er den rechten Arm aus und rief:

    „Heil Hitler!" Vielleicht käme er schneller raus aus seinem Gefängnis, wenn er diesem großkotzigen Kerl sagen würde, was er hören wollte, überlegte er. Der Großkotzige grinste hämisch.

    „Na prima, lernt ja, der Junge. Wir kriegen hier jeden klein, weißt du? Und bei dem Gestank. Wie gut, dass ich wieder gehen kann. Viel Spaß noch!" Der Unterführer drehte sich um, die Tür knallte hinter ihm zu. Georg war allein.

    „Du hast vielleicht ein bisschen Macht, im Moment sogar über mich, aber du hast nichts in der Birne, Großkotz", sagte Georg halblaut vor sich hin. Sein Gewissen würden sie nicht kleinkriegen, so leicht nicht. Er nahm seine Runde durch die Zelle wieder auf, Spaziergang statt Maskenball. Er verbot sich jeden Gedanken an Essen, er hätte sowieso nichts bei sich behalten, und tauchte wieder ab in die Vergangenheit.

    ---

    Es war ihm wenig Zeit geblieben, den Verlust der heißgeliebten Arbeit im Krankenwagen zu betrauern. Er wurde zum Landjahr einberufen. Ohne Mitspracherecht der Eltern wurden nur körperlich und erbbiologisch gesunde und charakterlich wertvolle Mädchen und Jungen deutscher Nationalität und arischer Abstammung - so hieß es- in ländlicher Umgebung in streng getrennten Lagern für zirka neun Monate zur nationalsozialistischen Erziehung untergebracht.

    Das hieß für Georg vormittags regulärer Unterricht zur Erreichung der mittleren Reife, nachmittags politische Bildung und paramilitärischer Drill. Appelle, Hacken zusammenschlagen, Grüßen, das ganze Repertoire. Zum Glück wurde er zur Erntezeit bei den Bauern eingesetzt. Das gefiel ihm wesentlich besser, denn die Handarbeit an der Luft machte Spaß. In den Pausen spendierte die Bäuerin große Scheiben frischen Bauernbrots, dick mit Pflaumenmus bestrichen, und gesüßtes Essigwasser dazu. Nicht daran denken!

    Vor allem aber gab es keinen militärischen Zwang! Außerdem war da die Tochter des Bauern gewesen, Veronika, ein junges Mädchen mit dicken braunen Zöpfen und einer karierten Bluse, unter der Georg ihre knospenden Brüste erahnte. Sein Interesse an der Weiblichkeit war erwacht. Verstohlen schaute er sie an, sooft er konnte. Irgendwie schien auch er die Frauen anzuziehen. Sie lächelte zuerst zaghaft, dann immer gelöster zurück.

    Anfang August stand sein Leben zum ersten Mal auf dem Kopf. Denn, während er den Bauern half, die Wintergerste einzubringen, starb zu Hause sein Vater. Herzversagen. Ohne recht zu begreifen, was geschah, erhielt Georg vierzehn Tage Urlaub und fand sich am Grab seines Vaters wieder. Mit hängendem Kopf stand er links neben seiner Mutter. Sein Bruder Max rechts von ihr nahm militärische Haltung an, schlug die Hacken zusammen und reichte ihr erst dann den Arm.

    ---

    Georg verschränkte die Arme wieder vor der Brust und lief in langsamen Schritten im Kreis. Seit dem denkwürdigen Geburtstag, an dem Max senior ihm den Gesundheitsband von Platen geschenkt hatte, waren sie zwei Verbündete gewesen. Spontan war der Vater mit Georg eines Tages mit dem Heißluftballon bis nach Berlin geflogen. Von dort hatten sie der Mutter telegrafiert, dass sie das Weinkontor für ein paar Tage alleine führen müsste.

    Fast hätte Georg gelacht, als er an den diebischen Spaß dachte, den die Fahrt Vater und Sohn bereitet hatte. An die Mutter, die die Unvernunft ihres Mannes nicht verstand und heftig schimpfte, als sie nach Hause kamen, erinnerte er sich aber auch. Sie hätten sich eine solche Reise gar nicht leisten dürfen, die Geschäfte mit Wein und Schnaps waren in den Jahren der Weltwirtschaftskrise alles andere als gut gegangen.

    Aber es war nicht zum Lachen, jetzt nicht und damals nicht, als er mit erst vierzehn Jahren neben seiner Mutter am offenen Grab gestanden und sich wie betäubt gefühlt hatte. Sein Vater hatte ihn verlassen. Ohne Ankündigung. Georg war sich vorgekommen wie auf einer Theaterbühne, ähnlich einem Schauspieler, der eine Rolle spielte, aus der er jederzeit wieder herausschlüpfen konnte.

    Aber dies war kein Theaterspiel und in atemberaubender Geschwindigkeit holte ihn die Realität ein. Nicht nur sein Vater, sondern auch Generalfeldmarschall von Hindenburg war gestorben, am gleichen Tag und genauso plötzlich. Der Rundfunk und alle Zeitungen brachten die Eilmeldung, die gesamte Stadt geriet in helle Aufregung. So standen an diesem zweiten August 1934 nicht nur die Familie Liebknecht, sondern ganz Bitterfeld und ganz Deutschland Spalier. Hindenburg wurde in Tannenberg, Ostpreußen, begraben. Hitler - vollkommen Staatsmann - übernahm das Amt des Staatsoberhauptes, die Reichswehr leistete ihren Eid auf seine Person.

    ---

    Georg konnte nicht mehr laufen, nicht mehr stehen. Sein Magen zog sich kolikartig zusammen, schmerzte, der Schweiß brach ihm aus. Er trommelte an die Zellentür, rief, dass er auf die Krankenstation müsse. Nichts. Er legte sich in Embryohaltung auf den Boden. Sollten sie ihn doch finden, liegend, am helllichten Tag. Aber es fand ihn niemand. Gab es keine Kontrollen mehr oder trauten sie sich nicht in sein stinkendes Verlies?

    Mitten in der Nacht wachte er auf, es war stockdunkel. Die Magenkrämpfe hatten nachgelassen. Er empfand ein wunderbares Gefühl der Erleichterung, trotz der widrigen Umstände seiner Gefängniszelle. Sobald der Morgen graute, würde er das abgestandene Wasser benutzen, um sich selbst und die Zelle zu reinigen. Er schloss die Augen, versuchte, seinen Durst zu verdrängen und einzuschlafen. Beides gelang ihm nicht und so tauchte er wieder ab in die Vergangenheit. Das erleichterte das Verarbeiten der Gegenwart.

    ---

    Nach der Beerdigung hätte Georg noch mehr als eine Woche Urlaub zu Hause verbringen können. Aber ihm hatte die braune Umgebung nicht gepasst. Sein Bruder Max schwang in seiner SA-Uniform in der Weinstube rauschhafte Reden über den Führer. Und seines Vaters Freunde applaudierten! Nach ein paar Tagen kehrte Georg zurück zu seinen Kameraden vom Landjahr, als Lagersanitäter konnte er sich wenigstens nützlich machen. Seine Mutter war enttäuscht. Die Lagerleitung dagegen hatte sich über Georgs Pflichttreue gefreut, die ihn offenbar dazu gebracht hatte, vorzeitig zurückzukehren. Er beließ es dabei, denn seine wahren Beweggründe hätte niemand nachvollziehen können.

    Stattdessen stürzte er sich in seine Sanitätsaufgaben, träufelte Talkum in unzählige Stiefel, klebte Pflaster, wechselte Verbände an wund gelaufenen Füßen, und kümmerte sich um Pillen und Salben.

    Und doch hatte er es nicht geschafft, durch seine Arbeit die Gedanken zu verdrängen, die ihn am meisten plagten:

    Der Vater, den er verloren hatte,

    sein wild Hitler-begeisterter Bruder,

    die Mutter, die immer dazwischen stand,

    der braune Drill, der ihm nicht passte,

    und das ewige Hacken zusammenschlagen.

    Dem Willen von Max und seiner Mutter folgend, wäre er nach dem Landjahr direkt zum SA-Sanitätssturm geschickt worden.Aber die Vorstellung, als Sanitäter mit den SA-Leuten zu arbeiten, hatte Georg überhaupt nicht gefallen. Die Sturmabteilung war selbst ihm als Schlägertrupp bekannt, vor allem bezüglich politisch Andersdenkenden. Ohne sich mit seiner Mutter abgesprochen zu haben, und erst recht nicht mit seinem Bruder, meldete er sich beim Deutschen Roten Kreuz. Dort wurde er, wie schon bei den Arbeitersamaritern, zur Begleitung ziviler Krankentransporte eingesetzt. Zu seiner großen Freude saß der alte Sanitäter Helme im Krankenwagen. Er traf auf eine Menge Sozialdemokraten und Kommunisten, die alle vom Arbeitersamariterbund zum Roten Kreuz gewechselt waren. Gebannt hörte Georg zu, wenn sich seine Kollegen hinter vorgehaltener Hand gegen die Hitlerpartei und den Führer aussprachen.

    „Hitler bedeutet Krieg, mein Junge!", warnte ihn der alte Helme eines Tages auf einer Rückfahrt vom Krankenhaus. Es war schon spät, sie kamen von ihrem letzten Einsatz an diesem Tag zurück. In der Bahnhofstraße würde der Fahrer ihn rauslassen, dann hatte Georg nur drei Schritte nach Hause.

    „Hier durfte früher jeder Dienst tun, auch jüdische Rotkreuzhelfer. Sind die etwa schlechter als wir?"

    „Nein, Herr Helme."

    „Sollen wir nur gesinnungstreue Kranke ins Krankenhaus bringen?"

    „Nein, Herr Helme."

    „Sieh dir unser Schmidtchen an, den Fahrer des Krankenwagens. Er versucht, seinen Jungen von der Hitlerjugend fernzuhalten. Zehn ist der, der Bengel." Helme warf seinen Zigarettenstummel aus dem Fenster.

    „Und er will unbedingt dahin, weil seine Klassenkameraden auch dabei sind."

    „Es gibt kaum einen Jungen, der nicht bei der HJ ist, Herr Helme", Georg nahm den Zehnjährigen ein bisschen in Schutz.

    „Warum bist du bei uns, Georg?"

    „Ich will Kranken helfen und ich möchte mich medizinisch weiterbilden." Georg wunderte sich über die Frage, das musste Helme doch klar sein.

    „Ohne SA und Partei", fügte er der Vollständigkeit halber hinzu.

    Vom Beifahrersitz drehte Helme sich nach hinten um und sah ihn über die Schulter ernst an. Dann sagte er:

    „Bleib, wie du bist, Junge. Lass dich nicht unterkriegen."

    Georg wollte fragen, warum Helme ihm das sagte, aber in diesem Moment hielt der Krankenwagen an und er stand verblüfft auf dem Bürgersteig.

    „Bis morgen!", rief er noch, aber der Wagen war schon abgefahren.

    ---

    Vor drei Jahren, 1935, war das gewesen. Was wohl aus Helme geworden war? In der Zeitung hatte er gelesen, dass das Rote Kreuz inzwischen im Sinne des „Führerprinzips" umgestaltet worden war. Hoffentlich ging es Helme gut. Ob er noch Krankenwagen fuhr? Vielleicht war er untergetaucht. Georg seufzte, er sorgte sich um seinen väterlichen Freund, der ihm gezeigt hatte, dass es Menschen gab, die, anders als bei ihm zu Hause, nicht voller Überzeugung über Hitler sprachen. Es wurde langsam hell. Georg begann, mit dem Wasser aus der Tonne die Zelle zu reinigen. Ein Tuch oder einen Lappen fand er nirgends. So blieb ihm nur sein zerbeulter Becher, um notdürftig sauber zu machen. Ein schier endloses Unterfangen; es hatte keinen Sinn, was er hier trieb. Georg setzte sich in eine saubere und trockene Ecke und dachte nach.

    Kurz nachdem er den alten Helme zum letzten Mal gesehen hatte, begann die Ausbildung in der Universitätsklinik in Halle. Ein Jahr lang war er jeden Morgen von Bitterfeld in die Nachbarstadt geradelt, fünfundzwanzig Kilometer hin und abends fünfundzwanzig Kilometer wieder zurück. Man zwang ihn, den Stationsdienst in Uniform zu verrichten, obwohl es viele Gründe gegeben hätte, stattdessen einen sauberen Kittel zu tragen. Besonders, wenn man vorder Arbeit über eine Stunde kräftig in die Pedale getreten war. Aber diesen Tribut war er gerne bereit zu zahlen, denn im Krankenhaus lebte Georg auf, hier war er an der richtigen Stelle.

    Kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag hatte er seine Krankenpfleger-Prüfung mit sehr gut bestanden. Durch die Ausbildung war sein militärisches Leben allerdings nur aufgeschoben worden, nicht aufgehoben. Am Tag nach der Prüfung sollte er sich in einer vormilitärischen Einheit des Reichsarbeitsdienstes melden.

    Das hatte ihm absolut nicht gepasst. Noch am Prüfungstag hatte er seinen Chef, Doktor Ritter, aufgesucht und sich alle Mühe gegeben, ihn davon zu überzeugen, dass er im Krankenhaus weitaus nützlicher wäre als beim Arbeitsdienst.

    „Medizinisch gesehen hast du Recht, du bist uns eine große Hilfe", hatte Dr. Ritter mehr zu sich selbst gesagt und mit dem Füllfederhalter rhythmisch auf die Tischplatte seines enormen Schreibtisches geklopft. Auf der linken Seite bebten die ordentlich angeordneten Krankenakten. Rechts auf dem Tisch, Georg direkt gegenüber, nickte ein Miniatur-Skelett namens Kuno zu jedem Klopfen des Füllers.

    „Die Oberschwester lobt dich über alle Maßen! Aber um den Arbeitsdienst kommt niemand herum. Du bist doch kein Drückeberger!"

    „Nein, Doktor Ritter…."

    Georg hatte großen Respekt vor seinem Chef. Seine tiefe Stimme und sein Blick aus wachen grünen Augen mit buschigen grauen Brauen darüber flößten ihm Vertrauen ein. Unglücklicherweise schien der Arzt seinen Entschluss bereits getroffen zu haben, denn er sagte mit reservierter Stimme, die nichts von der Gütigkeit hatte, die Georg aus den Patientengesprächen kannte:

    „Nein, ich glaube nicht, dass ich dir helfen kann, mein Junge."

    „Doktor Ritter, überlegen Sie doch mal! Ich würde auf der Station dazulernen, Erfahrung gewinnen, mich weiterbilden. Außerdem brauchen Sie eine zusätzliche Kraft!"

    „Ich werde mich nicht gegen die Partei stellen, hast du verstanden?" Erneut die strenge Stimme.

    „Ja." Georg hatte enttäuscht genickt.

    „Aber ich kann mich dafür einsetzen, dass du in der Pathologie arbeitest, da möchte nämlich niemand hin. Wenn dir das gefällt, befürworte ich vier Monate, keinen Tag länger."

    Georg war außer sich vor Freude gewesen. Er hatte einen Aufschub von vier Monaten erreicht. Er bedankte und verabschiedete sich höflich und meldete sich tags darauf in der pathologischen Abteilung der Universitätsklinik. Hier lernte er für sein Leben und kannte die menschliche Anatomie bald auswendig. Er sah dem Pathologen zu, wie er seine Schnitte setzte, erkundigte sich nach der medizinischen Vorgeschichte der Verstorbenen, lernte, wie man Organe präparierte, und war genau dort, wo keiner hinwollte, so recht in seinem Element.

    Die vier Monate waren viel zu schnell verstrichen. Noch einmal hatte er nicht bei Doktor Ritter auftauchen können, also hatte er sich in sein Schicksal gefügt und seinen Dienst als Krankenpfleger des Arbeitsdienstes in Eilenburg angetreten.

    Und da war er, in Eilenburg, in einer dunklen stinkenden Zelle, statt in seiner sauberen und warmen Heilstube. Alles nur wegen eines fehlenden eisernen Beschlags am Schuh! Er schnippte den Becher mit dem Stiefel quer durch die Zelle, nahm ihn grimmig wieder in die Hand und fügte sich in den von wenig Erfolg beschiedenen Versuch, sein Umfeld wenigstens sauber zu halten.

    Es verging noch ein Tag. Stehen, Herumlaufen, etwas besseres Brot, noch eine Nacht. Dann öffnete sich die Zellentür, man ließ ihn frei. Benommen blinzelte Georg ins Tageslicht, als er die feuchtrutschige Steintreppe hinaufgeschubst wurde. Er spürte Hunger und Durst, versuchte, seine Kameraden anzugrinsen. Die wussten, wovon er keine Ahnung hatte: Er war degradiert zum einfachen Arbeitsmann, dem alleruntersten Rang des Arbeitsdienstes.

    Kapitel 3 1939

    Nicht nur degradiert! Wenige Wochen nach seiner Gefängnisstrafe warf man ihn endgültig aus dem Reichsarbeitsdienst hinaus. Aber Georg hatte Glück. Doktor Franz Möbius, ärztlicher Leiter der Poliklinik der Bitterfelder Firma I.-G.-Farben und ehemals enger Freund seines Vaters, bot ihm eine Stelle als Krankenpfleger an, die er sofort antrat.

    Als er am letzten Augusttag 1939 von der Klinik nach Hause lief, gingen ihm tausend Gedanken durch den Kopf. Bei der Arbeit hatte es heute einen Unfall gegeben. Ein Fabrikarbeiter war unter eine Güterwagenlore geraten, das Gewicht der Lore hatte den Mann fast zerquetscht. Georg hatte sofort Erste Hilfe geleistet und den Verletzten in die Ambulanz gebracht. Während er dem Notarzt assistierte, der vergeblich versuchte, das Leben des jungen Arbeiters zu retten, vergaß er in der Aufregung den Kocher mit den Injektionsspritzen. Erst später, nachdem er das Blut weggewischt und mit dem Arzt eine Zigarette geraucht hatte, fiel ihm der verdammte Kocher wieder ein. Dreißig Spritzen

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