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Gespräche am Teetisch
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eBook173 Seiten2 Stunden

Gespräche am Teetisch

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Über dieses E-Book

Eine Familie.
Eine Geschichte.
Eine Kleinstadt in der Pfalz.
Gewaltorgien und pathetische Reden: Wie passt das zusammen? Wie gelingt es einem Kind, sich mittels Sprache – obgleich in völliger Stille – zur Wehr zu setzen? Es führt Tagebuch: ein Tagebuch im Geiste.

Johannes Chwalek lässt den Protagonisten aus der Ich-Perspektive sprechen, gibt ihm eine Stimme: ein zunächst ungeschriebenes Protokoll der Grausamkeit, Gleichgültigkeit und des Zynismus entwickelt jener Junge aus einer pfälzischen Kleinstadt, während sein Vater vornehmlich an Sonn- und Feiertagen philosophische Weisheiten vermittelt.

Die doppelbödige Moral eines scheinbar gutbürgerlichen, geordneten Lebens wird exakt beschrieben, sodass man sich unwillkürlich fragt, ob dieser Roman nicht autobiographische Züge trägt. Welcher Romancier könnte solche Szenen in dieser lebendigen Dichte erdenken und inszenieren? Der Autor zeigt: Häusliche Gewalt ist weder "gottgegeben" noch blindes, unabwendbares Fatum – sie war und ist: Menschen-gemacht. Und damit veränderbar und abwendbar.
BERNHARD RUPPERT

Mich hat diese Geschichte zutiefst bewegt. Die Aufbereitung des Themas durch Johannes Chwalek finde ich beeindruckend. "Gespräche am Teetisch" kann ich als absolut lesenswert empfehlen.
PETRA SEITZMAYER
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum7. Juni 2019
ISBN9783946112426
Gespräche am Teetisch

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    Buchvorschau

    Gespräche am Teetisch - Johannes Chwalek

    Nachtrag

    Die Misshandlung meiner Schwester

    Die Misshandlung meiner Schwester veränderte mein Denken. Nicht sofort natürlich, nicht während ihrer Schreie, die durch das Einfamilienhaus gellten, aber seine Mauern nicht durchdrangen, dass vielleicht Hilfe von außen gekommen wäre. Ich war zehn Jahre alt und stand im Erdgeschoss, von wo ich nach oben in den ersten Stock lauschte, zusammen mit meinen beiden jüngeren Halbgeschwistern, den Kindern der Schlägerin, die nicht geschlagen wurden. Im Einfamilienhaus, in dem ich gezwungen war zu leben – warum war das so? – spielte sich ab, was aus Märchen bekannt ist: Die Stiefmutter prügelte meine vier älteren Geschwister und mich, aber nicht ihre eigenen Kinder. Zur prügelnden Stiefmutter gehörte ein Vater, der wegsah und nicht wahrhaben wollte, was in seinem Haus geschah, während er seiner Arbeit nachging in einer anderen Stadt, wohin die Schreie seiner geprügelten Kinder niemals dringen konnten. So war die Situation in jenem Einfamilienhaus in einer pfälzischen Kleinstadt um das Jahr 1970 herum. Wahrscheinlich hatten die beiden – mein biologischer Vater und die Stiefmutter – eine stillschweigende Verabredung getroffen: geprügelt wird, wenn der Mann auf der Arbeit ist. Sobald die Stiefmutter auch in Gegenwart ihres Mannes handgreiflich wurde, durfte sie über Ohrfeigen nicht hinausgehen, sonst schritt ihr Ehemann ein mit Worten wie: „Marion, jetzt ist aber Schluss!", oder so etwas in der Art. Die Stiefmutter hörte dann auf, sie wusste, dass der nächste Werktag morgen oder übermorgen war, an dem sie ihren Gewaltausbrüchen hinter schallsicheren Einfamilienhaus-Mauern wieder freien Lauf lassen konnte.

    Das Prügel-Einleitungsritual zur Misshandlung meiner Schwester Gerlinde hörte sich so an: «Du kannst alles lesen, Mutti», klang ihre wimmernde Stimme.

    «Nein, ich will nur lesen, was du gestern Abend geschrieben hast», entgegnete die Stiefmutter.

    «Nein, du kannst alles lesen», wiederholte Gerlinde sinnlos.

    Einen Moment trat Stille ein. Die Stiefmutter überflog die handschriftlichen Tagebuch-Zeilen meiner Schwester – die sie natürlich vorher schon ausspioniert hatte, als Gerlinde noch in der Schule gewesen war. Aber sie wollte sich den Anschein von Rechtmäßigkeit geben und tat deshalb so, als lese sie das, was Gerlinde geschrieben hatte, zum ersten Mal. Auch ihr Empörungsausruf vor der Misshandlung war noch gespielt und hörte sich ungefähr an wie: «Was, du bist nicht einmal bereit, dem Papa Bratkartoffeln zu machen!»

    Dann schlug sie meine Schwester nieder, griff mit beiden Händen in ihre Haare und riss sie auf und ab, hin und her, prügelte wieder auf sie ein und riss wieder an den Haaren. Ich wusste es so genau, weil ich selbst schon oft genug dieses Schicksal geteilt hatte.

    Die gellenden Schreie Gerlindes, die nicht aufhören wollten, legten sich wie Riesenschlangen um mich und drückten zu; jeden einzelnen meiner Muskeln, bis ich vollkommen erstarrt war; es war ein Fluch zu leben.

    Am Abend in der Küche hielt die Schlägerin vor meinem biologischen Vater und meiner Schwester ihre Rechtfertigungsrede. Natürlich sprach sie nicht von Misshandlung, sondern von Bestrafung – notwendiger Bestrafung, die sich Gerlinde allein zuzuschreiben hätte, weil sie doch tatsächlich die Unverfrorenheit besessen habe, in ihr Tagebuch zu schreiben, dass sie dem Vater keine Bratkartoffeln bereiten, sondern lieber einen Fernsehfilm schauen wollte. Bei so viel Undankbarkeit höre sich doch wirklich alles auf.

    Mein biologischer Vater sah seine Tochter an – ich will nicht ausschließen, dass ihm die Zerstörung an ihr aufgefallen war, weil er nicht nur gebildeter, sondern in gewissem Sinne feinsinniger war als seine Ehefrau. Aber diese Eigenschaften veranlassten ihn zu keinerlei Protest ihr gegenüber. Er begnügte sich mit der Floskel, dass Gerlinde „so etwas" doch nicht tun dürfe. Dann schickte er sie ins Bett und hoffte, dass es nun wieder gut war und er seine Ruhe hatte. Wieder nahm er die Misshandlung eines seiner Kinder aus seiner ersten Ehe hin. Wieder riskierte er ein nächstes Mal, wenn er seiner Arbeit nachging in einer anderen Stadt, wohin die Schreie seiner geprügelten Kinder niemals dringen konnten.

    An diesem Abend lag ich im Bett lange wach. Noch am vergangenen Sonntag hatte mein biologischer Vater am Mittagstisch ein bekanntes Wort zitiert, das er Voltaire zuschrieb: „Ich bin absolut nicht Ihrer Meinung, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie Ihre Meinung sagen können!"

    Was war das? Was bedeutete das? Hatte die Zitation dieses Satzes irgendeinen Sinn? Offensichtlich nicht in seinem eigenen Haus. Offensichtlich nicht für uns Kinder seiner verstorbenen ersten Frau. Für uns galten andere Gesetze. Die Gesetze der Demütigung und Brutalität an den Wochentagen. Und die der Heuchelei und des Geschwätzes am Wochenende. Und trotzdem: Ein Zusammenhang musste bestehen! Wie war er herauszufinden?

    Noch etwas beschäftigte mich fieberhaft, während ich am Abend dieses erneuten Misshandlungstages, diesmal an Gerlinde, im Bett lag. In den Nachrichten war in jener Zeit von dem russischen Schriftsteller Alexander Solschenizyn die Rede. Er wurde vom sowjetischen Geheimdienst verfolgt wegen seiner Bücher. Mein biologischer Vater ereiferte sich gerne darüber und schimpfte auf „die Russen und „die Kommunisten. Seine Frau sagte nichts dazu, sie wäre dazu nicht imstande gewesen, aber sie war der Meinung, dass ihr Mann recht hatte und „die Russen und „die Kommunisten böse Menschen wären …

    Ich lag im Bett und schrieb im Geist die Begriffe auf, die mir durch den Kopf gingen:

    Tagebuchschreiben, geschlagen werden

    Große Reden halten

    Alexander Solschenizyn

    In ein Tagebuch gehörte, was man erlebte oder erleben musste. Und was man darüber dachte. War das nicht großartig: schreiben zu können, was ich erlebte oder erleben musste sowie was ich darüber empfand und dachte? Konnte ich die Riesenschlangen, die jederzeit zum erstickenden Zudrücken bereit waren, zum ersten Mal vielleicht auch nur ein klein wenig abwehren?

    An diesem Abend beschloss ich, ein Tagebuch zu führen. Aber keines, von dem ich Angst haben musste, dass es die Stiefmutter ausspionierte, sondern eines im Geist. Ein frischer Windzug streichelte mich. Sollte ich nicht sofort damit beginnen? Ich glaube, das war der Moment, in dem ich einschlief.

    Am nächsten Morgen hörte ich im Bett das Auto meines biologischen Vaters aus der Einfahrt fahren. Nun begann wieder die gefährliche Zeit. Bis zum Abend gegen achtzehn Uhr dreißig, wenn das Motorengeräusch des in die Einfahrt biegenden Autos zu hören war, stand ich unter Angstspannung, dass ich etwas falsch machen und der Stiefmutter einen Anlass geben könnte, zu ihrem Opfer zu werden. Es passierte von einer Sekunde zur anderen: Eine Tasse fiel mir aus der Hand, irgendetwas hatte ich vergessen, gegen irgendetwas stieß ich, oder ein falsches Wort entschlüpfte mir – und die Katastrophe, angeschrien, verflucht und geprügelt zu werden, brach über mich herein. Insgeheim wusste ich längst, dass die Ursache jeden Anlasses ich selbst war, meine bloße Existenz – aber warum das so war, wusste ich nicht. Warum war das so?

    Eine erwünschte werktägliche Frist bildete der Schulvormittag, an dem ich der Stiefmutter entzogen war, aber danach dehnten sich die Nachmittagsstunden in den Mauern des Einfamilienhauses umso länger. Schon wenn die sechste Unterrichtsstunde anbrach, beschlich mich ein beklemmendes Gefühl, die Riesenschlangen wurden lebendig und grinsten mich an. Innerlich schrie ich ihnen entgegen:

    Ich schreibe euch auf! Ich beschreibe euch genau! Alles wird zu lesen sein über euch! Alles!

    Schwer ging mein Atem, aber niemand im Klassensaal durfte es merken.

    Auf der Rückfahrt vom Gymnasium in die Kleinstadt blickte ich nur schweigsam vor mich hin. Auf der Hinfahrt erlebten mich die Kameraden anders. Einem von ihnen fiel dies einmal auf, er fragte mich nach dem Grund, aber ich druckste herum und konnte es ihm nicht sagen. In der Grundschule hatte ich einem Mitschüler einmal bekannt, dass ich lieber in der Schule als zu Hause sei. Er machte große Augen und verlangte eine Erklärung. Da verließ mich der Mut – oder ich fand nicht die Worte, die nötig gewesen wären. Ich sagte, dass ich so viel arbeiten müsse zu Hause, deshalb sei ich lieber in der Schule.

    Der Bus hielt an der Kirche St. Galderic in der Altstadt, gegenüber befand sich das Haus meiner Großeltern, wo ich mein Fahrrad abgestellt hatte. Meine Großmutter wartete immer schon am Tor und ließ mich in den Hof treten.

    Ich will hierbleiben, schrieb ich in mein Tagebuch im Geist, ich will nicht dorthin! Aber ich grüßte nur meine Großmutter und schob mein Fahrrad aus dem Tor auf die Straße.

    An einem Sommertag sagte die Stiefmutter: «Ich muss wegfahren und bin erst am Abend zurück. Heute kommt ein Brief von deiner Schule», sie sah mich geringschätzig an, «den legst du in die Garage unter die Werkzeugkiste. Hast du verstanden?»

    «Ja.»

    «Was sollst du mit dem Brief machen?»

    «In die Garage unter die Werkzeugkiste legen.»

    «Vergiss es nicht, sonst gnade dir Gott!»

    «Ich vergesse es nicht.»

    Die Formulierung „sonst gnade dir Gott!" verwendete sie oft. Was sie zu bedeuten hatte, wusste ich nicht genau, aber dass sie als Drohung aufzufassen sei, war mir klar.

    Vor der Stiefmutter kam mein biologischer Vater von der Arbeit zurück und fragte mich in der Küche nach der Post. Ich berichtete ihm vom Brief in der Garage unter der Werkzeugkiste.

    «In der Garage unter der Werkzeugkiste?», fragte er.

    «Die Mutti hat gesagt, ich soll ihn dorthin bringen.»

    Er sah mich einen Moment an und meinte dann: «Das wird der Brief von der Schule sein … wegen deiner Versetzung … hol ihn mal.»

    Ich lief und holte den Brief. Er öffnete ihn, las und sagte: «Nicht versetzt. Das tut mir leid. Aber wenn man immer nur geschimpft wird, kann man ja auch nicht lernen.»

    Mit diesem Verständnis hatte ich nicht gerechnet. Ich erwiderte nur schüchtern: «Ja.» Aber in einer entfernten Region meines Gehirns machte sich die Frage bemerkbar, warum er mich in diesem Zustand beließ, wo ich immer nur geschimpft wurde.

    Er blickte mich wieder an und sagte den zweiten Satz, der mich verblüffte: «Du kommst in ein Internat. Am Samstag ist der Vorstellungs- und Anmeldetag.»

    Ein Internat? Weg aus dem Einfamilienhaus mit der Stiefmutter und dem biologischen Vater? Mein Instinkt signalisierte mir, dass dies großartig wäre, dass mir nichts Besseres passieren konnte!

    «Wo ist das Internat?», fragte ich.

    «In B., ich wollte dich zuerst nach H. geben, aber da ist es zu teuer.»

    Durch das Küchenfenster sahen wir, wie die Stiefmutter, die zwischenzeitlich eingetroffen war, mit verdutztem Gesichtsausdruck aus der Garagentür kam und zu uns hinüberblickte.

    Am Samstag fuhr ich mit meinem biologischen Vater zum Internat nach B. Es war ein Gebäude wie ein Schloss, umgeben von einem großen Garten, einem Sandballplatz mit zwei Toren und großen Bäumen. Wir stiegen eine steinerne Treppe zum Hauptportal mit zwei mächtigen Holztüren hoch, standen in einem Zwischenraum und wurden von zwei Schülern, die linker Hand in einem Pfortenzimmer saßen, durch ein Schiebefenster begrüßt. Sie teilten uns mit, dass wir zur Anmeldung in den zweiten Stock hochzugehen hätten, wo wir eine Beschilderung sähen.

    Im Treppenhaus sagte ich verwundert: «So große Treppen!»

    «Hier wohnen auch viele Schüler.»

    Der Satz freute mich. Vielleicht könnte ich einer dieser vielen Schüler sein, weg von der Stiefmutter, weg vom biologischen Vater, weg vom Einfamilienhaus in der pfälzischen Kleinstadt! Einer unter vielen! Genauso behandelt wie alle anderen! Unbeachtet in der Menge! Einfach nur ein Kind! Wenn es doch so käme!

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