Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Am patagonischen Weltende: Eine Reise in den fernen Süden
Am patagonischen Weltende: Eine Reise in den fernen Süden
Am patagonischen Weltende: Eine Reise in den fernen Süden
eBook1.250 Seiten14 Stunden

Am patagonischen Weltende: Eine Reise in den fernen Süden

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Patagonien, wildes, fernes, schönes, einsames Land am Ende der Welt: für uns Reisende ein reiches Nebeneinander vieler Extreme; wenn sich unser Schiff in den tausenden Kilometern der patagonischen Fjordwelten verliert und an Vulkanen und Gletschern vorbeisteuert; wenn wir die argentinischen Pampaweiten durchmessen, sie erleben, wie sie abrupt gegen das Andengebirge laufen und schroff zurückgewiesen werden, nicht zuletzt von Bergen wie dem Fitz Roy und dem Cerro Torre und anderen umliegenden Felstürmen, in denen eine der bizarrsten Bergwelten unseres Planeten ihren Ausdruck findet.
Bereichert wird das Eintauchen in diese Welt um die bewegte Geschichte des Südens Südamerikas, die Ureinwohner, die europäische Besiedlung, die Schafbarone,
die Seefahrer, Walfänger, Entdecker und Forscher, Abenteurer, Bergsteiger: Geschichten vom Überleben und vom tragischen Scheitern. All das im vorliegenden Buch,
mit meisterhaft eindrücklichen Naturbeschreibungen und den Erlebnissen eines Reisenden und zudem mit über 500 fotografischen Abbildungen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum5. März 2023
ISBN9783347884090
Am patagonischen Weltende: Eine Reise in den fernen Süden
Autor

Hans-Ulrich Schlageter

Hans-Ulrich Schlageter, geboren 1960 in Lörrach, ist promovierter Ingenieur. Schon früh spürte er den Drang, die Welt nicht nur rein wissenschaftlich zu begreifen, sondern, über den Horizont hinausdenkend, das mit einzubeziehen, was mit Metaphysik, Transzendenz und Mystik umschrieben werden kann. Ausgedehnte Reisen führten ihn auf alle Kontinente. Das Abenteuer des Reisens in Literatur zu gießen und dabei Land, Kultur und Geschichte der bereisten Völker auch für den Leser zu erschließen, ist ihm längst zum Lebensinhalt geworden.

Mehr von Hans Ulrich Schlageter lesen

Ähnliche Autoren

Ähnlich wie Am patagonischen Weltende

Titel in dieser Serie (2)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Essays & Reiseberichte für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Am patagonischen Weltende

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Am patagonischen Weltende - Hans-Ulrich Schlageter

    ZUM GELEIT

    Dieses Buch wollte nicht geschrieben werden. Weil eine Reise nach Südamerika und insbesondere nach Patagonien im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts längst alltäglich geworden ist, das Abenteuer sich nur mehr auf die Natur beschränkt und nicht mehr unerwartete Vorkommnisse und Begegnungen mit fremden Kulturen und Unwegsamkeiten bereithält, man vielmehr bequem und unbelästigt reist, man sich, statt mühsam jeden Schritt selbst zu planen, gerne organisierten Touren anvertraut.

    Gleichwohl habe ich dennoch zum Stift gegriffen und meinen knappen Monat in Patagonien und Feuerland, in Chile und Argentinien, aufgezeichnet. In dem Bewusstsein, dass es mir in einigen Jahren helfen wird, mich zu erinnern. In der Gewissheit, dass sich bis dahin wieder alles verändert haben wird; dass man dann unweigerlich an die Zeiten zurückdenken wird, als alles noch ein Abenteuer gewesen zu sein schien.

    Genau das ist der Punkt, nämlich dass wir stets wehmütig auf die Zeit vor zwanzig oder fünfzig Jahren zurückblicken, als das Reisen und das Globetrotten wirklich abenteuerlich war, unberührte Welten entdeckt werden wollten, die es heute so nicht mehr gibt.

    Nein, es gibt sie noch immer und wird sie auch weiterhin geben. Du musst sie nur selbst entdecken wollen. Du musst nur bereit sein, ein wenig Bequemlichkeit zu opfern. Du musst dich nur, wohin du auch gelangen magst, dann dort selbst auf den Weg machen. Dazu genügen meist nur wenige Schritte ins Nichtbereitete, um sich der Natur in seiner Ursprünglichkeit ausgesetzt zu sehen. So wie es immer war. Der Vorteil ist, dass du heutzutage wahrscheinlich nicht verloren gehen wirst, du dich jederzeit in einem gemachten Nest zurückmelden kannst.

    EINFÜHRUNG

    Meine Reise begann ich im chilenischen Puerto Montt, der Hauptstadt der Region X. Für einige Tage besuchte ich die Insel Chiloé und die Vulkane und Seen. Zwei Fährschiffe brachten mich nacheinander durch die verschiedenen Fjordlandschaften bis hinunter nach Feuerland.

    Nach einiger Zeit am Beagle-Kanal wandte ich mich nordwärts nach El Calafate und El Chaltén, dort, wo die argentinischen Pampaweiten abrupt gegen das Andengebirge laufen und zurückgewiesen werden, für uns Reisende ein reiches Nebeneinander zweier Extreme, das nicht zuletzt in den Bergen Fitz Roy und Cerro Torre und anderen umliegenden Felstürmen als eine der wohl bizarrsten Bergwelten unseres Planeten seinen Ausdruck findet.

    Zuletzt besuchte ich in Chile, fast erwartungsgemäß, den Nationalpark »Torres del Paine«, den kaum jemand, den es ins menschenleere Patagonien verschlägt, missen möchte.

    Ich gebe zu, dass das nichts Außergewöhnliches ist, nichts Spektakuläres, nichts, was sich von den Anlaufpunkten anderer Reisender unterschieden hätte.

    Wer aber mit offenen Augen und offenem Herzen durch die Lande reist, der weilt, egal wo er ist, ob im Dschungel oder in den Bergen, sei es im unscheinbarsten Dorf in Mittelfranken oder im endlos flachen Wisconsin, immer in sich und seinen Eindrücken, die niemand anderes als das eigene Ich auf so einzigartige Weise erlebt, und das in exakt jedem Moment. In etwa ist es das, wovon ich auf den nun folgenden Seiten berichten möchte, und von dem ich überzeugt bin, dass es mir gelingt.

    NACH SÜDEN, SEHR WEIT NACH SÜDEN

    Trossingen: Sonntag, 02. Januar 2011: Der Sonntag, der zweite Januar, war ein klirrend kalter Wintertag, den die Sonne mit ihrer Wärme antaute, wo immer kein Schatten das verhinderte.

    Mittags ging der Zug, und morgens wurde der Rucksack endgültig gepackt, jedes Utensil gewogen und abgewogen, ob es nicht erlässlich war. Jedes Gramm zu viel wollte später beim Trekken geschleppt sein. Und ich hatte die aberwitzige Idee gegenüber meiner inneren rationalen Instanz durchgesetzt, mit gleich zwei dicken Kameras zu verreisen, einmal digital, um mit der Zeit zu gehen, und einmal analog, um alte Zeiten zu beschwören, vor allem aber, um hinterher Diapositive zu besitzen. Letzteres war ein Luxus, der mir dreieinhalb Extrakilo aufbürdete, und das einem Menschen, der sich trotz seiner inzwischen 50 Jahre fit und agil fühlte wie je, der sich mit insgesamt 24 Kilogramm, Verpflegung nicht mit eingerechnet, jedoch hoffentlich nicht übernahm. Kurz, jeder, der davon wusste, hielt mich für reichlich bekloppt. Und vielleicht war ich das auch. Wahrscheinlich sogar. Zumindest würde ich beim Trekken das eine und das andere Mal leiden müssen. Aber das hatte ich, wie man modern sagt, bereits eingepreist. Zumindest geistig.

    Ich war also auf dem Weg nach Süden. Weiter nach Süden. Sehr weit nach Süden. Mit den Pinguinen zu tanzen. Aber alles hat einen Anfang. Und am Anfang blieben drei Gestalten winkend auf dem Bahnsteig zurück: meine Familie. Der Tochter waren bereits kurz zuvor die Tränen in die Augen gestiegen, und der Sohn hatte unglücklich dreingesehen. Beiden war wohl schlagartig bewusst geworden, dass ihr Vater für einen ganzen Monat fehlen würde. Und man weiß im Leben ja nie, ob man sich wiedersehen wird. Jeder Abschied kann ein endgültiger sein. Kurz: Ich hasse Abschiede. Und sie lassen mich nicht unberührt. Dennoch glaubte ich nach zehn Minuten im Zug, die Sache im Griff zu haben, und ich lauschte zwei jungen Amerikanern, die sich über ihre Europareise austauschten, laut genug für eine willkommene Ablenkung. Auch für sie hatte es einen Abschied gegeben. Und wenn wir einmal genauer hinspüren, verabschiedet nicht jeder von uns tagtäglich mehrmals irgendetwas, wenngleich manches auch nur auf Raten? Und das wiegt am schwersten. Vielleicht weil man es zu lange glaubte, noch zu besitzen.

    Der Zug war pünktlich eingetroffen und würde nach weniger als zwei Stunden sogar vor der Zeit in Zürichs Hauptbahnhof ankommen. Das war nicht selbstverständlich, und ich hatte gewisse Befürchtungen gehegt. In den Tagen und Wochen davor waren Züge liegengeblieben, waren ganz ausgefallen oder hatten viele Stunden Verspätung aufgesammelt. Zur selben Zeit wurde wegen eines arktischen Kälteeinbruchs in Europa das Enteisungsmittel knapp. Selbst mit dem Taumittel hatte es zahlreiche Flugausfälle gegeben. Tausende Reisende saßen auf den Flughäfen fest. Manchmal kampierten sie tagelang auf Sesseln, die sie mit Verbündeten dann wacker gegen andere Leidensgenossen verteidigten, auch zu den Zeiten, wenn sie zwischendurch kurz einen anderen Ort aufsuchen mussten. Ein Umstand, den uns die funktionelle Morphologie ganz genau erklärt.

    Während Frankfurt sogar heute Flugausfälle meldete, kletterte in Zürich das Thermometer bis auf minus ein Grad. Diese Schmuddelzone um den Gefrierpunkt herum war völlig problemlos. Kurz, das Glück würde auf meiner Seite sein, zumindest bis Madrid, wo am Vortag ebenfalls Flugzeuge am Boden geblieben waren.

    Der Zug mied die großen Siedlungen oder es gab sie zu selten. Wir zuckelten entlang der Schwäbischen Alb durch eine Winterlandschaft mit dick verschneiten Wäldern, beleuchtet sogar hier und da von dem Sonnenball, der sich, als verschwommen feurige Scheibe durch den Hochnebel brechend, auf das ansonsten hellgraue Himmelsparkett gewagt hatte.

    Bald hinter der Stadt Tuttlingen kamen wir durch ein einsames Tal. Über die tief heruntergezogenen Dächer abgelegener Bauernhöfe kräuselte der Rauch der Kaminöfen, ein Bild wie anno 1900, wenn zottige Pferde Atemwolken durch ihre Nüstern bliesen.

    Dann und wann erschienen einsame Bahnhöfe, mit Bahnsteigen, auf denen niemand wartete. Wir durchfuhren sie im Eiltempo, als hätten sie nie existiert. Die Hegau-Vulkane zeigten ihre sie krönenden Burgen in seltener Pracht, weil der winterkahle Wald sie nicht versteckte.

    Gleich hinter Schaffhausen tauchte als nächstes Glanzlicht der Rheinfall auf, an dem sich unser Zug unmittelbar entlangtastete. Bislang war dieser Winter schneearm gewesen, und das große Tauwetter lag in weiter Ferne. Ungewohnt müde ließ der große Fluss sein Niedrigwasser über die Felsen fallen. Dennoch spektakulär, zumindest für diejenigen, die ihn nicht kannten, wenn er Normal- oder gar Hochwasser führte. Dann, wenn die Luft vom Brausen vibrierte, und auf der ganzen Breite der feine Tropfenschleier wie weißer Staub über dem Wasser in der Luft hing.

    Dass wir nun in der Schweiz waren, bemerkte ich an den Grenzpolizisten in Blau. Begleitet von einem Schäferhund, kontrollierten sie zu dritt und stichprobenhaft, wer immer ihrem geschulten Blick warum auch immer auffiel. Mich ließen sie in Ruhe, ebenso die Schweizerin, die mir seit Schaffhausen gegenüber saß.

    Mitte dreißig war sie, hatte lockiges, schulterlanges Haar und etwas Schlampiges, Flippiges an sich, ein Eindruck, der wohl ihrem enormen Zigarettenkonsum geschuldet war, auf den sie im Zug allerdings verzichten musste. Aber der Geruch ihrer Kleidung und ihrer Haut und die vergilbten Fingerkuppen verrieten sie. Sie roch wie zehn Aschenbecher zusammen, und sie war das Grab von wenigstens 30 bis 40 Zigaretten täglich, von der Sorte stark und ungefiltert.

    Ihre große Dose Bier hatte sie gleich zu Beginn auf dem Klapptischchen geparkt, und es sollte nicht lange bis zur Öffnung dauern. Bestätigten sich hier nicht alle Vorurteile zwangsläufig?

    Das Attribut »schlampig« nahm ich trotz dieser Offensichtlichkeiten nach einer Weile vorsichtig zurück. Ich hatte sie kommunizieren hören, mit ihrem drei mal zehn Zentimeter großen mobilen »Tor zur Welt«. Sprachniveau und Inhalt passten wohl schon lange nicht mehr zu ihrem Äußeren, beziehungsweise Letzeres hatte die Schritte ihrer inneren Entwicklung bislang nicht nachvollzogen. Vielleicht war ihr das gar nicht bewusst. Womöglich gab sie sich betont anders, weil sie früher einmal so gewesen war und das Umfeld sie nicht aus dieser Rolle entließ. Oder weil sie vermeintlichen Erwartungen zuvorkam.

    Wenn sie sprach, benutzte sie für hochdeutsche Ohren niedliche Kraftausdrücke, ein Jargon, der durch und durch sympathisch war. Sie verabschiedete sich gerne mit »Tschüssli! Ciao ciao!«

    Sie rief alle möglichen Leute an. Wenn sie das einmal für zwei Minuten nicht tat, und ich gerade dachte, Ruhe sei eingekehrt, dann wurde sie prompt angerufen. Währenddessen versuchte ihr Umfeld hier im Zug, sich aus den Gesprächsteilen ein Gesamtbild zu erschließen, über das, was sie nach Zürich trieb, das, was sie zurückgelassen hatte und natürlich über sie als Charakter selbst. Wenn du Zeit im Zug absitzt, nimmst du eben ganz automatisch teil. Es ist schwer wegzuhören, sofern du das willst. Ich wollte das nicht.

    Es ergab sich in etwa das folgende Szenario. Ihre Firma, wohl eine größere Werbeagentur, hatte ihr sehr kurzfristig den Montag freigegeben, und heute war Sonntag, und sie musste alles für ihre morgige Abwesenheit regeln. Anscheinend war sie das Mädchen für alles, ohne das nichts lief. Oder sie leitete eine Kampagne, für die viele Kundenabsprachen notwendig waren.

    Ihre Kolleginnen holten sich Rat. Sie gab ihre Anweisungen. »Ihr schafft das schon auch ohne mich. Das muss einfach mal gehen. Ich bin ja telefonisch erreichbar, falls …«

    Koordinieren konnte sie jedenfalls gut. Wenn sie nicht mit Kollegen kommunizierte, tat sie sich telefonisch im Bekanntenkreis nach einer Unterkunft für eine Nacht in Zürich um. Sie kannte viele Leute, aber erfolgreich war sie lange nicht. Und jedes Mal endete sie mit ihrem »Tschüssli! Ciao ciao!« manchmal auch nur mit »Tschüssli!«.

    Nicht einmal ihr Gepäck würde sie auf ein paar Stunden loswerden können. Entweder war zu der Zeit gerade jemand nicht da oder nicht lange genug, oder es war niemand da, wenn sie es wieder abholen würde. Allmählich zeigte die Frau Nerven. Ab etwa dem siebten Mal erklärte sie sogar die Gründe, und hatte um das dreizehnte Mal herum endlich Erfolg.

    Sie hatte vor, im Kantonsspital das Krankenbett eines Todgeweihten zu besuchen: Krebs im Stadium der Hoffnungslosigkeit. Ein Abschiedsbesuch. Es würde ein schwerer Besuch werden. Der Mann war erst 45. Er nahm sein Schicksal zumindest nach außen offenbar gelassen hin, mit einem sonderbaren Galgenhumor. Sein Umfeld kam damit weniger zurecht, und es war er, der trösten musste, nicht umgekehrt.

    Kurz vor Zürich war telefonisch alles geregelt, und die Frau entschuldigte sich bei uns Mitreisenden für die ganze Belästigung. Das war natürlich auch ein Mittel der Konversation. Und es funktionierte. Wir kamen ins Gespräch. Und ich erklärte ihr, wo ich mit solch einem Rucksackmonstrum hinwollte.

    Ihr Fazit: Wenn Feuerland und ich uns zusammentäten, dann wären wir kalt, regnerisch, mutig und einsam. Wobei einsam der gemeinsame Nenner wäre. Ich versuchte, ihr klarzumachen, dass es trotz der einsamen Landschaften durchaus Anlaufstellen gebe, wo sich die Menschen und Reisenden treffen, und dass es zuweilen gar nicht so einsam sei, und Patagonien längst ein begehrtes Trekkingziel. Vergebene Müh. Nein, sie hatte da mal so einen faszinierenden Bericht im Fernsehen gesehen. Und mir gebühre großer Respekt.

    Irgendwann gab ich es auf zu widersprechen. Ich lenkte ein, in etwa mit den Worten: Wenn den Mutigen schon die Welt gehöre, wie ein Sprichwort weiß, dann doch wohl erst recht das Ende der Welt. Oder!

    Im Sackbahnhof Zürich leerte sich der gesamte Zug. Die Schweizerin sagte, sie beneide mich und auch wieder nicht, also um die Strapazen und das schlechte Wetter wahrlich nicht, aber um alles andere schon. Auf alle Fälle wünsche sie mir alles Gute und eine tolle Reise. Dann verlor sie sich im allgemeinen Gewühl. Das letzte, was ich von ihr sah, war, dass sie wieder ihr Handy am Ohr hatte. Natürlich. Und in der anderen Hand die obligatorische Zigarette. Natürlich. »Tschüssli! Ciao ciao!«

    Zürichs Kopfbahnhof war eine weite zugige Halle, zugig in zweifacher Bedeutung. Rasch hatte ich den Fahrplan studiert und dann mein Gleis gefunden. Es war eines der Nebengleise draußen vor der Halle und weit hinten. Das hatte den Geschmack eines Abstellgleises. Hier verkehrte doppelstöckig die S-Bahn, in die ich bald einstieg, und schon war ich am Flughafen.

    Drei Stunden verbrachte ich mit liegengebliebenen Zeitungen hier und dort. Nachdem ich mein großes Gepäck eingecheckt beziehungsweise bis Santiago de Chile durchgecheckt hatte, schickte ich mein Handgepäck durch das Röntgengerät bei den Kontrollen. Wie ein Schrank aufgebaut, stand der schwer bewaffnete Sicherheitsbeamte vor mir, was geeignet war einzuschüchtern. Dennoch nötigte ich den Mann, meine Diafilme und meine Fotochips extra handzukontollieren. Widerstrebend überwand er sich dazu, nicht ohne mich deutlich wissen zu lassen, dass ich mir doch wohl bewusst sei, dass er das nicht tun müsse; worauf ich mich extra freundlich bedankte.

    Wir Reisende stiegen alle miteinander in einen der Transporterbusse und fuhren über den weiten Asphalt lange bis zu der kleinen Airbusmaschine hinaus, die uns am Ende einer Reihe geparkter Flugzeuge aus vieler Herren Länder erwartete. Während der Fahrt tönte die Stimme des Fahrers trocken aus dem Lautsprecher: »Vielen Dank, dass Sie über den Flughafen Zürich reisen.«

    Ich hielt das für einen Scherz und musste innerlich lachen, weil ich ihn gelungen fand. Dann ging mir auf, dass er sich gar nicht auf die Busfahrt über den Flugplatz bezogen hatte, sondern vielmehr der Flughafen Zürich als Ausgangspunkt unserer Reise gemeint gewesen war, er also nur einen dieser vorgefertigten seelenlosen Kundenservicesätze hatte aufsagen müssen, die man weltweit als aufgesetzte Höflichkeitsfloskeln serviert bekommt, angefangen bei jedem Telefongespräch.

    »Mein Name ist Frau Dagmar Mustermann, ich geleite sie durch das Telefongespräch. Bitte wenden Sie sich gerne an meine Person, wenn Sie Probleme haben. Wir von der First-Service-AG helfen ihnen gerne weiter. Bitte warten Sie jetzt, während Sie direkt zu unserem Service-Partner weiterverbunden werden. Vielen Dank für Ihre Geduld.«

    Wobei mir da von vornherein eine Geduld unterstellt wird, die ich vielleicht gar nicht aufzubringen gewillt bin. Kurz, die Welt wird unpersönlich, höflich und unverbindlich, eben Standard. Das alltägliche Miteinander verkommt endlich ebenfalls zum unverfänglichen nivellierten Fastfood. Dem ich einzig und allein entkommen könnte, indem ich, anstatt persönlich anzurufen, selbst vom Band käme, aber das ist weiterhin Zukunftsmusik.

    Als wir gegen 20 Uhr mit Kurs Madrid in den Nachthimmel aufgestiegen waren, fiel mir zwangsläufig folgendes auf: Wenn du günstig Economy fliegst, reist du ohne Komfort. Diese Aussage war nur bedingt korrekt. Auf unsere spanische Fluglinie bezogen konnte man da zweierlei Meinung sein. Wer unter 1,60 Meter Körpergröße maß, saß beneidenswert bequem, während Menschen wie ich, die 1,80 Meter oder mehr für sich in Anspruch nahmen, mit den Kniescheiben am Vordersitz scheuerten. Das war selbstverschuldet, wenn wir uns nicht an eine von der Europäischen Bürokratischen Union festgelegte Norm hielten. Hoffentlich galten diese Sitzabstandsmaße nur für Kurzstreckenflüge und nicht nachher für die Langstrecke von Madrid nach Chile. Aber ich war fest entschlossen, auch das auszuhalten. Und war es nur aus Solidarität mit einer Fluglinie, die darauf bedacht war, in die Gewinnzone zu fliegen. Ich würde bei Gelegenheit aus dem Fenster spähen, um zu sehen, ob wir tatsächlich dort hinflogen.

    22.40 Uhr. Madrid: Der Flughafen Madrid-Barajas war immerhin der viertgrößte Europas und nach Fläche sogar der zweitgrößte der Welt, Platz genug, sich heillos zu verirren. Sein Pendant in Zürich jedenfalls hätte wohl einige Male Platz in ihm gehabt. Unser Flugzeug hatte irgendwo angedockt, und wir Passagiere waren durch den Finger hinauf ins gläserne Terminalgebäude gelangt, wo wir uns nun orientieren durften.

    Wir steckten irgendwo im Sektor K und mussten für Santiago de Chile in den Sektor R hinüberfinden, von Terminal T1 in Terminal T4S. Dazu waren überall diese Hinweistafeln angebracht, mit leuchtenden Buchstaben und leuchtenden Pfeilen und der Angabe der Minuten, nämlich 53, die uns von unserem Ziel trennen würden, wenn wir exakt jetzt in einem gewissen Tempo losliefen. Beinahe wie ein König kam ich mir vor, als meine Füße über den blankpolierten Marmor den endlosen Korridor entlangliefen, und der schien tatsächlich ohne Ende zu sein, wenigstens über einen Kilometer lang, so dass sein Ende nicht absehbar war. Unterwegs vertauschte ich den Marmor mit einem Fließband, das sich in meiner Richtung bewegte. Und siehe da, schon purzelten die Minuten. Und ich pflegte einen strammen Schritt, überholte Menschen und Läden, Wartesäle und Waschräume, alle in dasselbe orangebraune Licht getaucht, das uns nächtliche Transiteure nicht zu sehr in die Augen stach.

    Bald befand ich mich in einer Herde Gleichschneller. Wir bogen gemeinsam ab, wir bestiegen gemeinsam einen Großraumlift, der uns zwei Etagen tiefer lautlos wieder ausspuckte. Wir bewegten uns gemeinsam auf die nächste Absperrung zu, als seien wir ein Schwarm im Formationsflug. Wer zuerst den Pfeil und Q, R, S entdeckte, wandte sich in die angegebene Richtung und zog automatisch alle anderen nach. Bis wir uns alle vor geschlossenen Schleuseneingängen sammelten. Noch 37 Minuten.

    Schon rauschte ein Zug heran. Die Schleusen öffneten sich mit dem typischen Geräusch verpuffender Druckluft, und wir strömten wie gleichgeschaltet vorwärts, ergossen uns in die U-Bahnabteile. Ratternd schoss der Zug mit seiner Menschenfracht eine dunkle Röhre entlang. Ins Ungewisse? Ins Nichts?

    Vor einer Generation wäre uns diese sterile Welt, diese kalte abstrakte Geometrie, in der jeder einzelne sich anonym und verloren fühlte, wie in einem Science-Fiction-Film vorgekommen. Wohin wurden wir gebracht, die wir da vertrauensselig eingestiegen waren? In einer Szene im Film wäre man auf diese Weise vielleicht der Überbevölkerung beigekommen, indem man Menschen teuer für ein Ticket bezahlen ließ und sie dazu brachte, in irgendein Transportmittel einzusteigen, das sie dann irgendwohin verbrachte, in eine geheime unterirdische Fabrik etwa, wo sie dann entsorgt und vielleicht zu Vitaminpillen oder Mineraltabletten für die Massentieranlagen verarbeitet wurden. Keiner würde je zurückkommen, niemand würde wissen, wo sie geblieben waren. Sie blieben einfach verschwunden.

    Das waren schon merkwürdige Gedanken, die mich da kurz vor Mitternacht überfielen. Ich schaute mich um. Jedes Gesicht blickte starr vor sich hin, während die Körper teilnahmslos die Auswirkungen der Trägheitskräfte mitmachten. Meistens waren das seitliche Schläge, weil das Gleis anscheinend nicht perfekt gleichlaufend gelegt worden war. Nach der siebten Minute bremste der Zug sehr stark ab und kam zum Stillstand. Da war jeder beinahe umgefallen, hatte sich, plötzlich erwachend, irgendwie gefangen, aufgeschreckt irgendwo Halt gesucht, etwa am Arm seines Nachbarn. Und schritt nun mechanisch, wie demselben Automatismus gehorchend, durch eine der Türen, die sich laut zischend geöffnet hatten.

    Noch 28 Minuten: Zwei hintereinandergeschaltete, steile, lange Rolltreppen brachten uns zwei Etagen nach oben und in die Halle vor der Zollabfertigung. Schlangen hatten sich vor mindestens acht Schaltern und den kurzen Rollbändern mit den Röntgenapparaten für die Gepäckdurchleuchtung gebildet.

    Noch 22 Minuten: Die Beamten schauten schweigend in die ihnen hingehaltenen Dokumente, blickten schweigend auf, verglichen schweigend Gesicht und Passbild, schoben den Pass schweigend zurück, nickten teilnahmslos und winkten uns Transiteure mit einer sparsamen Handbewegung durch.

    Jenseits der Glasboxen mit den Beamten empfing ein weiterer Korridor. Der Blick suchte und fand das Schild Q, R, S mit dem Pfeil. Daneben das Schild: Noch 8 Minuten. Demnach waren für die Passkontrolle 14 Minuten veranschlagt gewesen, rechnete das Hirn, wobei es gleichzeitig feststellte, dass von den 14 nur 8 verbraucht, demnach also 6 Minuten eingespart worden waren. Die Freude darüber hielt sich in Grenzen. Auch blieb die Frage unbeantwortet, was mit den gewonnenen 6 Minuten Lebenszeit anzufangen sei. Ich würde sie einfach auf die Endwartezeit am Ziel draufschlagen.

    Noch drei Minuten: Ich befand mich in meinem Zieltrakt S und wanderte endlos nach hinten, während sich das Bild »Gate mit Desk und mit schwarzem Kunstleder bezogene Wartesitzreihengruppe« stetig wiederholte.

    Noch 0 Minuten: Das besagte gar nichts, außer, dass die Entfernung zu meinem Zielort »Flugsteig« sich auf null Meter reduziert hatte. Jetzt würde ich hier trotz der 0 Minuten mindestens 70 Minuten warten dürfen. Und ich saß vor dem Gate mit dem Desk und belegte zwei Sitze der mit schwarzem Kunstleder bezogenen Wartesitzreihengruppe.

    Die Wasch- und Toilettenräume: leer, steril, ätzend rein und verschwenderisch hell mit Lampen und Strahlern ausgeleuchtet. Ich verließ die Marmoranstalt und begegnete wie beim Reingehen dem Reinigungsmann in der roten Kluft, der mit einer Hand elegant den breiten Wischmopp wie einen an der Leine zerrenden Hund den Boden entlangführte.

    Die kleinste Unsauberkeit würde der Mann mit einem wissenden zerknirschten Gesicht mir zuordnen. Vorsorglich hatte ich mit dem Papierhandtuch sogar die Wasserflecken vom Wasserhahn gewischt. Ich wollte nicht als schlechtes Bild in seinem Gedächtnis enden. Mit Pech gab es einen Schuhabdruck von mir zu tilgen, weil ich durch einen Tropfen gelatscht war, den ich auf dem spiegelnden Marmorboden unglücklicherweise übersehen hatte.

    Dass ich ganz offensichtlich als Einziger kein mobiles Gerät mit mir führte, unterschied mich von den anderen Wartenden. Als einer der letzten im Zeitalter der Unerreichbarkeit Verbliebenen redete ich mir ein, das zu genießen; während andere unablässig den Zustand ihrer momentanen Befindlichkeit und den Ort, an dem diese stattfand, ihrem virtuellen Gesprächspartner anvertrauten, oder, wenn das nicht geschah, irgendein Online-Spiel bedienten.

    Eine einzige Frau las in einem Buch, und ich sah in ihr schon eine heimliche Verbündete, als sie ihr Buch gegen ihr Handy tauschte und anfing, minutenlang zu sprechen.

    Später, als wir zwei lange Reihen bildeten, um in das Flugzeug einzusteigen, hatte mindestens jeder Zweite sein Handy am Ohr, um mitzuteilen, dass es jetzt ganz gleich losginge, man sich keine Sorgen zu machen brauche, dass wir pünktlich abheben würden, dass man sich sofort wieder melden würde, sobald man seinen Platz eingenommen habe.

    Meine Familie und ich waren da eher altmodisch. Ich wusste die Meinen nach Mitternacht schlafend, und ich wusste, dass es ihnen, salopp umschrieben, »in ziemlich weiter Entfernung am unteren Ende ihres Rückens vorbeiging«, ob ich nun schon oder immer noch in Madrid weilte, oder ob ich seit wie langem im Flugzeug saß. Und ich glaube, das war gut so.

    AM ENDE WARTET DIE INSEL CHILOÉ

    Flughafen Barajas, Madrid: Montag, 03. Januar 2011: 0.50 Uhr: Wir Flugreisende waren dem Erdboden in die Nacht entkommen. Unter uns blieb das Ausmaß der spanischen Hauptstadt als eine große Ansammlung orangefarbener Lichtpunkte zurück. Wenn man so wollte, war das eine gelungene Konkurrenz zum Sternenhimmel über uns, der heute frei hatte und nicht zu sehen war, bis wir unsere Reisehöhe von 12000 Metern erreicht haben würden. Meine Fantasie bildete sogar Sternbilder, und an diesen waren deutlich mehr Sterne beteiligt, in einer solchen Zahl, dass selbst ein Eridanus ein Kümmerling gewesen wäre.

    In einer Spiralbahn kreisten wir aufwärts und flogen dann nach Westen fort. Für eine Weile verfolgten meine Augen die Ausfallstraßen entlang der Lichterreihen mit den Autos, die sich dicht an dicht bewegten, auf der einen Seite hell weiß, auf der anderen rot.

    Nachdem alle Welt in alle Welt fliegt, und Fliegen längst lästige Routine geworden ist, wer will da heute mit Einzelheiten über Flüge gelangweilt oder sogar gequält werden? Zumal das jeder bereits mindestens mehrmals in ähnlicher Weise durchlebt hat.

    Das nehme ich mir heraus. Weil mich die Monotonie des Wartens, des Ausharrens, des Absitzens beim Langstreckenfliegen mindestens ebenso langweilte, wenn nicht gar quälte. Weil ich mir diese Zeiten mit dem Beobachten meiner Mitreisenden und meiner eigenen Befindlichkeit vertrieb. Weil diese 33 Stunden zum Reiseerlebnis unweigerlich mit dazugehörten. Und zuletzt, weil das Ende der Welt nun einmal nicht um die nächste Ecke lag, sondern der lange Weg dorthin unbedingt als ein solcher erfahren werden musste. Basta!

    Ich versuchte das Unmögliche, nämlich zu schlafen. Da in Chile die Uhren vier Stunden nachgingen, hatte ich mehrere Versuche, das eine oder andere Stündchen wenigstens wegzutauchen.

    Meine Sitznachbarin, eine winzige chilenische Oma, hatte mir da einiges voraus. Anfangs hatte sie mir meinen Fensterplatz streitig gemacht. Eine Stewardess eilte von sich aus zu Hilfe. Sie ließ sich von mir die Sitznummer auf meiner Bordkarte zeigen, und verscheuchte dann höflich die Alte. Die maulte, am Fenster könne man so schön den Kopf an die Wand lehnen.

    »Das ist exakt der Punkt«, sagte ich, »der mich neben der Aussicht für einen Fensterplatz einnimmt.« Sie schickte sich drein, und ich bot ihr zusätzlich meine Decke an, die könne sie sich zusammengefaltet unter ihren Kopf klemmen, dann wäre das ein bisschen so wie am Fenster. Sie schlug mein Angebot aus, und war dann den Rest der Zeit, und das waren immerhin 13 Stunden, sehr freundlich und mitteilsam.

    Nach 18 Jahren der Abstinenz kehrte ich nun nach Südamerika zurück. Es war mir schwergefallen, Lateinamerika so lange fernzubleiben, weil ich dort in jungen Jahren viel gereist war und das als eine prägende Zeit empfunden hatte.

    Südamerika, schön und gut, da denkt jeder sofort an Peru und das Inkareich, an die Traumstrände Brasiliens, allen voran die von Río de Janeiro. Oder man erinnert sich, von den stolzen Vulkanen Ecuadors wie dem Chimborazo und dem Cotopaxi gehört zu haben. Warum dann gerade und ausgerechnet nach Patagonien und Feuerland?

    Menschen, denen ich von meiner Absicht, Feuerland zu bereisen, erzählte, wussten mit dem Landstrich entweder überhaupt nichts anzufangen, etwas, das jeden, der als Bub oder als Mädchen von fernen Ländern und Abenteuern träumte, wahrscheinlich verwundern dürfte. Oder sie dachten immerhin an Kälte, Unwirtlichkeit und ständigen Regen, jedenfalls an nichts, was sie je bewegen würde, dort hinzureisen, schon gar nicht, wenn es bei uns Winter war. Im europäischen Winter reisten sie lieber in die Südsee oder in die Karibik.

    Für die meisten blieb auch das ein Traum. Sie hatten das Argument nur angeführt, um damit auszudrücken, dass sie lieber dorthin wollten, wo es warm war. Wo man ausspannen konnte. Wo man auf keinen Fall gezwungen war, einen schweren Rucksack durch einsame Landschaften zu schleppen. Für ihre schmaleren Brieftaschen waren das die Kanarischen Inseln, die Karibik des armen Mannes. Alles inklusive!

    Warum also ausgerechnet nach Feuerland? Etwas mehr als ein Viertel Jahrhundert war es jetzt her, dass ich schon einmal in Patagonien weilte. Es war auf meiner einjährigen Reise von Norden nach Süden gewesen, die mich von Alaska über die Länder Mittelamerikas bis ganz hinunter in den Süden Chiles und Argentiniens geführt hatte. Damals hatte ich Feuerland im Sinne gehabt, musste den südlichsten Süden Südamerikas jedoch schweren Herzens aufgeben, weil bei meinem Reisegefährten in Patagonien die Hepatitis ausbrach, als wir in der menschenleeren Pampa am Straßenrand darbten und den äußerst spärlich vorüberkommenden Fahrzeugen auffordernd unsere Daumen entgegenstreckten.

    Damals hatte ich mir geschworen, ich würde eines Tages zurückkehren und dann die südlichsten Gefilde bereisen. Und diese Zeit war nun gekommen. Warum auf einmal und so spontan?

    Das kann ich nur vermuten: Einmal waren meine beiden Kinder in einem Alter gewesen, das ein längeres Verreisen hätte aussehen lassen wie ein Sich-Drücken vor der Verantwortung und ein Im-Stich-lassen des Partners mit all dem Stress und den Aufgaben. Jetzt, wo die Kinder selbstständiger waren, und ich wie alle Menschen hübsch brav jedes Jahr zur selben Zeit meine Lebensalterszahl um eines nach oben iterierte, und eben meine persönlichen Fünfzigerjahre begonnen hatten, hatte sich spontan folgende in mir schlummernde Einsicht durchgesetzt: Die Vierzigerjahre hattest du komplett den Umständen geopfert, sie waren für das Globetrotten verloren gewesen. Jetzt kam allmählich, aber umso bestimmter, das Alter, wo der Körper beginnt, zu vielen Trekkingstrapazen Widerstand entgegenzusetzen. Zynisch ausgedrückt, versucht der Körper lediglich, seiner schleichenden Entkräftung durch eine allmähliche Versteifung Herr zu werden.

    Also versprach ich mir, von nun an jede Gelegenheit, wenn sie sich denn böte, zu nutzen und nichts aufzuschieben. Das galt nicht nur für das Reisen, und ich halte es für gelebte Weisheit, wenn ich das ständig im Bewusstsein halte und alle Momente bewusst im Hier und Jetzt erlebe. Ich wollte sofort damit anfangen und ebendiese Lücke im Süden Südamerikas schließen. Deshalb war ich eben im Begriff, genau das zu tun.

    Irgendwann gegen Ende des Vormittags hatte ich dem Rechnung getragen, dass der Vormittag kein solcher war, sondern erst ein mittlerer Morgen. Ich hatte meine Uhr bereitwillig die vier Stunden auf chilenische Zeit zurückgestellt und versucht, dem auch geistig gerecht zu werden, das heißt, die Tageszeit so zu empfinden, wie die Uhr es vorschrieb. Die wahre Zeit da draußen, da unten, war meiner angezeigten Zeit jetzt eine Stunde voraus. Unter uns hatte ich tatsächlich zum ersten Mal Land erspäht. Nachdem sporadische Blicke hinaus zumeist nichts als nichts enthüllende tropische Wolkentürme enthüllt bekommen hatten und ganz selten einmal die endlos weiten Wasser des Atlantiks in fadem Blau, lag endlich der südamerikanische Kontinent unter uns. Genauer gesagt sein größtes nationales Territorium, und das gehörte Brasilien.

    Brasilien war also aufgetaucht. Zuerst von mir unbemerkt unter Wolken die zentrale Hochebene und nun also der Mato Grosso, der »große Wald«, der dank der Sojabohnenbarone jedes Jahr kleiner zu werden drohte, und trotzdem würde der Name weiterhin gelten, entweder als Zeichen der Hoffnung oder als Zeichen der nostalgischen Erinnerung. »Mato Grosso« heißt heute ein Bundesstaat und ein zweiter, und über genau diesen flogen wir, heißt »Mato Grosso do sul«.

    Es folgte der Gran Chaco Paraguays und Nordargentiniens mit seinen endlos weiten Dornbuschsavannen und Trockenwäldern, die, wer ahnt es nicht, ebenfalls in ihrem Bestand schrumpften, zu Weidelandödnissen verkamen, die zu bald schon nichts mehr hergaben.

    Ich erinnerte mich, wie ich einst durch diese Landschaften gekommen war, von Foz do Iguazú nach Asunción und weiter über Formoso auf abenteuerlicher Strecke über Las Lomitas bis nach Embarcación. Damals war ich wegen Regens zwei Tage im Chaco steckengeblieben und festgehangen, hatte Hunger gelitten, im Gegensatz zu den Flöhen, die mich gleich in der ersten Nacht gefunden hatten, als ich in einer zerfallenen Viehbehausung untergekrochen war.

    Ich spürte förmlich wieder diese feuchtschwüle Hitze dort unten in dem blassdunstigen Grün, auf das die Sonne herniederknallte. Aber wir flogen ja weiter.

    Interessiert verfolgten meine Augen lehmfarbene Straßen, die rötliche Erde und Grün schnurgerade durchmaßen. Nach Kilometern die einzige Kurve, welche die ursprüngliche Richtung das erste und das letzte Mal exakt auf das Ziel hin korrigierte. Das Ziel war ein großes Farmhaus, dessen Dach heraufschimmerte, dazu die Nebengebäude und Stallungen und eine Wasserstelle in der Nähe. Dann wieder für zig Kilometer das eintönige Bild von zuvor.

    Ich überlegte, ob ich dort wohl würde leben wollen, vielleicht auf einem dieser luxuriös ausgestatteten Landsitze, auf einer paraguaischen Hacienda oder argentinischen Estancia, wo das Umland sich vielleicht hundert Kilometer weit in jeder Richtung gleichsah, zumindest sah es das von hier oben. Hitzegeplagte Plantagen oder karge Weiden, von schmutzigweißem Buckelrind bestanden, das, öde wiederkäuend, die ständige Wiederholung sichtbar machte, ihr Ausdruck gebend diese vielleicht selbst erfuhr, sofern es zur Selbstreflexion fähig war. Vielleicht konnte es das und konnte trotzdem nicht anders und vor allem nicht umhin. Weil es seiner Natur entsprach.

    Wir Menschen können doch auch anders, als unsere Natur es uns vorgibt! Entweder werden wir dann alle kollektiv krank, oder wir schreiben beschleunigte Evolution, indem wir dann die allgemeine Krankheit Fortschritt nennen oder ihr eine neue Normalität geben, sie somit allgemein akzeptieren und sie uns einverleiben.

    Ich saß also da oben in meinem Sessel hoch über den Wolken und erging mich in stiller Betrachtung, indem ich mich in Beschauung der Welt unter mir übte und sinnlos vor mich hin assoziierte, in Erwartung der Zeit. Ja, die Zeit. Ich ließ sie verfließen und sah mit Spannung den ersten Erhebungen der Ausläufer der Anden entgegen. Wenn alle Flachheit ein Ende hätte, indem aus ihr plötzlich ein erster größerer Hügel erwuchs, ein kleines, jedoch überraschendes Nichts, das eine Ankündigung von etwas Großartigem war, Versprechen und Vorbote eines der höchsten und längsten und spannendsten Gebirge der Welt.

    Als die ersten Andenausläufer tatsächlich auftauchten, stellte ich fest, dass meine Vorstellung zuvor reichlich idealisiert war, was nicht heißen mochte, dass es einen Einstieg wie den von mir postulierten auf der ganzen Andenlänge von mehr als 8500 Kilometern nicht gab.

    Wir hatten das Gebirge schräg angeschnitten, weil wir nach Südwesten flogen, während die Anden sich von Norden nach Süden erstreckten.

    Unsere Schnittlinie war auf diese Weise viel länger. Entsprechend mehr würde ich bis Santiago de Chile von den Anden, ihren Faltungen und Kordillerenzügen mitbekommen. Insgeheim hoffte ich ja auf den Aconcagua oder wenigstens den Volcán Maipo.

    Wie also sah der erste Sichtkontakt mit den Bergen aus? Statt des ersten Hügels, empfing uns ein blassdunkelgrüner Vegetationsteppich, der einen unsagbar langen wellenartigen, von Norden nach Süden laufenden Wulst aufwarf, eben wie wenn man einen Teppich auf einer Seite zusammenschiebt und er sich aufwölbt. Genau so! Das war Geologie wie aus dem Lehrbuch. Dieser Teppich wies abgenutzte Stellen auf, wo das Grün verschwunden war und das Braun nackter Erde zum Vorschein kam.

    So fingen die Anden an. Nur kurze Zeit später war dieses Bild Vergangenheit und der Teppich war zerknüllt. Die Vegetation war zurückgetreten, bis der Teppich kein solcher mehr war, sondern nacktes wüstenhaftes Gebirge mit tiefen Furchen, Kerben, Rinnen und bald ausgewachsenen Schluchten und Trockentälern. Das war nun ohne Zweifel ein Bild der Anden, das ich kannte. Dort unten wäre ich gewiss häufiger großgewachsenen Kakteen begegnet als Menschen, fiel mir ein. Noch wuchsen die Berge kaum 1000 Meter in die Höhe, aber das würde sich sehr rasch ändern.

    Und wie rasch sich das änderte! Nur Minuten später überflogen wir die Hochkordillere mit ihren prächtigen schnee- und eisbedeckten Gipfeln. Hinter der Hauptkette glitten wir sanft abwärts, dem Dunst der Pazifikküste entgegen. Ich versuchte, in einem der höchsten Gipfel den Aconcagua zu erkennen, war mir jedoch nicht sicher. Es gab Passstraßen, die hinabführten in die langen, canyonartigen Trockentäler, und mit ihnen auf Umwegen ins Flachland strebten. Der Umweg war der einzige Weg, ein Weg ohne den kaum überwindbaren Widerstand der schroffen Berge. Das bedeutete, dass derjenige, der in ein Nachbartal wechseln wollte, zuerst fast aus dem Gebirge hinausfahren musste. Verbindungsstraßen über die Berge gab es so gut wie nicht.

    Zuletzt lag die Küstenebene mit dem weiten Siedlungsgebiet Santiagos unter uns. Trotz des bräunlichen Smogs konnte ich deutlich die endlosen ärmlichen Siedlungen ausmachen.

    Gegen 10 Uhr Ortszeit waren wir glücklich gelandet, und schon waren die Gedanken bei der Einreise. Santiago empfing uns »Winterflüchtlinge« mit sommerlichen 27 Grad Celsius. Im Laufe des Tages würde die Sonne noch einmal kräftig nachlegen. Ich jedoch würde tausend Kilometer weiter in den Süden fliegen, bis nach Puerto Montt, wo es deutlich kühler war.

    Zuerst jedoch schwamm ich mit im Strom all derer, die aus verschiedenen Teilen der Welt eingetroffen waren und nun nach Chile einreisen wollten. Vor der Immigration standen wir zu Hunderten an. Dem war jedoch Rechnung getragen worden, und es gab 8 Beamte, die in 8 Kabinen saßen, wo sie die durch einen Schlitz gereichten Passdokumente und die Einreiseformulare aufmerksam studierten, das Passbild prüfend mit dem Gesicht ihres bangenden Gegenübers verglichen und eventuell ein kurzes Interview führten, bevor sie dann in den meisten Fällen in Form eines Einreisestempels ihren Segen gaben.

    Allmählich rückten wir vor, und die Zeit wurde mir nicht lange, weil neben mir vier unterhaltsame Frauen standen, von denen eine die Mutter dieses sechsjährigen Mädchens war, welches mit seinen schwarzen Kulleraugen immerzu lachte und Faxen machte. Warum das? Weil ich ebenso lachte und Faxen machte. Das ganze Umfeld freute sich. Die Kleine versteckte sich hinter den Erwachsenen und schaute bald hier bald dort hervor, Grimassen und Gesichter schneidend. Wenn ich sie nachmachte, kugelte sie sich vor Lachen, bis es ihrer Mutter zu bunt wurde und sie das Kind ermahnte, zunächst ohne Erfolg.

    Jetzt war ich gefragt, und ich versuchte, die Göre zu bändigen, indem ich immer seltener zu ihr blickte oder sie für einige Zeit schlicht ignorierte. Mit zweifelhaftem Erfolg. Sobald ich nämlich trotzdem einmal zu ihr hinsah, reagierte sie prompt wie zuvor.

    Wie das immer so ist, wurde sie ihr Spiel irgendwann von selbst müde. Und dann war die Reihe an mir, meinen Pass vorzulegen, und ich bekam, ohne eine Frage gestellt bekommen zu haben, meinen Einreisestempel in das Dokument gehauen und schon waren meine Gedanken bei der letzten Hürde, der Gepäckkontrolle.

    Es gab gewisse Dinge, die nach Chile nicht eingeführt werden durften. Davon war das meiste verständlich, beispielsweise, dass durch tierische Produkte oder Produkte, die Pflanzensamen oder Saatgut enthielten oder aus Getreide hergestellt wurden, fremde Samen, Sporen oder Keime, Larven von Trichinen und nicht zuletzt Krankheiten ins Land eingeschleppt werden konnten.

    Was mich jedoch bestürzte und unmittelbar betraf, war dass ich nur eine Kamera, sei sie analog oder digital, mit mir führen durfte. Das stand in den Einreisepapieren, die ich unterschrieben hatte. Das sah ich überhaupt nicht ein. Das war doch antiquiert und stammte aus einer Zeit lange vor dem digitalen Zeitalter. Und was bitteschön war mit all jenen, die zusätzlich zu ihrem Fotoapparat ein teures Mobiltelefon mit integrierter Kamera mitsichführten? Durften die, was ich nicht durfte? Jedenfalls drohte mir die Gefahr, dass mir eine der beiden Kameras abgenommen werden würde, und wenn, dann musste ich mich gegen meine gute Canon A1 und die Diafilme entscheiden.

    Noch aber war es nicht so weit. Mit vier Frauen und einem kleinen Mädchen hatte ich vorher bei der Einreise gewartet. Danach hatten wir gemeinsam bei guter Unterhaltung darauf geharrt, unsere Gepäckstücke vom Förderband pflücken zu dürfen. Und jetzt standen wir alle Schlange vor der finalen Kontrolle.

    Sie kannten meine Sorgen und versprachen, mir zu helfen. Notfalls wollten sie protestieren und ihren ganzen geübten Sprachschatz der Überredungskunst einsetzen. Dafür war ich ihnen dankbar, und ich stellte mir schon vier lautstark schimpfende Frauen vor.

    Was aber konnte ich selbst tun? Ich spielte die Möglichkeiten im Geiste durch und stand dann mit bangen Gefühlen vor dem Röntgenapparat, fühlte ein Spannungskribbeln, denn jetzt galt es.

    Ich probierte Folgendes: Zuerst legte ich den kleinen Rucksack mit der analogen Kamera auf das Rollband und als Zweites den großen Rucksack, der keine Kamera enthielt. Dann ließ ich eine Person mit ihrem Gepäck vor, während ich Geldbeutel, Gürtel, Uhr - und jetzt kommt’s - meine digitale Kamera in eine Plastikschale gab und dann durch das Gerät schleuste. Dann passierte ich selbst die Schleuse und ließ mich von einem Sicherheitsbeamten abtasten.

    Die Zollbeamten schauten sich den Inhalt eines jedes Gepäckstücks peinlich genau auf ihren Scannerbildschirmen an. In keinem gab es etwas zu beanstanden, und was ich gehofft hatte, trat ein: Sie konnten nicht mehrere Gepäckstücke mit einer einzelnen Person assoziieren. Ich hatte meine beiden Kameras durchgebracht, und die Frauen freuten sich mit mir und wünschten mir eine wunderbare Reise in Chile.

    Ich war draußen und stand mitten in einem Gewimmel aus Ankömmlingen und Menschen, die lautstark Dienstleistungen anboten, Taxis vermittelten oder Hotels. Oder man hielt Schilder mit den Namen von Personen hoch, die man abholen wollte.

    »Taxi, Taxi«, riefen mich zwei Männer an. »Tut mir leid, ich fliege gleich weiter«, sagte ich, während ich zur Treppe drängte.

    »Mr. Thomas Johnson?«, fragte eine Frau, und hielt einem Engländer und mir erwartungsvoll ihr Pappschild vor das Gesicht. »Thomas Johnson«, las ich.

    »Sorry, but you put the wrong name, I am not Mr. Thomas Johnson. Really sorry!«, sagte der Engländer jetzt, und die Frau wandte sich weitersuchend ab.

    »She looks jolly good«, sagte der Brite jetzt zu mir, »at least too good for a man like Thomas Johnson

    Das quittierte ich als typisch britischen Humor und entkam die Treppe hinauf in die weite Halle mit den Schaltern für den Check-in. Ich benötigte unbedingt chilenische Pesos. Der Kurs am Wechselschalter war zu schlecht, also probierte ich es mit einem Bankomaten, den ich mit meiner Kreditkarte fütterte. Die Maschine wollte jedoch maximal Pesos für 40 Euro herausrücken, und dafür war mir die Gebühr zu hoch. Ich versuchte mein Glück an vier weiteren Automaten, die ich nach und nach in den verschiedenen Winkeln der verschiedenen Stockwerke des Flughafengebäudes fand.

    Außer, dass ich mich nun hier leidlich auskannte, hatte das keinen Nutzen. Schließlich wechselte ich einen Fünfzigeuroschein am Wechselschalter. Das hätte ich auch gleich haben können, aber ich hatte ja vier Stunden Zeit totzuschlagen, und eine halbe Stunde hatte ich schon einmal gut herumgebracht.

    Weitere Zeit saß ich ab, indem ich liegengebliebene Zeitungen las oder draußen vor dem Gebäudekomplex herumspazierte und die heiße Mittagssonne auf der Haut spürte. Hier war tatsächlich Hochsommer, das musste ich mir erst einmal bewusstmachen.

    Ich gab das Hauptgepäck auf und schickte mein Handgepäck einmal mehr durch einen Röntgenapparat. Meine Diafilme und Speicherchips hatte ich einer Sicherheitsbeamtin in die Hand gedrückt, die in ihrer dicken kugelsicheren Weste enorm wuchtig wirkte. Ich hatte immer noch Zeit herumzubringen, und die Frau, die mit Pistole und Gummiknüppel im Halfter herumstand, und uns Reisende mit wichtigem Gesichtsausdruck musterte, sollte, wie ich fand, etwas zu tun bekommen. Widerwillig nahm sie sich meines Beutelchens an. Sie erkundigte sich sogar bei einem Kollegen, ob sie das wirklich tun müsse, und der bedeutete ihr mit einer Handbewegung, dass ja. Sie leerte den Beutel aus und nahm jeden Film und jeden Chip einzeln prüfend in die Hand. Zwanzig Filme musste sie aus den Plastikdöschen herausholen. Ich sah ihr an, wie ihre Motivation mit jeder Dose sank. Bei etwa der dreizehnten versagte ihr Wille, und sie schob die restlichen Filmdosen zu den bereits geprüften hinüber.

    »Ist schon okay«, sagte sie, und ich durfte alles wieder einpacken und ich bedankte mich übertrieben.

    »Was heißt hier: Ist schon okay? Und wenn in den restlichen, ungeprüften Dosen nun ausgerechnet der Plastiksprengstoff sitzt? Was sind denn das für lasche Kontrollen hier? Wie soll man sich als Passagier da sicher fühlen?«

    Wehe ich hätte das gesagt. Aber ich hütete wohlweislich meine Zunge, auf der mir ein Kommentar wie dieser tatsächlich gelegen war. Mit solchen vermeintlichen Scherzen haben manche schon ganze Maschinerien in Gang gesetzt. In den USA, so hatte ich erst kürzlich gelesen, hatte ein Passagier auf die Frage hin, was in dem Köfferchen sei, geantwortet: »Na, die Bombe, was sonst.« Er wurde stundenlang verhört und Bereiche des Flughafens waren abgesperrt worden. Ob er hinterher für den Einsatz eine saftige Rechnung bekam, ist nicht überliefert.

    Auch die restlichen Stunden brachte ich herum, und endlich öffnete sich das Gate. Zwei Stewardessen in der dunkelblauen Uniform der Fluglinie LAN Chile flankierten den Durchlass und lächelten jedem Fluggast persönlich ins Gesicht, während sie ihm die Bordkarte entlang der perforierten Linie entzweirissen.

    Unsere kleine Maschine stieg steil in den dunstigen Himmel über Santiago. Einen Dunst wie diesen, der ein bräunlicher Schleier war, mit einem Stich ins Violette, kannte ich von anderen großen Metropolen. Hier jedoch schien er sich über den ganzen Küstenstrich gelegt zu haben, als eine Folge fehlenden Regens in diesen Sommermonaten. Selbst in den ariden Bergen sah das nicht anders aus. Das Grün der bewässerten Flächen, das zu Füßen der Berge unter uns lag und weit in die schroffen Täler hineingekrochen war, war stumpf und dunkel. Hier lagen die Obstgärten Chiles und wichtige Weinanbaugebiete.

    Wir schwenkten landeinwärts und flogen über die Anden, bis die Hochanden direkt unter uns lagen und die einsamen Wüsteneien im Regenschatten hinter der Hauptkette sichtbar wurden. Sie gehörten bereits zu Argentinien. Wer nahm die Mühsal auf sich, in solchen Gegenden zu leben?

    Ich suchte nach Straßen, die aus den steilen Berghängen gefräst worden waren. Wo es sie gab, waren sie deutlich zu sehen, weil die Berge derart kahl waren. Viele Vulkane bekam ich vorgeführt, eine faszinierende wie trostlose Landschaft. Ein Gipfel stach besonders heraus, wegen seines immensen Kraters, der ihn zu einem Vulkan wie aus dem Bilderbuch machte. Er war nicht der einzige, hatte Brüder in der Umgegend. Ich war fasziniert vom dem Anblick, der sich mir darbot, als wir auf ihn zuflogen und auch, als wir von ihm wegflogen. Dann rätselte ich über seinen mutmaßlichen Namen. Ich wusste um die bisher verstrichene Flugzeit, unsere Ankunftszeit, die Geschwindigkeit und die Entfernung. Daraus versuchte ich, mit Hilfe meiner Karte den Namen dingfest zu machen. Zuletzt entschied ich mich, aufgrund der Konstellation der markanten Nachbarberge, eindeutig für den 3830 Meter messenden Volcán Descabezado Grande. Der Name übersetzt sich als »der große Enthauptete«, was ich als sehr zutreffend empfand. Ich war zufrieden, sowohl mit mir als auch mit der Begegnung mit diesem prachtvollen Berg.

    Mittlerweile hatte die Bewölkung zugenommen und stahl mir jetzt dreist die Anden weg. Sollte uns tatsächlich Regen erwarten? Bitte nicht! Ich hatte doch nur fünf Tage für die Region X, der Región de Los Lagos, reserviert, und der heutige Tag war bis 23 Uhr ebenfalls fest eingeplant, eigentlich Unsinn nach dieser langen 33-stündigen Anreise.

    Andere wären, endlich angekommen, die 20 Kilometer zum See gefahren und hätten sich in die zuvor reservierte Pension gesetzt. Sie hätten die Füße hochgelegt und wären später schick Essen gegangen. Und zum Abschluss vor dem verdienten Schlaf wären sie einmal die Uferpromenade rauf und runter spaziert, so wie daheim um den Block. Dagegen ist nichts einzuwenden, aber so war ich nun einmal nicht gestrickt.

    Vergessen war die Anreise, wie lange sie auch immer gewesen sein mochte. Jetzt war ich da, und jetzt fing ich frisch bei null an. Am Steuer meines Mietwagens würde ich mich auf dem Weg ans Meer erholen, indem ich erste Eindrücke von der fremden Landschaft sammelte und im Radio einen chilenischen Lokalsender einstellte. Landestypischer Salsa: Laut stellen und dazu lauthals mitsingen, das war Adrenalin für mich, das machte mich wach.

    Von oben blickte ich auf den Llanquihue-See hinunter, sah die Wiesen und Felder, die halbverhangenen Berge und in der Ferne das Meer. Es sah aus wie eine nordeuropäische Sommerlandschaft. Die Wolkendecke war löchrig und ließ an vielen Stellen das Sonnenlicht hindurch. Zwei Etagen tiefer schwebten vereinzelt Schwaden im freien Raum. Das waren die Schauergebiete, die sich jedoch nur lokal begrenzt ausweinten. Kurz, das Wetter versprach, schlimmstenfalls durchwachsen zu werden. Im Süden, gegen die Insel Chiloé hin, sah es sogar sonniger aus.

    Wir waren auf nasser Piste gelandet, die in Grün eingebettet lag. Schon war ich durch das Terminal gelaufen, hatte mein Gepäck aufgegabelt und stand nun vor dem Schalter, um meinen vorbestellten Mietwagen in Empfang zu nehmen.

    Wider Erwarten musste ich kaum warten. Das Auto würde mir von einem der Angestellten vor den Eingang gestellt, während die junge Dame der Autovermietung mit mir die Papiere durchging. Dabei sah sie maximal gelangweilt aus und leierte ihren Text in einem, diesen Eindruck unterstreichenden Tonfall herunter. Wohl weil sie das am Tag zig Mal praktizierte. An diversen Stellen in ihrem Monolog hielt sie inne, um auf die entsprechenden Stellen in den Formularen zu deuten, wo ich dann jeweils meinen Servus hinzusetzen hatte. Wie üblich wurde meine Kreditkarte mit einer Kaution belastet. Das Kärtchen mit der Notfallnummer der Autovermietung. Gute Reise!

    Draußen tigerten wir mehrmals um den kleinen weißen Renault herum, und der Angestellte vermerkte Dallen, Dellchen und Kratzer in einem Protokoll.

    »Vor der Rückgabe bitte den Tank wieder so weit füllen wie auf dem Bild. Ungefähr reicht!« Er malte den Stand der Benzinanzeigenadel in ein Schaubildchen ein und händigte mir dann Durchschlag und Schlüssel aus. »Gute Fahrt!«

    Ich hatte mich auf die Straße begeben, die am Flughafen vorbeiführte. Kein Navi, keine Landkarte, und nun fehlte gleich an der ersten Kreuzung eine ausreichende Beschilderung. Um das über hunderttausend Einwohner zählende Puerto Montt wollte ich mich geschickt herummogeln, Nebenstraßen benutzend, weiter südlich auf die Autobahn nach Parguá, gelegen am Meer, treffen. Jetzt blieb mir nichts anderes übrig, als bis auf Weiteres auf Puerto Montt zuzusteuern.

    Die schlaglöchrige Straße zwang mich, stets wachsam zu sein, ebenso die ungeschriebenen Regeln des chilenischen Miteinanders im Straßenverkehr, die ich nicht kannte. Nach einigen Kilometern hatte ich zumindest gelernt, dass man den schnelleren Fahrzeugen beim Überholen half. Halte dich weit rechts, dann kann zum einen das Auto hinter dir sogar bei Gegenverkehr überholen; zum anderen hilft es überholendem Gegenverkehr, wenn es einmal eng wird.

    Auf das entgegenkommende Verhalten anderer verlassen, durfte ich mich indes nicht, schon gar nicht vor Kurven. Außerdem gab es am Straßenrand häufig unvorhersehbare Hindernisse wie Löcher, große Steine, Draht und Unrat, die ein Fahrzeug zwangen, plötzlich nach innen auszuweichen.

    Schon nahte die erste Polizeikontrolle, ein weißer Wagen und zwei Beamte in schicker Uniform. Ich bangte, weil ich zwanzig Kilometer pro Stunde zu schnell unterwegs gewesen war und vielleicht zu spät abgebremst hatte. Man ließ mich in Ruhe, aber ich war gewarnt.

    Kurz vor dem Zentrum der großen Stadt fädelte ich in den dichten Verkehr ein und schwamm auf der dreispurigen Autobahn zügig mit nach Südwesten. 56 Kilometer fehlten bis nach Parguá zur Fähre hinüber nach Chacao. Mit der Zeit wurde der Verkehr weniger und mein Tempo schneller. Die Sonne war einige Male zum Vorschein gekommen, ich hatte mir einen Radiosender eingestellt. Egal welcher, es kam nur derselbe Salsa. Rockmusik wäre mir lieber gewesen, aber ich sang trotzdem mit. Die Nahtstellen zwischen den Asphaltplatten produzierten dazu laute Geräusche, fast schon wie die Schweller einer Eisenbahnstrecke. Ihr Datam-Datam war nicht im Takt mit der Musik, dafür waren die Platten auch bei Tempo 110 einfach zu lang und wären es bei Tempo 200 noch gewesen.

    Die Landschaft war flach und buschig. Weideland wechselte sich mit kleineren Plantagen ab. Das hatte etwas Südeuropäisches und Nordeuropäisches zugleich. Zuletzt wurde die Strecke kurvig und einspurig, ich durchfuhr eine größere Siedlung und bog endlich ab, direkt zum Fähranleger.

    Parguá war übersichtlich. Es gab ein kleines Zentrum mit Läden und Schnellimbissen. Die Wohnhäuser reihten sich am Ufer entlang, in der Hauptsache Holzhäuser mit Schindelfassaden oder Planken, denen das Regenwetter über die Jahre sichtbar zugesetzt hatte. Die große Fähre der Gesellschaft »Cruz del Sur« stand in leuchtendem Orange bereit. Man winkte mir, ich solle direkt auf die Ladefläche fahren. Viele Autos gab es nicht, dennoch würden wir gleich ablegen, sagte der Bedienstete mit der Weste wie ein Straßenbauer. Fotos? Eines, wenn es denn schnell ginge. Ich beeilte mich an Land und fing die Fähre in ihrer ganzen Breitseite ein, vor inzwischen blauem Himmel. Schon brummten die Motoren, und die Schiffsschrauben quirlten das Wasser durch, sodass heftige Schaumblasen entstanden. Kaum die Rampe hinaufgehetzt, als schon die Klappe hinten hochgefahren wurde und wir aufs Meer hinausdrifteten, auf den Canal de Chacao.

    Oben an der Reling stehend blickte ich Chiloé entgegen, dem Uferstreifen, der, während er ständig näherrückte, immer mehr Einzelheiten von sich preisgab. Es windete kräftig. Obwohl diese kurze Passage berüchtigt für ihre Strömungen und hohen Wellengang war, blieb der Spiegel der See trügerisch ruhig. Ich fotografierte die Gegenfähre der Gesellschaft Transmarchilay, quittengelb mit blauem Schriftzug. Als unvermittelt eine junge Frau neben mir stand. Der Wind wirbelte ihre langen schwarzen Haare herum und zog die Strähnen wie Vorhänge vor ihrem Gesicht zu, sobald sie sich mir zuwandte. Wir lachten beide obdessen, und ich positionierte mich für sie günstiger, denn meine Haare waren kurz genug, jedem Wind zu trotzen.

    Sie hatte mich mit der Kamera hantieren sehen und erbot sich nun, mich zu fotografieren. Ich leitete sie an und ließ sie machen. Im Gegenzug knipste ich sie mit ihrer kleinen Kamera. Sie lebte in Valdivia und besuchte Verwandte in Castro, wo sie aufgewachsen war. Dass ich ihre Heimatstadt besuchen würde, freue sie, Castro werde mir bestimmt sehr gefallen.

    »Das hat die Stadt mir schon damals, vor 25 Jahren«, erwiderte ich.

    »Ist das wahr?«, rief sie aus »Ich fürchte und hoffe zugleich, dass sich die Stadt seit jener Zeit nicht sehr verändert hat. Fürchte, weil ich Chiloé als sehr rückständig empfinde. Hoffe, weil sehr viel der alten Kultur und Lebensart und vor allem auch die Bauwerke erhalten geblieben sind.«

    »Ich freue mich,« sagte ich. »auf die Pfahlbauten, die Holzkirchen und all die bunten, putzigen Häuschen.«

    »Keine Sorge«, erwiderte sie, »an denen mangelt es bestimmt nicht, heute wie einst und wohl auch in Zukunft.«

    Drüben angekommen fuhr ich von der Rampe auf die Insel und hielt sofort wieder an. Für Fotos. Natürlich! Zwei große Fähren lagen vor Anker und machten sich gut vor der Bucht mit Kiesstrand, die sich halbmondförmig dahinter aufspannte. Im Hintergrund schob sich eine Landzunge mit saftigen, von Wald durchsetzten Wiesen ins Meer. Das Grün wurde von der Sonne angestrahlt, und der Himmel darüber war schwarz angelaufen von einem sich entfernenden Regenschauer, der sich über dem Wasser entleerte und dort als milchig graue Masse im Raum stand. Bevor ich das beschriebene Bild im Kasten hatte, hupte es kurz. Es war die Frau von vorher, die mir zuwinkte, und fort war sie.

    Nur wenige Kilometer weiter führte die Landstraße beinahe verschämt am Rande des Ortes Chacao beziehungsweise San Antonio de Chacao vorbei. 1567 war hier die erste spanische Gründung auf Chiloé erfolgt, und Chacao gilt noch immer als das östliche Eingangstor in den chilotischen Archipel. Was man dem vorsichhinschlafenden Ort in keiner Weise ansah.

    Ich hatte den Wagen am Rand der Ortschaft geparkt und war, an Holzhäusern vorbei, zur Plaza vorgeschlendert. An die mir gegenüberliegende Seite grenzte eine zweiturmige Kirche, die 1710 errichtete Holzkirche »Matriz de San Antonio de Chacao«. Ebenfalls mit Holzplanken verkleidet stand sie im weißgrauen Farbkleid. Das hatte den Anstrich von Idyll und Verschlafenheit, zusammen mit dem gepflegten Platz mit dem kurzgeschorenen Rasen und den rotblühenden Büschen und ganz besonders den beiden guterhaltenen Kanonen aus der Zeit um 1826, als hier die Unabhängigkeit vom Mutterland Spanien erkämpft worden war.

    In den umliegenden Straßen erwarteten mich weitere Holzhäuser mit bunten Fassaden und Gärten mit üppig wucherndem Grün. Zwischen Büschen, Bäumen und Häusern sichtbar ein Streifen blaues Meer, mit großen besonnten Flecken, wo das Licht durch die aufgelockerte Wolkendecke brach. Was war das schön!

    Chiloé ließ sich gut an. Nur lagen die Straßen leer und verlassen. Selten einmal ein vorbeifahrendes Auto und noch spärlicher Fußgänger wie die beiden jungen Frauen, die Arm in Arm spazierengingen und mir höflich zulächelten.

    Rasch brachte ich die fehlenden 23 Kilometer bis Ancud hinter mich. Mittlerweile hatte ich mich an löchrige Straßen und Steine auf der Fahrbahn gewöhnt und gelernt, richtig einzuschätzen, was da jeweils auf mich zukam.

    Kurz vor der Stadt half dem Verkehr eine hohe ellenlange Betonbrücke über ein weit ins Inselinnere reichendes Ästuar. Gerade herrschte Ebbe, und die sumpfige Marschlandschaft schien mir intakt zu sein.

    Gleich hinter der Abzweigung steuerte ich zum ersten Mal eine Tankstelle an. Das Benzin war nur 10 Prozent billiger als in Europa. Ungewohnt war, dass ich bedient wurde. »Voll«, sagte ich, und das hagere Kerlchen in dem roten, ölverschmierten Overall drückte mit der Zapfpistole so viel Benzin in den Tank, bis gewiss kein zusätzlicher Tropfen mehr hineinpasste, dafür ein wenig heraussabberte. Damit käme ich sehr weit, sagte er, als er grinsend die Scheine entgegennahm. Trinkgeld? Ein Schild wusste: »Preise inklusive Bedienung«, der zu zahlende Betrag war bereits aufgerundet, also guten Gewissens nein.

    Ancud stand auf meiner Reise nicht auf dem Plan. Dennoch wagte ich spontan eine Stippvisite in die Stadt hinein, wollte »anbesichtigen«, ohne auszusteigen, nur flüchtige Eindrücke aufsammeln, ein Vorgeschmack für ein andermal.

    Wenige Straßen abfahrend fand ich bis hinunter an die Uferlinie. Dort hatten Restbestände von Pfahlbauten überlebt, indem sie heftigen Erdbeben und Flutwellen zu trotzen vermochten, allen voran dem großen Beben von 1961.

    Weitere Sehenswürdigkeiten, etwa das bekannte Fort, wären zufällig oder, um mit den chilotischen Fischern zu sprechen, allenfalls Beifang gewesen.

    Ich kehrte Ancud den Rücken und freute mich schon auf die berühmten intakten Pfahlbauten nachher in Castro. Hügelig, waldig, dünn besiedelt. Diesen Eindruck vermittelte die Insel die nächsten 88 Kilometer auf dem Weg eben dorthin. Es gab Farmen, entlegene Dörfer und die eine oder die andere Kleinstadt. Der Wind trieb eine dichte Bewölkung über das Land und riss diese immer wieder auf, so dass mir dann vielversprechend die Sonne entgegenblendete. Guter Dinge drehte ich das Radio lauter. Die Lokalsender waren schwach. Entsprechend oft musste ich herumsuchen, was ich nicht nur tat, wenn es zwischen den Hügeln plötzlich nur noch rauschte, sondern auch, wenn ein Sprecher endlos brabbelte, statt einen Salsa zu spielen.

    Kurz vor Castro senkte sich die Straße hinab in den Castro-Fjord. Zuletzt lief sie gerade auf einem Damm entlang, im Osten die ausgebreitete Ebbe-Schlick-Landschaft, das Wasser weit draußen silbrig blau vor einem besonnten, lieblich-grünen Hügelland. Auf der Beifahrerseite, und das ließ mir den Atem stocken, eine stille Lagune, an deren gegenüberliegender Seite sich die Stelzenhäuser in einem Halbrund entlang der sanften Hügel aneinanderreihten. Das waren die berühmten Palafitos.

    Die musste ich unbedingt eingehender betrachten, und dazu bog ich gleich in die erstbeste Straße nach dem Damm rechts ein und stellte das Auto ab. Schon lief ich zurück, von euphorischen Gefühlen getragen, beide Kameras und die Wertsachen in meinem Tagesrucksack auf dem Rücken wissend. Was ich jetzt zu sehen bekam, war einzigartig und mit diesen Lichtverhältnissen ein Fest für den Sehsinn.

    Die Uferböschung entlang des Straßendammes mit ihrem hohen blühenden Gras und den wenigen Bäumen im besseren Strauchformat bildete den Rahmen für ein Gesamtbild, das mir nur mit starkem Weitwinkel einzufangen gelang. Trotz des Niedrigwassers war die Lagune nicht trockengefallen und entblößte einzig unter den im Schatten liegenden Stelzen den Schlick. Das Wasser gab die halbbeschatteten Hügel als schwarze Fläche wieder, auf die mattleuchtend und wellig die farbigen Häuser gemalt waren. Ebenso schwarz ragten die hochgewachsenen Pappeln aus der Hügelsilhouette heraus. Auf dem Spiegelbild wuchsen sie bis weit in den Vordergrund hinein, der dem Licht des Himmels gehörte, das sich wiederum als fahles Blau in makelloser Glätte spiegelte, während die in die Länge gezogenen Wolken des Abbildes in grellem Gelb ins Auge blendeten. Vereinzelt trieben Algenfelder auf dem Wasser und machten dort den Spiegel blind.

    Wenn ich Einzelheiten fokussierte, sprich das entzückende Gesamtbild bewusst aus dem Auge strich, dann mutete das paradox an. Für sich genommen war jedes Haus armselig, heruntergekommen und schief, glich, nüchtern betrachtet, einer improvisierten, abbruchreifen Bude. Mit geflickten Balustraden und morschen Plankenfassaden, die einzelnen Wände häufig mit Blech ummantelt, die mit Wellblech gedeckten Dächer ebenfalls angerostet. Der Unterbau Stelzen und oftmals durch Pfosten abgestützte Bretterverschläge. Viele Häuser waren ineinandergeschachtelt mit beigeordneten Schuppen, die womöglich ebenfalls bewohnt waren.

    Andererseits besaß jedes Haus seine eigenwillige Farbgebung. Der Anstrich kaschierte den Zustand, hier gelungen bis nahezu perfekt, dort unzureichend, weil die letzte kosmetische Behandlung schon etliche Jahre länger zurücklag.

    Wenn ich den Zustand jedes einzelnen Hauses für sich betrachtete, verblüffte es mich umso mehr, wie die Gesamtheit es fertigbrachte, diese enorme Wirkung von ästhetischer Schönheit und Kompaktheit zu erzielen. Ich gab mich dem ganz hin, und das erzeugte pure Freude im Geist.

    Nun gab es die Palafitos auch auf der Fjordseite. Allerdings entzogen sie sich der Betrachtung, weil die Uferstraße, die lange Costanera, direkt hinter ihnen vorbeiführte und sie zu einem zwischen Straße und Meer eingeklemmten, ungeordneten Häuserdschungel werden ließ. Da blieb mir nichts anderes übrig, als zu Fuß der Uferstraße zu folgen und auf eine Lücke zu hoffen, durch die ich dann auf den hoffentlich nicht mehr als knöcheltiefen, das würde ich ausprobieren müssen, Schlick hinauswaten konnte. Dann nämlich würde sich mir zurückblickend das Gesicht der aneinandergereihten und ineinandergeschachtelten Palafitos vor einem zurückgewichenen Wasser zeigen, das ein Gewirr von vom Salzwasser angenagten Stelzen entblößt hatte.

    Transbordador Chacao a Pargua (oben);

    Chacao: Kanone an der Plaza de Chacao

    Castro, Ortsteil Los Lagos: Blick über das Mündungsgebiet [Humedal de Ten Ten] des Río la Chacra bei Ebbe (o.l.); Palafitos Pedro Montt (o.r.); Eindrücke von Los Lagos: (Mitte und unten)

    So weit zur Theorie. Sie ließ sich praktisch schon nach dem dritten Haus umsetzen. Dessen Holzplankenfassade war orangerot gestrichen, auch ein Bild mit den in Blau gehaltenen Fensterrahmen und Türstürzen und vor allem der putzigen Veranda, auf der eine Frau mit weißer Schürze gerade ihre Blumen goss, rote und gelbe Astern in ausgedienten großen Fischkonservenbüchsen.

    Die Palafitos sind das Zuhause vieler Chiloten, die vom Fischfang leben und, ihrer Armut zum Trotz, sich ihre Umgebung so schön wie möglich gestalten, mit Farbe etwa und Blumenschmuck.

    Der kiesige, von angetrocknetem Schlamm und Algen benetzte Fußpfad war bei Flut verschwunden. Jetzt, bei Niedrigwasser, brachte er mich direkt unter die Stelzen und weiter bis weit in den Schlick hinaus. Dieser war tief. Oberflächlich graubraun und innen schwarz, stank er typisch nach Fäulnis und Fisch. Ein Narr, wer dort freiwillig hineingetreten wäre. Solcherlei tat man, wenn, dann unfreiwillig.

    Es gab einen alten, mit Kies und Muschelgries aufgeworfenen Damm, in dem vermoderte Pflöcke steckten und

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1